Kitabı oku: «Harzmagie», sayfa 5

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Eine merkwürdige Nacht


Sabrina lag im Bett. Ihre Mutter war mit ihr nach einem guten Mittagessen zum Königskrug in der Nähe der Achtermannshöhe gefahren. Sabrina liebte die Windbeutel dort.

Das bei Senioren und Wandergruppen beliebte Ausflugslokal war diesmal fast leer gewesen, vermutlich weil Niedersachsen Zeugnistag hatte und die meisten Familien zu Hause feierten oder sich schon unterwegs in den Urlaub befanden. Zu ihrem sechzehnten Geburtstag hatte ihre Mutter ihr zwei Windbeutel mit friesischen Rosinen erlaubt. Die Rosinen hatten das ganze Jahr in Zucker gesättigtem Rum gelegen. Aus irgendeinem Grund hatte jemand besonders viele der Rosinen in Sabrinas Windbeutel getan, sodass sie sogar einen leichten Schwips bekommen hatte. Auch ihre Mutter war ausgelassen gewesen, noch mehr, als sich der attraktive junge Besitzer mit einer der Bedienungen mit an ihren Tisch gesetzt hatte. Schließlich gab es noch ein oder zwei Harzer Grubenlichter aufs Haus. Sabrina hatte sich eines der Gläser ihrer Mutter geschnappt und es geleert, bevor diese einschreiten konnte. Das Zeug hatte in der Kehle gebrannt, aber dann hatten sie alle einen Lachanfall bekommen, als Sabrina sich daran verschluckte und heftig husten musste. Es wurde ein lustiger Nachmittag, denn der Wirt war ein fröhlicher Mensch. Er hatte sogar gesagt, dass Sabrina eine sehr attraktive Frau werden würde. Sicherlich war das auch Verkaufstaktik, aber es hatte ihr doch geschmeichelt. Sie waren erst spät heimgekommen. In der angeheiterten Laune hatte Sabrina sich anschließend mit ihrer Mutter den Film ›Tanz der Vampire‹ angesehen, wozu Martha Schubert noch eine Flasche Rotwein geöffnet hatte. Sabrina hatte auch ein Glas bekommen und sich heimlich nachgeschenkt, als ihre Mutter auf der Toilette verschwand. Schließlich war Martha auf der Couch eingeschlafen und Sabrina hatte sich unter Mühen in ihr Zimmer geschleppt. Sie hatte noch ihre Hose abstreifen können und lag im T-Shirt auf dem Rücken.

Nun starrte Sabrina angeduselt an die Decke. Vielleicht hatte sie bereits kurz geschlafen. Was für ein Tag. Die Bilder zogen noch einmal an ihrem inneren Auge vorbei. Sie kicherte, weil sie sich an Vinzenz und die anderen erinnerte, an das erstaunliche Gespräch mit Herrn Heinze. Schließlich blieben ihre Gedanken bei den Handschuhen und der alten Frau hängen. Ihren Ledermantel hatte sie heute Mittag einfach auf den Boden geworfen, als sie nach Hause gekommen war, wie auch ihre anderen durchgeschwitzten Klamotten. Sie angelte nach ihm und bekam einen Ärmel zu fassen, um ihn heranzuziehen. Die Handschuhe steckten noch in den Taschen. Sie zog sie vorsichtig heraus und begutachtete sie erneut. Im schwachen Licht, das von draußen von der Straßenlaterne hereinfiel, glänzten die Handschuhe silbern. Irgendetwas an ihnen wirkte so anziehend auf Sabrina, dass sie sie immer weiter befühlte und schließlich hineinglitt. Die Handschuhe strahlten wie heute Mittag eine angenehme Kühle aus. Etwas veränderte sich, denn plötzlich wurde ihr Zimmer von einer unnatürlichen Kälte erfüllt. Sabrina stellten sich die Nackenhaare auf.

»Du bist äußerst leichtsinnig. Begabt, aber leichtsinnig«, meldete sich aus der Zimmerecke eine kalte Stimme, die Sabrina zusammenfahren ließ und ihr eisige Schauer über den Rücken jagte. Sie starrte in die Dunkelheit und sah jemand auf ihrem Knautschsessel sitzen. Sie hatte aber niemanden hereinkommen hören, auch der Sessel machte kein Geräusch. Wie konnte das sein?

»Wer hat dich ausgebildet?«, wollte die Gestalt von Sabrina wissen.

