Kitabı oku: «Harzmagie», sayfa 6
Ein anderes Mädchen
Die ersten Tage im Hotel Krone fühlten sich fast wie Urlaub an. Clausthal-Zellerfeld bestand aus zwei zusammengewachsenen Bergarbeiterstädten, und es gab viel zu entdecken. Michael Wollner verschwand frühmorgens gleich zu seiner neuen Arbeitsstätte, nachdem sie das Wochenende noch gemeinsam verbracht hatten. Der Universitätscampus erstreckte sich in südöstlicher Richtung, aber die alten Fakultäten standen direkt in der Stadt. So lag das Hauptgebäude an der Adolph-Roemer-Straße schräg gegenüber vom Oberbergamt und auf der gleichen Seite wie die größte Holzkirche Europas.
Das Mathematikinstitut befand sich direkt hinter der Post am Kronenplatz, wo auch gleich das kleine, aber nette Hotel Krone stand. Nach einigem Hin und Her hatte Emilia Wollner darauf bestanden, dass Klara und sie das eine Hotelzimmer bezogen und Elisabeth und ihr Vater das andere. Da ihr Vater kaum da war, hatte sie das Zimmer bis auf die Nacht für sich alleine. Das ging in Ordnung. In der nächsten Woche sollte der Möbelwagen kommen und Emilia Wollner fuhr für den ganzen Tag mit dem Auto weg, um alles vorzubereiten.
Merkwürdigerweise lehnte sie Elisabeths bereitwilliges Angebot zu helfen energisch ab. Stattdessen drückte sie ihr hundert Euro in die Hand und sagte: »Habt etwas Spaß heute, geht ins Kino und kauft euch ein Eissorbet. Aber vor allem, vertragt euch! Ich fahre kurz zum Haus, um die Maler einzuweisen, und dann muss ich noch etwas für deine Medizin einkaufen. Sie ist fast alle.«
Also ging Elisabeth zusammen mit ihrer Schwester, die an Krücken lief, nach Downtown Clausthal. So viele Geschäfte gab es in direkter Nähe zum Hotel Krone nicht. Nach Zellerfeld konnten sie nicht, das war mit Krücken zu weit. Dafür hätten sie den Berg hinunter und auf der anderen Seite die Goslarsche Straße wieder hochlaufen müssen. Aber das störte sie nicht, denn dort war noch weniger los als in Clausthal. Sie setzten sich also auf Drängen Klaras in die Grosse'sche Buchhandlung und lasen. Klara wurde sofort ein bequemer Sessel angeboten, doch Elisabeth musste sich auf den Boden davor setzen. Es gab schrecklich viele Bücher über technische Studienfächer und ein großer Anteil davon beschäftigte sich mit Mathematik. Es dauerte dann auch keine zehn Minuten, bis Elisabeth aufsprang und vorschlug, dass sie sich etwas umsehen und Klara später wieder abholen könne. Der war das nur recht. Also machte sich Elisabeth auf den Weg. Sie lief die Adolf-Roemer-Straße runter und wieder rauf. Kein Vergleich mit Hannover, aber irgendwie gab es alles Nötige. Das Kino schien nur einen Saal zu haben und war etwas zurückgesetzt durch einen Gang erreichbar. Den ausgestellten Fotos nach zu urteilen, wurde es von Studenten betrieben. Es lag sogar eine Liste für Wunschfilme aus. Hier konnten sich Interessenten mit einem Vorschlag eintragen und wer genug Stimmen bekam, dessen Film wurde gezeigt. Neben den aktuell angesagten Filmen standen ganz merkwürdige Titel da, die Elisabeth noch nie gehört hatte. Aber es schien zu funktionieren. Eine echt coole Idee, dachte sie. Dann erblickte sie einen Vorschlag: Ronja Räubertochter.
