Kitabı oku: «Blutgrätsche», sayfa 4

Yazı tipi:

Szenekundig

Der Kaffee ist kalt. Geschmeckt hat er von Anfang an nicht.

»Wie lange wollen die uns hier noch schmoren lassen?« Wir sitzen bestimmt seit 30 Minuten in dem Besprechungsraum der Ulmer Hauptzentrale. Er ist noch schlimmer als der unsere. Kalt und kahl. Tisch, Stühle, das war’s. Eigentlich ist das gesamte Gebäude so. Kein Wunder, dass ich mich hier immer frage, ob ich im richtigen Job gelandet bin.

»Kennen die Fans eigentlich die SKBs?«

Ich grinse Schröter an. »Den Stallgeruch kriegst du nicht weg.« Die szenekundigen Beamten agieren zwar in Zivil, man braucht aber nur darauf zu achten, wer im Block bei einem Tor der Heimmannschaft nicht aufspringt.

Endlich geht die Tür auf, und die zwei Beamten kommen rein. Der erste in Uniform. Ich dachte, ihr seid in Zivil unterwegs? Der zweite nicht.

»Morgen, Kollegen. Thomas Scharf, SKB.« Der Uniformierte schüttelt Kaugummi kauend meine Hand, kräftig, dann die von Schröter.

»Guten Morgen. Frank Neupert«, stellt sich der andere vor. Sein Händedruck ist weicher. Sein Tonfall auch.

»Ich sehe, Sie haben sich bedient«, meint Scharf und grinst kauend.

Ja, danke, wir sind bedient.

»Katrin Benzeler war selbstverständlich auf unserem Radar. Kategorie B.« Scharf schüttet die schwarze Plörre in sich hinein als sei es Bier und kaut munter dabei weiter.

»Warum B?«, frage ich. »Sie war doch keine Randaliererin?« Unsere Fußball-Beobachter teilen die Fans intern in die Kategorien A, B und C ein. A ist der »Normalo« oder der brave Kuttenfan, der einfach nur für seine Mannschaft schwärmt, aber friedlich ist. Kategorie B der Fan, der sich in bestimmten Situationen gewaltbereit zeigt, und C ein Hooligan: Ihm geht es nicht um den Sport, sondern ums Prügeln. »Gewaltsuchend«. Nach der offiziellen Einteilung umspannen die Ultras alle drei Kategorien. Ansichtssache.

»Benzeler neigte zu Provokationen«, meint Scharf. »Gegen die gegnerischen Fans wie gegen die Einsatzkräfte. Die Kleine war kaum zu bändigen.«

Ein Gefühl durchfährt mich, das ich nicht einordnen kann. Ich muss innerlich schmunzeln.

»Sie hat sich oft genug auch mit der BFE angelegt.«

»Mit den Schwarzen Gespenstern?«

»Ja.«

Schwarze Gespenster sind Leute der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, kurz BFE, also spezialisierte Kräfte der Landespolizei, die die örtliche Polizei beim Vorgehen gegen gewalttätige Störer unterstützen. Die Dienstvorschrift spricht von »beweissichernden Festnahmen an Brennpunkten unfriedlichen Geschehens«, Großveranstaltungen also, bei denen Auseinandersetzungen zu erwarten sind; Unruhen, Demonstrationen oder Fußballspiele.

»Sich mit der BFE anzulegen ist keine gute Idee«, meint Schröter.

Gespenster nennen wir sie vor allem deshalb, weil die in ihrer ganz eigenen Dimension leben. Zumindest hat man manchmal das Gefühl, dass sie in ihren Kasernen wenig von der realen Welt hier draußen mitkriegen. Und werden sie dann einmal zum Einsatz rausgelassen, dann tragen sie meist noch eine schwarze Sturmhaube unterm Helm. Gesichtslose Geister.

»Da bist du schnell weg vom Fenster«, stimme ich ihm zu.

Mir jedenfalls ist keiner bekannt, der privaten Kontakt zu einem Gespenst hat. Keine Ahnung, wie die eigentlich ticken. Ich weiß nur: Die Gespenster sind besonders ausgebildet, gut ausgestattet und gelten in Polizeikreisen als extrem leistungsfähig. Was auch immer das heißt. Bei Kundgebungen besteht ihre Strategie neben der massiven Präsenz in voller Montur zumeist darin, gezielt einzelne Straftäter und Aufwiegler aus Versammlungen heraus festzunehmen.