Diese drückte die Augen fest zusammen und redete sich ein, dass das sicher nur eine Einbildung von all dem Alkohol sein musste. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Gestalt jedoch immer noch da, auch wenn ihre Umrisse nicht ganz scharf zu erkennen waren – eine Erscheinung ohne klare Grenzen.

»Nun, wer ist dein Lehrmeister, Kleine?« Ungeduld schwang in der Stimme mit und machte ihr langsam Angst. Sie überlegte kurz, aufzuspringen und aus dem Raum zu laufen. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie angetrunken war und in ihrem Bett lag, hatte sie kaum eine Chance, es zu schaffen, bevor die Gestalt sie erreichte, die sich nun langsam erhob. Sie ragte hoch auf und begann sich zu nähern.

»Niemand.«, antwortete Sabrina schließlich, um Zeit zu gewinnen.

»So, so, ein Naturtalent, was? Das erklärt, warum ich niemanden sonst hier spüren kann. Du solltest vorsichtiger sein, wenn du mit Dingen herumspielst, die du noch nicht verstehst. Und du solltest Respekt zeigen vor mir.«

»Was wollen Sie? Ich warne Sie ... ich schreie.«

Ein kaltes, leises Lachen war zu hören, dann machte sie einen weiteren deutlichen Schritt nach vorne und fuhr sie so an, dass Sabrina einen verängstigten Schrei ausstieß. Die Präsenz kam jetzt so nah, dass sie sie mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Nun erkannte Sabrina immer mehr Einzelheiten eines halb verfaulten Körpers, in dem ganze Teile fehlten.

»Du hättest keine Chance, Würmchen, aber deswegen bin ich nicht hier. Du hast auf dich aufmerksam gemacht und ich wurde geschickt, um deinen Namen zu erfahren. Sag ihn mir und ich gehe.«

»Meinen Namen?« Sabrina wurde misstrauisch. Aus den vielen Romanen, die sie gelesen hatte, war ihr in Erinnerung geblieben, dass man Macht über jemanden gewann, wenn man seinen Namen kannte. Sie würde der Präsenz ihren Namen nicht sagen, so viel war ihr klar. Doch ihr wollte momentan kein anderer einfallen, so angestrengt sie auch überlegte. Es half ganz und gar nicht, dass die Erscheinung Zentimeter für Zentimeter näher kam. Ihr Kopf schien wie leer gefegt. So viele Namen von Charakteren aus Filmen konnte sie sonst herunterbeten, doch nicht einer davon wollte ihr einfallen. Sie wich vor dem Wesen zurück, bis sie schließlich die Wand erreichte, an der sie sich rücklings hochschob. Sie konnte jetzt nicht mehr ausweichen. Die Präsenz betrat ihr Bett, ohne es einzudrücken, wie eine Art Geist.

»Wie ist dein Name?«, grollte sie erneut.

Sabrina hob schützend die Hände, an denen sie noch immer die Handschuhe trug. Als ihr eigener Blick darauf fiel, schoss ihr ein Name durch den Kopf und sie stammelte: »Ich bin Sophie Wilhelmine Steiger! Geh weg!«

»Was? Das kann nicht sein«, die Präsenz hielt inne.

Sabrina traute ihren Augen und Ohren nicht. Ihr Besucher schien verwirrt. Der Name löste etwas aus. Pure Angst erfüllte Sabrina, als sich auf dem Gesicht des Wesens kalte Wut zeigte und die Augen rot zu leuchten begannen. Sie schrie es mit dem letzten Mut der Verzweiflung so laut an, wie sie konnte.

»Ich bin Sophie Wilhelmine Steiger.«

»Lügnerin, sie ist tot.«

Eine substanzlose Hand schoss nach vorne in Richtung Sabrinas Hals. Sie machte eine Bewegung, um die Hand abzublocken, ohne Hoffnung, sie wirklich aufhalten zu können. Doch auf wundersame Weise prallte diese an dem Handschuh ab und wurde aus der Bahn gelenkt. Sabrina nutzte die Schrecksekunde, um mit der anderen zuzuschlagen, direkt in das hässliche, verfaulte Gesicht. Das Wesen wurde hart getroffen und taumelte rückwärts. Sabrina trat einen Schritt vor und baute sich in Kampfhaltung auf. Sie wusste nicht warum, aber das Wesen hatte plötzlich Angst vor ihr.

»Nein, das darf nicht sein!«, stammelte es.