Sie schmunzelte, griff nach dem Kugelschreiber, der an einem Band befestigt war, und machte hinter dem Titel einen weiteren Strich. An einer Eisdiele hielt sie schließlich an und genehmigte sich ein Wassereis. Sie setzte sich an einen der kleinen Metalltische und leckte genüsslich. Für eine so kleine Stadt war doch recht viel los. Viele Studenten liefen zumeist in Gruppen vorbei, doch ihr fiel vor allem ein etwas untersetztes Mädchen in ihrem Alter mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren auf, das aus einer Seitenstraße trat. Es war komplett in Schwarz gekleidet. Elisabeth, der auch recht warm war, wunderte sich über den Aufzug. Das andere Mädchen musste sicher gewaltig schwitzen. Elisabeth selbst trug nur ein leichtes T-Shirt und Shorts. Das Mädchen blickte sich zunächst sehr aufmerksam um, übersah aber, dass Elisabeth sie beobachtete. Urplötzlich verschwand es wieder. Als Elisabeth sich umblickte, bemerkte sie drei kräftige Jungen auf der anderen Straßenseite, die in Richtung Kronenplatz gingen. Sie schienen sehr ausgelassen und amüsierten sich anscheinend damit, Touristen zu ärgern. Kaum dass sie gut zwanzig Meter vorbei waren, rannte die Schwarzhaarige über die Straße und verschwand zwischen dem Hauptgebäude und einem Markt in der Graupenstraße. Dabei fiel ihr etwas aus der Tasche. Elisabeth sprang auf, lief darauf zu und hob es vom Boden hoch. Es handelte sich um ein Musterkatalog für Tattoos. Elisabeth wunderte sich nicht, da die andere doch schon sehr nach Gothic aussah. Sie folgte dem Mädchen, um ihm die Zeitschrift zurückzugeben. Doch als sie um die Ecke bog, war es nirgends zu sehen. Es musste entweder durch irgendeine Tür verschwunden oder weitergerannt sein. All das kam ihr immer merkwürdiger vor. Sie lief die Straße entlang und kam auf die Burgstätter Straße, die den Berg hinunterführte. In einiger Entfernung konnte sie einen schwarzen Haarschopf ausmachen, der gleich darauf nach rechts verschwand. Elisabeth sprintete los. Rennen tat ihr gut und sie lief schnell auf die Stelle zu, wo sie eben noch das schwarzhaarige Mädchen ausgemacht hatte. Warum flüchtete es nur? Hinter dem Haus führte ein schmaler, unbefestigter Weg zu einer Pforte, dahinter lag offensichtlich der Friedhof. Betreten blieb Elisabeth stehen. Auf den Friedhof wollte sie ihr nicht folgen, das wäre irgendwie nicht richtig. Sie blickte nochmal auf das Magazin, aber es klebte keine Adresse darauf. Elisabeth zuckte mit den Schultern und steckte es in ihre Hosentasche. Dann orientierte sie sich kurz. Sie hatte sich den Stadtplan leicht eingeprägt, denn die Bergstadt war mit ihren sechzehntausend Einwohnern viel kleiner als Hannover. Weiter unten musste die Erzstraße sein, die wieder zum Kronenplatz führte. Kurzerhand lief Elisabeth weiter und kehrte dann zurück zu Klara, die immer noch an derselben Stelle saß wie eine Stunde zuvor, als Elisabeth sie hier zurückgelassen hatte.
Wieder einmal schwitzte Sabrina wie verrückt und bekam fast keine Luft mehr. Sie lehnte kurz vor dem Friedhofstor hinter einem Schuppen an der Wand und kämpfte darum, wieder zu Atem zu kommen. Sie war einfach nicht fürs Laufen geschaffen. Zunächst wäre sie um ein Haar auf die drei Deppen getroffen, doch am meisten hatte sie das hochgewachsene fremde Mädchen irritiert. Es hatte sie beobachtet. Das hatte sie aus den Augenwinkeln gesehen und so getan, als wenn sie es nicht bemerkt hätte. Zunächst hatte sie die Fremde für eine Touristin gehalten, aber dann war sie aufgesprungen, um ihr zu folgen, als Sabrina um die Ecke der Graupenstraße gebogen war und noch einmal zurückgeblickt hatte. Sabrina war daraufhin in Panik losgerannt, so schnell sie konnte. Warum, das wusste sie nicht, aber vielleicht war die Fremde eine Bekannte von Vinzenz und als Späherin eingesetzt worden.