»Ich bin Sophie Wilhelmine Steiger und ich befehle dir hiermit, zu gehen!« Sabrinas Stimme überschlug sich fast, so schrie sie jetzt. Eine unsichtbare Welle breitete sich von ihr aus und drückte das Wesen gegen die Wand. Plötzlich brach ein helles Licht in den Raum, als die Tür aufgerissen wurde. Die Gestalt löste sich in eine Nebelschwade auf und verschwand aus dem Fenster.

Sabrinas Mutter stand in der Tür und starrte sie wütend an. Sabrina, immer noch in Kampfpose, blickte irritiert in die inzwischen leere Ecke, dann zu ihrer Mutter und wieder zurück.

»Was um alles in der Welt machst du für einen Höllenlärm? Du könntest ja Tote damit aufwecken. Jetzt leg dich sofort wieder hin! Ich hätte dir keinen Wein abgeben sollen und der Film war einfach zu viel, du bist ja völlig benebelt. Weißt du eigentlich, wie lächerlich du gerade in T-Shirt mit Handschuhen aussiehst?«

Erst jetzt wurde Sabrina bewusst, wie die ganze Situation auf ihre Mutter wirken musste. Hastig streifte sie die Handschuhe ab und verstaute sie in ihrem Nachtschrank in der untersten Schublade.

»Entschuldigung Mama, ich muss geträumt haben!«, stammelte sie dabei. Als diese gegangen war, legte sich Sabrina wieder ins Bett. Die Kälte saß ihr in den Knochen und sie merkte eine Erschöpfung, die bis in alle Glieder ging. Das mussten die verfluchten Handschuhe sein. Sie würde sie nie wieder anfassen.

Einige Straßen weiter, in einem von Kerzenlicht erhellten Keller, saß Theobald vor einem kleinen brodelnden Kessel, in den er gerade ein weißes Pulver geschüttet hatte. Er erschauderte und blickte sich um. Da war es schon wieder gewesen, dachte er, nur anders, noch machtvoller als heute Nachmittag.

Das Ende der Welt


Beim Abendbrot berichtete Klara wie erwartet fröhlich von ihren guten Noten. Nur eine Zwei, was hieß, dass alles andere Einser waren, bis auf Sport, aber das zählte bei ihr nicht. Und natürlich kam es, wie es kommen musste. Klara fing danach an, Elisabeth zu löchern, was sie denn für Noten hätte. Eine Weile sagte diese nichts und stopfte alles auf dem Tisch in sich hinein, dessen sie habhaft werden konnte, aber nichts davon machte sie richtig satt. Klara bemerkte offenbar nicht, dass ihre Eltern ständig Blicke tauschten. Ihr Vater sah besorgt aus, aber ihre Mutter schaute immer wieder genau auf Elisabeth, ganz so, als würde sie jedes Stück in ihrem Mund zählen. Erst als es nichts mehr zu essen gab, konnte sie ihrer Schwester nicht mehr ausweichen. Immer noch hungrig, wollte sie schon aufstehen, aber ihre Mutter bestand auf eine Familienansprache. Das Gute daran war, dass Elisabeth schon wusste, was jetzt kam, und sich so in allen Einzelheiten an den immer mehr entgleisenden Gesichtszügen von Klara ergötzen konnte. Das anschließende Streitgespräch wurde nach einer ganzen Weile von Emilia Wollner mit einem Machtwort beendet und beide Kinder auf ihre Zimmer geschickt. Klara ging unter Protest, der so laut ausfiel, dass Elisabeth ihn noch oben in ihrem Zimmer hören konnte.

Am anderen Morgen erwachte Elisabeth ganz früh. Wieder hungrig schlich sie nach unten zum Kühlschrank, nur um ihre Mutter bereits beim Packen vorzufinden. Emilia Wollner hatte dunkle Augenringe und schien geweint zu haben. Unter ihren Blicken nahm sich Elisabeth nur eine Banane und wollte sich gerade wieder aus der Küche trollen, als ihre Mutter ihr mit einem Löffel und einer nur allzu bekannten Bügelflasche in der Hand den Weg abschnitt. Sie nötigte ihr einen ganzen Esslöffel von dem Zeug auf, bevor sie sie vorbeiließ. Danach verflog Elisabeths Hunger sofort. Sie nahm die Banane mit nach oben und begann zu packen. Es hatte keinen Zweck, mit ihrer Mutter zu diskutieren. Das hatte noch nie etwas gebracht.