»Mich überrascht ihr nicht«, sagte sie zu sich selbst, kramte ihren kleinen Taschenspiegel hervor und schaute damit um die Ecke. Tatsächlich, nur wenige Sekunden später tauchte das Mädchen auf. Es blickte den Weg hinunter, den Sabrina gerade genommen hatte, zuckte dann aber mit den Schultern und blickte auf eine Zeitschrift in ihrer Hand. Es steckte sie weg und lief weiter. Aus ihrem Versteck heraus konnte Sabrina sehen, dass es leichtfüßig und schnell wie eine Gazelle lief. Und die Zeitschrift kam ihr erstaunlich bekannt vor. Als sie danach tastete, bemerkte sie, dass ihre fehlte.
»Ich Idiotin, ich werde langsam paranoid! Die wollte mir nur helfen.« Sie ließ den Spiegel sinken und steckte ihn seufzend wieder ein. Die Zeitschrift hatte viel gekostet.
Sie schlüpfte durch die Pforte auf den Friedhof. Vorsichtig, fast schon ehrfürchtig nahm sie die Handschuhe heraus und ging auf den Grabstein zu, auf dem sie diese gefunden hatte. Sie hatte sich vorgenommen, sie einfach dort abzulegen, aber daraus wurde nichts. Eine junge Frau stand vor dem Grab. Sie war für den Harz zu vornehm gekleidet. Ein modischer Hosenanzug in einem Fliederton, eine schicke Bluse und teure italienische Stilettos. Sabrina blieb in einiger Entfernung stehen und verbarg sich hinter einem Baum. Die Frau hatte einen Regenschirm dabei, mit dem sie auf dem Boden herum kratzte. Das kam Sabrina sehr merkwürdig vor. Noch merkwürdiger war, dass Sabrina ein Kribbeln spürte, während sie die Frau beobachtete, die nun das Grab umrundete und dabei achtlos auf andere Gräber trat. Sabrina blickte sich um, aber alle anderen auf dem Friedhof – zwei Seniorinnen und ein alter Mann, die am Wasserhahn standen und sich unterhielten, eine Mutter mit Kinderwagen und einem Kleinkind auf einer Bank, eine Frau mit einer Harke drei Reihen weiter, die Unkraut jätete – waren abgelenkt. Niemand außer ihr beachtete die Fremde.
Als die seltsame Frau schließlich wieder vor dem Grab stand, öffnete sie ihre Handtasche und entnahm einen kleinen Gegenstand. Sabrina sog scharf die Luft ein, als sie sah, dass es eine Art Messer war, mit dem sich die Frau ohne zu zögern in die Hand schnitt und mit einer energischen Bewegung Blut auf das Grab spritzte. Sabrinas Nackenhaare begannen sich aufzustellen und sie spürte, wie die Handschuhe, die sie immer noch hielt, eiskalt wurden. Die Frau wiederholte die Geste noch mehrfach, dann steckte sie das Messer wieder weg und wickelte ein Taschentuch um ihre Hand. Sie schien zufrieden mit sich selbst zu sein, drehte sich elegant um und stelzte in großen Schritten auf den Haupteingang zu. Die anderen Friedhofsbesucher schenkten ihr immer noch keine Beachtung.
Kaum dass sie aus Sabrinas Blickfeld verschwunden war, rannte diese zu dem Grab. Als sie es erreichte, stand dort auf dem Grabstein ein anderer Name:
Theresa Kuhnert
* 12.03.1956 † 24.01.2010
»Das gibt‘s doch gar nicht!« Irritiert schaute Sabrina in die nächste Reihe und dann in die davor. Nein, sie stand in der richtigen Grabreihe, nur das Grab war weg. Vorsichtig streckte sie die Finger aus, um den Stein zu berühren, doch sie zuckte zurück, als ein brennender Schmerz sich auf ihrer Hand auszubreiten begann, noch bevor sie den Stein berührte. Sie keuchte auf.