Trotz des frühen Packens dauerte es bis fast drei Uhr nachmittags, bis sie alles eingeladen hatten und losfahren konnten. Ein Umzugsunternehmen mit insgesamt sechs Mann tauchte auf und bekam von Michael Wollner den Schlüssel und genaue Anweisungen, was sie wie einpacken sollten.

Auf der Fahrt aus der Stadt hielten sie noch an einem Bioladen und kauften einige Dinge zum Essen. Klara, die seit dem Einsteigen nur gezetert hatte, verweigerte jeden Bissen, worauf Elisabeth sich auch ihr Essen schnappte, nachdem sie die eigene Portion eilig aufgegessen hatte.

Als sie schließlich auf dem Messeschnellweg Richtung Hildesheim fuhren, gab es auch diese Portion nicht mehr und Elisabeth bekam noch einen Löffel von der Medizin. Klara probierte alles, um ihre Eltern umzustimmen. Sie versuchte sogar, sich zu übergeben, aber es half alles nichts. Elisabeth steckte ihre Ohrstöpsel ein und machte diesmal sogar wirklich Musik an, um den Rest des Streits nicht mitzubekommen, zumindest nicht jedes Wort.

Vor der Autobahnabfahrt Seesen trübte es sich immer weiter ein, als Klara endlich den Mund hielt und trotzig aus dem Fenster starrte. Es begann heftig zu regnen, als wäre der Sommer vorbei, aber das passte zu der unterkühlten Stimmung im Auto.

Herr Wollner fuhr von der Schnellstraße ab und bog auf eine kurvenreiche Straße ein, die in den Harz führte. Elisabeth stellte erleichtert die Musik ab.

Sie passierten einen Felsen namens Hübichenstein, als der Nebel schlagartig weniger wurde und hier und da Sonnenstrahlen durch den Dunst stachen.

Ein Schild wies den Weg nach Bad Grund, doch ihr Vater fuhr weiter. Er machte gerade eine verärgerte Bemerkung über einen Drängler hinter ihm, der wegen des Gegenverkehrs nicht überholen konnte. In einer langgezogenen engen Rechtskurve passierten sie auf der linken Seite einen Parkplatz und ein Museum. Dort schien es eine dieser Höhlen zu geben. ›Iberger Tropfsteinhöhle‹ war dort zu lesen. In der Kurve überholte sie der Wagen. Michael Wollner regte sich fürchterlich auf, aber der silberne Polo mit einem jungen, vermutlich einheimischen Mann hinter dem Steuer hatte gekonnt Schwung geholt und schoss in wenigen Sekunden an dem Passat der Wollners vorbei, gerade noch rechtzeitig, um vor einem entgegenkommenden Bus wieder einzuscheren. Elisabeth, die auf der Rückbank hinter ihrer Mutter saß, konnte nun die Kurve gut überblicken. Es hatte sich eine ganze Schlange von Autos hinter ihnen gesammelt, so langsam fuhr ihr Vater.

»Vielleicht sollten wir einmal halten und die alle vorbeilassen!«, schlug sie vor.

»Ja, wie denn? Hier gibt es keinen Parkplatz und ich fahre schon, so schnell ich kann.«

»Dann dreh um und fahr zurück nach Hause«, fiel nun Klara wieder ein.

»Ruhe da hinten!«, brüllte ihr Vater, doch jetzt legte Klara erst so richtig los.

Zwei Kurven weiter erreichten sie auf der linken Seite einen kleineren Parkplatz. Herr Wollner zog den Wagen raus, weil gerade kein Gegenverkehr kam, und hielt abrupt an, dass alle durchgeschüttelt wurden. Während die nachfolgenden Autos Fahrt aufnahmen und an ihnen vorbeisausten, stieg ihr Vater aus und ging ein paar Schritte von dem Auto weg. Er drehte ihnen den Rücken zu, aber sie hörten ihn deutlich fluchen.

Emilia Wollner schnallte sich ab und drehte sich nach hinten. Sie wirkte sehr ernst, doch Klara beachtete sie gar nicht.

»Ich will nach Hause, ihr spinnt alle miteinander. Ich will in mein Zimmer, ich will nicht in den Harz, ich will in die Stadt.« Klara wurde nun regelrecht hysterisch. »Ihr macht das nur, um mich zu ärgern, ich bin die Allerbeste in meinem Jahrgang. Ich will, dass ihr mich zurückbringt. Ihr seid nicht meine Eltern! Ihr seid echte Monster!«

Patsch!