Dann zog sie kurzerhand die Handschuhe an, die sich immer noch eiskalt anfühlten, und streckte die Finger vor. Diesmal konnte sie den Stein anfassen. Ein leises Knistern erklang und ein Netz aus leuchtenden Linien breitete sich von dem Punkt aus, wo sie den Grabstein berührte. Symbole um das Grab erglühten. Als sie die Augen zukniff, offenbarte sich für einen kurzen Moment die alte Inschrift, die sie vor ein paar Tagen gesehen hatte. Aber dann wurden auch die Handschuhe heiß, Schwefelgeruch verbreitete sich. Mit einem dumpfen Knall wurde Sabrina zurückgeschleudert und krachte unsanft mit dem Rücken gegen einen anderen Grabstein, fiel darüber und landete in einem Blumengesteck. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an.
Sie brauchte ein paar Sekunden, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war tatsächlich gerade durch einen Zauber umgehauen worden. Ein echter Zauber! So etwas gab es doch gar nicht. Sie blickte hoch, konnte aber sehen, dass niemand sie beachtete. Irgendwie hatte keiner der anderen Menschen Notiz von ihr genommen. Dann erschrak sie bis ins Mark. Die fremde Frau tauchte wieder auf, blickte sich suchend um und kam dann mit großen Schritten auf das Grab zu. Sabrina suchte panisch nach einem Versteck. Direkt neben ihr befand sich ein frisch ausgehobenes Grab. Sabrina überlegte gar nicht lange und glitt hinein. Unten zog sie eilig die Handschuhe aus und steckte sie weg, dann presste sie sich gegen die eine Wand des Grabes. Es war eng, kalt und feucht, aber davon spürte sie nicht viel. Eine Menge Erde rieselte auf sie herab und begrub sie halb, doch sie wagte sich nicht mehr zu bewegen, denn nun waren die Stilettoschritte ganz nah zu hören.
Jemand schnüffelte, dann murmelte eine weibliche Stimme etwas. Wieder spürte Sabrina das Kribbeln. Sie hielt die Luft an und wiederholte in ihrem Kopf immer wieder die Worte: Du siehst mich nicht, ich bin tot! Du siehst mich nicht, ich bin tot!
Die Sekunden zogen sich wie Minuten hin, dann vernahm sie ein unterdrücktes Kichern.
Oh nein, nun hat sie mich!, dachte Sabrina. Sie schloss die Augen und wartete auf das Unvermeidliche, doch es kam anders. Eine leise Stimme meldete sich.
»Da bin ich ja noch genau im richtigen Moment gekommen, um zu verhindern, dass du erneut dein Unwesen treibst. Lass den Quatsch. Du kannst diesen Zauber nicht brechen, das solltest du eigentlich wissen. Ich werde ihn von Zeit zu Zeit erneuern, damit du schön da bleibst, wo du bist. Und nun wird niemand mehr wissen, wo du liegst, man wird dich vergessen. Ich bin jetzt die Meisterin und lass mir nicht ins Handwerk pfuschen.«
Wieder vergingen lange Sekunden, dann entfernten sich die Schritte genauso schnell, wie sie gekommen waren. Sabrina hockte komplett mit Erde bedeckt in dem offenen Grab. Das taube Gefühl war noch nicht ganz verschwunden. Kalter Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Sie ahnte, wie knapp sie gerade einer bösen Begegnung entgangen war. Sie wartete noch eine Weile, um ganz sicher zu sein, dann kletterte sie mühsam aus dem Grab heraus. Die ganze Erde auf ihr machte es schwieriger, als es eh schon war.
Auf allen vieren zog sie sich auf den festen Rand und richtete sich auf. Sie musste sich recken, um die Glieder wieder zu durchbluten. Die Frau war wirklich weg, aber stattdessen stand, keine fünf Meter von ihr entfernt, das Kleinkind von der Bank, wo immer noch dessen Mutter saß. Das Kind starrte Sabrina wie gelähmt mit aufgerissenen Augen an, unfähig etwas zu sagen. Es musste wirklich ein Schock sein, ohne Vorwarnung jemanden vor sich aus einem Grab klettern zu sehen. Die Tatsache, dass die Person komplett in Schwarz gekleidet und von oben bis unten voller Dreck klebte, begünstigte diesen Eindruck nur.
»Hi! Schöner Tag heute!« Sabrina fiel nichts Besseres ein und blickte zur Uhr. »Oh, so spät, nun muss ich aber los. Bis zum nächsten Mal.« Dann rannte sie in Richtung der Pforte, durch die sie den Friedhof betreten hatte. Erst jetzt löste sich das Kind aus seiner Starre und lief seinerseits schreiend zu seiner Mutter.