Elisabeth hatte die Bewegung ihrer Mutter gesehen, bevor diese ausholte, aber sie war so sprachlos, dass sie nichts tun konnte. Ihre Mutter hatte noch nie die Hand gegen Klara erhoben. Doch genau das war eben gerade passiert. Klara hatte sich die allererste Ohrfeige ihres Lebens eingefangen. Emilia Wollner funkelte Klara mit Tränen in den Augen und geröteten Wangen wütend an, sodass diese sich nur noch traute zu wimmern.

»Sag das nie, nie wieder oder ich vergesse mich! Und jetzt halt die Klappe! Und du, grinse nicht so unverschämt, sonst fängst du dir auch noch eine!«

Elisabeth merkte, dass sie gemeint war, biss sich auf die Lippe und wandte den Blick wieder aus ihrem Fenster, während Klara nur leise in sich hinein schluchzte.

Die Autoschlange hatte sie inzwischen passiert. Emilia Wollner stieg aus und ging zu ihrem Mann. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis beide zum Auto zurückkamen. So hatte Elisabeth ausgiebig Zeit, den Wald zu mustern. Er hatte etwas unheimlich Beruhigendes an sich. Durch die geöffneten Türen roch es nach dem Regen und dem kühlen Dunst des Waldes. Die Tannen standen hoch und erzeugten ein Farbspiel in allen Tönen von hellstem Weißgrün bis zum tiefsten Schwarzbraun. Immer wieder waren zwischen den Pflanzen Farbtupfer der Felsen darunter zu sehen, teilweise in Rot, Ocker und Anthrazit. Gelbe Wildblumen standen vereinzelt dazwischen. Bezaubernd. Ohne das Geräusch der vorbeifahrenden Wagen und das Gewimmer von Klara wäre es auch sehr schön ruhig gewesen. Bevor sie diesen Gedanken aber beenden konnte, kamen ihre Eltern zurück und stiegen wieder ein. Ohne dass ein weiteres Wort gesprochen wurde, fuhr Michael Wollner weiter.

Elisabeth warf einen verstohlenen Blick zu Klara hinüber, die ihre Nase in ein Taschentuch vergraben hatte. Die linke Wange konnte sie nicht ganz erkennen, aber die Ränder hatten sich deutlich gerötet. Die Fahrt dauerte dann nicht mehr lang. Die Straße machte eine scharfe Rechtskurve in einem Tal und führte dann entlang eines kleinen Flusses.

»Das muss schon die Innerste sein«, verkündete Emilia Wollner mit einer Karte auf dem Schoß.

»Nun ist es nicht mehr weit. Es geht noch nach links und dann rechts. Innerstetal, müsste das heißen. Wir müssen bis zur Neuen Mühle.«

An der Abzweigung fuhren sie von der Bundesstraße ab. An einem Felsaufschluss ging es vorbei in ein Tal weiter flussaufwärts. Schließlich kamen zwei Gebäude in Sicht. Das Linke schien die Neue Mühle zu sein. Auch wenn das Haus alt aussah, machte es mit dem für den Harz typisch dunkel gestrichenem Holz und weiß gerahmten Fenstern einen guten Eindruck. Ein gelbes Schild in Form einer Tanne hing auf der Vorderseite. Dort stand ein Text, der erklärte, warum dieses Haus Neue Mühle hieß. Es parkte bereits ein kleiner Geländewagen in der Nähe. Eine rundliche ältere Frau lehnte am Kotflügel. Sie trug eine kurze Hose und eine ärmellose Bluse. Ihre Haut war sonnengebräunt und ihre Füße steckten in Ökolatschen.

Die Wollners stiegen aus und begrüßten die Frau, die sich als Frau Grubner vorstellte. Sie gehörte zur Universitätsverwaltung, wie man auch über den Geländewagen erraten konnte, auf dem in großen Lettern TUC – Technische Universität Clausthal stand. Nur Klara blieb sitzen, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie alles aufhalten könne, wenn sie nicht ausstieg.