Wundervoll!, dachte Sabrina bei sich. Ich bin heute fast den drei Deppen in die Arme gelaufen, dann verfolgt worden, habe eine Magierin bei einem Ritual auf dem Friedhof beobachtet, bin von einem Zauber umgehauen worden, hab mich in einem Loch versteckt, bin fast entdeckt worden und nun glaubt ein Kind, dass ich ein Vampir bin, der gerade aus dem Grab geklettert ist. Außerdem renne ich schon wieder. Ich glaube, ich bin in den letzten Tagen mehr gelaufen als vorher in einem ganzen Schuljahr. Ich brauche dringend eine Dusche.
Zutaten
Emilia Wollner fühlte sich ausgelaugt und völlig fertig. Seit Tagen hatte sie nicht geschlafen, um all das nachzuholen, was man besser vorher hätte planen sollen. Die Möbelpacker waren Mittwoch spät gekommen und hatten bis tief in die Nacht gearbeitet. Sie hatte ständig zwischen den Räumen hin und her laufen müssen, damit alles an seinen richtigen Platz kam. Sie hatte es noch geschafft, einen Maler zu organisieren, der in aller Eile anrückte, um die Räume schnell noch zu streichen, bevor die Möbel hineingestellt wurden. Der Eilaufschlag, den er nahm, war unverschämt, aber es gab keine Alternative. Der Maler hielt jedoch, was er versprach. Er rückte mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen an und holte noch einen anderen Kollegen mit einem Gesellen dazu. Und dann legten sie in Windeseile los. Sie waren gerade mit dem Erdgeschoss fertig, als der Möbelwagen eintraf, und machten dann oben weiter. Der Kollege empfahl Emilia Wollner auch noch einen Klempner für den tropfenden Wasserkopf in der Dusche. Als sie ihn anrief, wusste der schon Bescheid und versprach, gleich am Folgetag zu kommen. Die Handwerker hier im Harz schienen alle schnell zu reagieren, auch wenn Emilia sich etwas wunderte, warum das so war.
Es ging schon auf drei Uhr morgens zu, als ihr ein Zettel in die Hand fiel, den sie extra auf das Armaturenbrett geklebt hatte. Zutaten für Medizin, stand dort. Emilia fluchte so, dass es gut war, dass ihre Töchter sie nicht hören konnten. Sie fingerte ihr Handy heraus und rief die Webseite mit dem Apothekennotdienst auf. Hoffentlich hatte noch eine Apotheke Notbereitschaft. Doch sie bekam keine Webseite. Es gab hier kein Netz.
»Verdammt, Borga, was hast du mir angetan. Und das nach all dem, was ich bereit war, für dich zu geben!« Sie fuhr von ihrem Haus nach Süden Richtung Prinzenteich los und schwenkte auf die Bundestrasse ein. Endlich hatte sie Netz, nur einen Balken, aber immerhin. Hier im Harz kam es nicht selten vor, dass man keinen Empfang hatte. Sie hielt und rief die Seite auf. Es hatte nur eine Apotheke Notdienst, die Bergapotheke in Zellerfeld.
»Na, dann wollen wir mal!«, seufzte Emilia. Ihre Arbeit war noch nicht vorbei. Sie ging in Gedanken die Liste der Zutaten durch und hoffte inständig, dass sie das nötige Quäntchen Glück haben würde.
Eine Viertelstunde später parkte sie ihren Wagen vor der Apotheke. Drinnen war alles dunkel, nur eine einsame Lampe an der Vorderseite mit einem Schild wies auf die Nachtklingel hin. Sie betätigte diese. Eine ganze Weile tat sich nichts, also klingelte sie erneut, diesmal energischer. Sie hörte schließlich eine Tür heftig zuschlagen, dann wurde es wieder still. Kurz bevor sie es erneut versuchen konnte, öffnete sich die Tür und ein Junge leuchtete mit einer Taschenlampe heraus. Emilia fiel auf, dass er wie sie tiefe Ringe unter den Augen hatte und komplett angezogen war. Sie schob es auf eine Computernacht.