»Willkommen in Clausthal! Sie müssen die Wollners sein. Glück Auf! Wir freuen uns, eine so kompetente Kraft hier in unserem Harz begrüßen zu können. Ich soll Ihnen das vom Dekan ausrichten. Eine ganz reizende Tochter haben sie da, so groß gewachsen und bildhübsch. Du machst sicher Sport. Lass mich raten: Laufen oder vielleicht Klettern?«

Elisabeth konnte nur entgegnen, dass sie wirklich gerne laufe, da redete Frau Grubner auch schon ohne Punkt und Komma weiter.

»Ihrem Sonderwunsch, hier in die abgelegene Mühle zu ziehen, konnten wir mit einigen Auflagen seitens des Denkmalschutzes entsprechen, auch wenn Sie innen feststellen müssen, dass das eine oder andere noch nachgebessert werden muss. Bis die Möbel kommen, habe ich Sie erstmal im Hotel Krone einquartiert. Das Dach ist erst letztes Jahr ausgebessert worden, aber so kurzfristig konnten wir nicht alles organisieren. Allerdings bin ich durchaus überraschende Aktionen vom Dekan gewöhnt, insofern ist das nichts Neues. Bis der Winter kommt, kann ich aber nicht versprechen, dass die Heizung wieder läuft, wenn sie nicht jemand wieder heile zaubert. Sie haben ja für die Übergangsphase den Kachelofen und ein oder zwei Elektroheizkörper.«

Elisabeth bemerkte das Zögern bei ihrem Vater und er wollte etwas erwidern, doch ihre Mutter war schneller.

»Das ist alles kein Problem. Wir freuen uns sehr, dass wir aus der Stadt raus sind und etwas Natur um uns haben. Bis Dezember ist es noch hin!«

So, wie Frau Grubner daraufhin losprustete und viele Lachfältchen um die Augen ein lustiges Muster bildeten, musste man sie einfach gern haben, überlegte Elisabeth.

»Na, Sie werden es schon noch sehen, wenn Vater Harz Sie begrüßt, Kind!«

Sie meinte tatsächlich ihre Mutter, aber auf eine so liebenswürdige Art, dass man ihr dafür nicht böse sein konnte.

»Der Winter beginnt hier oft schon im Oktober, meistens wenn die Erstsemester sich eingeschrieben haben und nicht mehr zurückkönnen!« Immer noch lächelte sie in die inzwischen verwirrten Gesichter der Wollners und fischte einen dicken Schlüsselbund aus der Hosentasche. »Na, dann kommen Sie mal mit.« Doch sie blieb plötzlich stehen. »Schau mal einer an, noch ein hübsches Mädel. Willst du gar nicht aussteigen?«

Nun war ein ganz leichter sächsischer Akzent bei der Universitätsangestellten zu hören. Klara bemerkte die Aufmerksamkeit und tauchte ab.

»Ihr ist noch von der Fahrt schlecht und außerdem hat sie gerade ihr Bein in Gips!«, erläuterte Emilia Wollner.

»Ach nee, das ist aber schade. Na, denn wollen wir mal.«

Die handgeschnitzte Tür machte einen massiven Eindruck. Das Haus wirkte groß und bestand aus einem Mittelbau mit zwei Flügeln. Es gab so viel Platz, dass es ohne Probleme für zwei Familien gereicht hätte, fand Elisabeth.

Geschäftig erläuterte Emilia: »Hier kommt das Arbeitszimmer meines Mannes rein. Direkt nebenan können wir zwei Schreibtische hineinstellen, dann können die Mädchen dort ihre Hausarbeiten machen. Das Zimmer nebenan ist für Rollstühle geeignet. Bis der Gips ab ist, schläft Klara da, dann wird es das Gästezimmer.«

Elisabeth wunderte sich. Anscheinend hatte ihre Mutter schon Pläne, gerade so, als hätte sie bereits den Grundriss des Hauses wochenlang studiert und sich Gedanken gemacht. Dabei konnte die Entscheidung, hierher in den Harz zu ziehen, gerade etwas über einen Tag alt sein. Hatte da jemand nachgeholfen?

So ging es Raum für Raum durch das Haus. Im ersten Stock, dessen Boden an den meisten Stellen leicht knarrte, gab es mehrere Räume und zwei Bäder. Eins davon war ein großes Zimmer mit zwei Fenstern zum Wald hin. Es roch etwas abgestanden und muffig, aber Frau Grubner strahlte, als sie die Fenster weit öffnete und auf den Wald und die davor hinfließende Innerste zeigte.

»Na, wer wird dieses Zimmer nehmen?«

Es war eigentlich keine Frage, denn sie blickte direkt Elisabeth an, während ihre Mutter ins benachbarte Badezimmer schaute und zu ihrem Mann etwas über einen tropfenden Duschkopf sagte.

Mit gedämpfter Stimme setzte Frau Grubner hinzu: »Es liegt am weitesten vom Elternschlafzimmer entfernt und es gibt eine Art Feuerleiter an der Seite, über die eine sportliche junge Frau unbemerkt nach unten gelangen kann, wenn sie ihren Freund besuchen will«, flüsterte sie Elisabeth zu und knuffte sie wie eine alte Freundin in die Seite. So viel Vertrautheit verblüffte Elisabeth, doch Frau Grubner setzte noch einen drauf. »Immerhin bleibt euch hier oben außer Schule, Sport und Freunden nicht viel! Und die Eltern müssen ja nicht alles mitbekommen, was ihr so anstellt, oder?«

Elisabeth wurde rot bis über beide Ohren. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Frau Grubner wandte sich bereits mit einem Gluckser wieder ab und ging zu ihren Eltern. So blieb Elisabeth allein in dem Zimmer zurück. Es gefiel ihr, vor allem wegen der freiliegenden Dachbalken aus altem Holz. Mit der frischen Luft von draußen roch es auch gleich nicht mehr muffig. Sie blickte aus dem Fenster. Tatsächlich befanden sich dort in der Wand Eisengriffe, die man gut erreichen konnte. Sie überlegte kurz, dann fasste sie sich ein Herz und kletterte nach unten. Die Griffe saßen fest und machten kein Geräusch. Elisabeth kam sich wie eine Ausbrecherin vor. Kurz darauf stand sie hinter dem Haus auf einer verwilderten Wiese. Ein Trampelpfad führte zu einer Feuerstelle. Es war wildromantisch. Sie lief los und schaute sich alles an. Es wirkte gar nicht langweilig auf sie. Lose Steine rahmten die Feuerstelle ein und es lag einiges an Holz in der Nähe. Zwei quer liegende Baumstämme dienten als Sitzbänke. Nachdem sie diese begutachtet hatte, stieg sie ein paar Schritte zur Innerste hinab und steckte die Hände ins eiskalte Wasser, sodass ihre Finger schnell taub wurden. Sie setzte sich auf einen Stein am Rand und blickte in den Wald, der sich auf der anderen Seite erhob. Genau in diesem Moment schob sich eine Wolke weiter und die Sonne schien warm herab. Plötzlich konnte sie den Harz spüren. Die Hände auf dem Stein hielt sie den Atem an, denn eine Präsenz sickerte wie Sirup von unten in ihren Körper. Es war ein schweres, tiefes Gefühl, wie eine Kraft, die sie über die Schwerkraft hinweg auf den Boden zog und ausfüllte. Es kribbelte etwas unterhalb ihrer Haut. Wie war das möglich? Es fühlte sich so gut an. Sie blieb sitzen und ließ sich ganz ausfüllen von dem Kribbeln.

Als Frau Grubner eine Stunde später gegangen war, hörte sie ihren Vater rufen. Elisabeth lief zurück und strahlte ihn so überglücklich an, dass ihr Vater, der bis eben noch ein miesepetriges Gesicht gemacht hatte, unvermittelt lachen musste.

»Na, dann haben wir ja wenigstens eine Person hier glücklich gemacht!« Er legte den Arm um seine große Tochter und ging mit ihr zum Auto. »Hier soll es einen guten Asiaten geben. Lust auf Tofu mit Nudeln?«

Elisabeth nickte eifrig.

Emilia Wollner saß bereits im Wagen und redete auf Klara ein. Diese hatte das Auto nicht verlassen. Als Elisabeth mit ihrem Vater zustieg, herrschte ihre Mutter sie an.

»Wo warst du? Wir suchen dich schon ewig!«

»Ich saß hinten am Fluss, nicht weit weg. Es ist herrlich hier, Mama. Kannst du das auch spüren, dieses schwere Kribbeln?«

»Nein, ich spüre nichts!«

Der Blick, den sie erntete, verschlug ihr abrupt die Sprache, denn die Augen ihrer Mutter wurden wieder stechend und hart und die Stimme so kalt, dass Elisabeth kein Bedürfnis mehr hatte, mit ihr zu sprechen. Aber sie sah noch mehr und fühlte es. Ihre Mutter log sie direkt an.

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22 aralık 2023
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