»Guten Abend, was kann ich für Sie tun?«
»Ich würde gern den Apotheker sprechen, ich brauche dringend ein paar Sachen.«
»Meine Mutter ist nicht da. Sie ist unterwegs. Haben sie ein Rezept?«
Emilia zögerte. Der Junge sah intelligent aus, konnte aber kaum älter sein als ihre große Tochter. Fünfzehn, maximal sechzehn Jahre schätzte sie ihn.
»Äh, nein, aber ich weiß genau, was ich brauche. Doch was ist mit dir? Bist du nicht ein bisschen zu jung, um als Aushilfsapotheker zu arbeiten?«
Offensichtlich hatte sie seine Ehre verletzt, denn er reckte sich zu seiner vollen Höhe auf und überragte sie damit um einen halben Kopf.
»Erlauben Sie mal, ich bin mit Abstand der Beste in Chemie und Biologie bei uns und ich helfe schon seit vielen Jahren hier aus.«
»Wie heißt du denn?«, bohrte sie weiter nach.
»Theobald, Theobald Binsenkraut. Die Apothekerin ist meine Mutter.« Er musterte sie und setze hinzu: »Ich bin bald sechzehn. Früher galt man damit als erwachsen. Und wer sind Sie?«
Der Tonfall war schon reichlich unverschämt, aber sie versuchte zu lächeln, seufzte und antwortete: »Emilia Wollner, wir sind erst vor Kurzem hierher gezogen. Ich kenne mich noch nicht aus. Die Möbelpacker sind leider erst vor einer Stunde fertiggeworden.« Dann blickte sie ihn an. Vielleicht war es gut, dass ein unwissender Junge sie bediente und kein ausgebildeter Apotheker. »Ich brauche die Sachen wirklich dringend. Also bitte, versuchen wir es.«
Auf ihren verzweifelten Blick hin beugte er sich weiter heraus. Dabei leuchtete er ihr direkt mit der Taschenlampe ins Gesicht, sodass sie wegschauen musste. Hastig entschuldigte er sich sogleich dafür, während vor ihren Augen noch Sternchen tanzten. Er öffnete die Tür so weit, dass sie hinein konnte, und machte eine einladende Geste. Emilia Wollner beeilte sich, einzutreten.
»Warten Sie kurz hier!«
Drinnen machte Theobald Licht und verschwand durch eine Tür. Der Ausgaberaum lag links und war für die Kunden nur über eine große Durchreiche einzusehen. Emilia kam nicht umhin, die beeindruckenden Deckenarbeiten zu bewundern. Kurz darauf tauchte er auf der anderen Seite auf und fuhr die Kasse hoch.
»Also, was darf es sein?«
»Ich brauche Eisenhutextrakt, Schierling, Kaliumzyanid, Eibenrinde, reinen Alkohol, Tollkirschen, Rizinusöl und vor allem Argentum nitricum in hochkonzentrierter Form, nicht das homöopathische Zeug. Den Rest habe ich noch. Ach, und ein Aufputschmittel, so was wie Taurin.«
»Sie wollen sich da selber was zusammenmischen? Das meiste davon ist giftig, wenn nicht sogar tödlich. Wollen Sie jemanden umbringen?« Theobalds Miene wurde ernst.
»Du kennst dich ja gut aus, junger Mann! Ich mische mir daraus ein Abwehrmittel gegen Blattläuse und Milben. Ein altes Hausrezept.« Emilia versuchte wieder zu lächeln.
»Vieles davon ist ohne Rezept unverkäuflich. Ich darf es Ihnen nicht herausgeben. Und hätte das nicht bis morgen Zeit? Müssen sie mich unbedingt deswegen mitten in der Nacht aus dem Bett klingeln?«
Emilia Wollner hatte so etwas befürchtet, aber nun setzte sie alles auf eine Karte. Sie brauchte die Sachen unbedingt. Mit ihrer in langen Jahren erprobten Autorität in der Stimme sagte sie scharf: »So, so, und ich bin die Kaiserin von China. Ich weiß ganz genau, was du gerade gemacht hast, ich bin schließlich nicht dumm und kann Symptome erkennen. Wenn du mir hilfst, sag ich auch nicht deiner Mutter, was du so nachts treibst.« Sie wusste, dass sie hier bluffte, denn sie hatte keine Ahnung, was er gerade getan hatte.
Zu ihrer Genugtuung erschrak Theobald heftiger, als sie es erwartet hatte. Eine Pause entstand, in der sich verschiedene Gefühle auf seinem Gesicht spiegelten. Dann schien er, sich entschieden zu haben, und kramte unter seinem Pullover herum, als suche er etwas.
»Wenn ich das tue, will ich, dass Sie bei Ihrer Ehre schwören, dass Sie nichts sagen.«
Ganz schön forsch trat er auf, aber sie hatte ihn. »Gut, ich schwöre, dass ich deiner Mutter nichts …«
»Nie!«, unterbrach er sie.
Sie begann nochmal: »Also, ich schwöre, dass ich deiner Mutter nie sagen werde, was du in der Nacht so treibst.«
Theobald wirkte zufrieden. »Das reicht mir. Dann brauchen wir die Kasse auch nicht, ich nehme das Geld bar von Ihnen.«
Emilia nickte und suchte ihr Portemonnaie heraus, während Theobald verschwand. Erneut verblüffte er sie damit, dass er erstaunlich schnell wieder auftauchte und alle Zutaten gleich mit dabei hatte. Offensichtlich hatte sie ihn total unterschätzt. Beim Verhandeln um die Menge, die er bereit war, schwarz herauszugeben, musste sie nochmal nachhelfen, aber schließlich hatte sie alles beisammen. Es wurde teuer, aber das war ihr egal. Sie gab ihm noch etwas mehr als Schweigegeld und wurde dann von ihm freundlich vor die Tür eskortiert. Sie stieg ein und fuhr zurück zur Neuen Mühle. Sie hatte noch viel vor.
Theobald blickte ihr vom Fenster aus noch lange nach. Wer war diese Frau? Die Zutaten, der Zeitpunkt, die Mengen – alles verdächtig. Sie beherrschte den gleichen autoritären Tonfall wie seine Mutter. Er hatte sie beim Anleuchten magisch gescannt, aber sie hatte eine ganz normale menschliche Aura gehabt. Inzwischen war er sich sicher, dass sie sich etwas ganz anderes bei der Behauptung, sie wisse, was er nachts tat, gedacht hatte. Immerhin hätte sie die Jodflecken an seiner linken Hand bemerken oder die Dämpfe an seiner Kleidung riechen können. Das hatte sie nicht, aber als sie vor ihm stand, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen und lieber eingelenkt. Nun würde er die Bücher fälschen müssen, damit die vorrätigen Mengen wieder stimmten. Das Silbernitrat war jetzt fast alle. Aber die Frau hatte so verzweifelt auf ihn gewirkt, dass er nicht anders gekonnt hatte, als ihr zu helfen. Er hatte ihr keine Sekunde geglaubt, dass sie die Zutaten für ein Blattläusemittel brauchte. Dafür reichte ein Teebaumöl-Wasser-Gemisch mit etwas Spülmittel. Was hatte die Frau nur vor? Er zuckte die Schultern, als er die Haupttür verriegelte und sich wieder Richtung Keller wandte. Für heute würde er aufhören. Übermorgen früh kam seine Mutter wieder aus Berlin. Sie hatte zu seiner großen Freude noch einige Tage dranhängen müssen. Er hatte sein Glück gar nicht fassen können, aber jetzt war er froh, dass sie bald wiederkam. Etwas Merkwürdiges ging in Clausthal vor. Erst diese Ausbrüche unkontrollierter Magie und dann diese Frau mit ihrem Nachteinkauf. In der Zeitung stand, dass in der letzten Woche wieder Schafe gerissen worden waren. Da war es gut, seine Mutter wieder hier zu wissen. Sie würde mit Bedrohungen aller Art mühelos fertig werden.
Nachdem er alles wieder aufgeräumt, den Weg zum Nachbarkeller wieder versperrt und die Bücher manipuliert hatte, ging er endlich ins Bett. Die Dämmerung hatte schon lange eingesetzt.