»Schwanger?«, wiederholt Neupert ein wenig später mit großen Augen. »Das ist hart.«

Scharf pfeift nur durch die Zähne.

»Und in welche Richtungen gehen Ihre Überlegungen bislang?« fragt sein Kollege weiter.

Schröter und ich sehen uns an.

»Der Zustand der Leiche lässt viele Motive zu«, erklärt ihm mein junges Nordlicht. »Mord aus Leidenschaft, sei es wegen des Spiels, einer Provokation oder was auch immer. Auch eine Sexualstraftat haben wir noch nicht völlig ausgeschlossen. Wir warten auf den abschließenden Bericht der Gerichtsmedizin.«

»Ein heißer Käfer war sie ja«, meint Scharf. Da haben wir sie wieder, die professionelle Pietätlosigkeit. Und damit kann ich aktuell gar nicht umgehen. Wäre es irgendein Opfer, könnte ich mich davon distanzieren. Es ist aber Katrin … und ich bin dünnhäutig wie sonst was.

»Und von uns möchten Sie nun Näheres über die Szene erfahren?«, fängt mich Neupert zum Glück aber ein. Er scheint cleverer zu sein als sein Vorgesetzter.

»Ganz genau«, übernimmt Schröter, und es ist mir mehr als recht. »Wie schätzen Sie Benzelers Position ein?«

Neupert erzählt: Cat sei angesehen gewesen in der Kurve, beliebt und geschätzt von nahezu allen im eigenen Stall, gehasst oder gar gefürchtet von anderen Lagern. Stand auch unter spezieller Beobachtung der SKBs. »Gerade weil sie so schwer einzuschätzen war, sich immer Neues einfallen ließ.«

»Und weil der blonde Giftzwerg immer Ärger machte«, meint sein kauender Kollege Scharf. »Sie hat mehrmals versucht, Kollegen der BFE anzuschwärzen. Ich glaube, es laufen noch zwei ihrer Anzeigen, eine wegen Nötigung und eine sogar wegen sexuellen Übergriffs.«

»Mit Uwe Boltz allerdings, dem Capo der Fanatico Boys, hatte sie ihre Schwierigkeiten«, fällt Neupert Scharf ins Wort.

»Wohl eher er mit ihr. Die Bohnenstange. Die hat dem Jungen ordentlich eingeheizt.«

Ich spüre ein Kribbeln in den Beinen. »Was meinen Sie damit?«

»Sie hat ihn öfter kritisiert.«

»Ich meine die Bohnenstange.«

Scharf lacht. »Ach so. Bolz ist eben lang und ziemlich dürr.«

»Wie war das Verhältnis zu den Aalener Fans in letzter Zeit?«, frage ich.

Neupert rümpft die Nase. »Die haben eine lange Geschichte miteinander. Freunde werden die sicher nie.« Davon bin ich überzeugt. »Haben sich getriezt, wo immer es ging.«

»Gab es in jüngerer Vergangenheit spezielle Vorfälle im Block?«, erkundigt sich Schröter.

»Außer dem Busenblitzer am Sonntag?«, lacht Scharf. »Konnte es nur aus der Entfernung sehen. Aber ich kann sagen: Einen BH brauchte die wirklich nicht.«

»Es gab genügend Vorfälle, aber nichts Herausstechendes«, meint Neupert. »Im Prinzip war Benzeler harmlos.«

Scharf schüttelt entschieden den Kopf. »Also, Kollegen, jetzt mal Klartext: Neupert gehört leider ein wenig zur Weichspüler-Fraktion und nimmt gewisse Tendenzen auf die leichte Schulter. Katrin Benzeler war definitiv ein subversives Element, das Gesetz und Ordnung für einen Witz hielt.« Neupert will etwas äußern, kommt aber nicht dazu. »Diese sogenannten Fans sehen das Stadion als ihre Spielwiese an, auf der sie sich austoben und am Wochenende Dampf ablassen können. Und am liebsten treiben sie schon auf dem Weg dorthin ihre Spielchen mit der Polizei.«

Ich sehe zu Neupert; er kommentiert die Aussage nicht. »Als Szenekundiger kennen Sie aber auch die Methoden der Gespenster«, sage ich, »und wissen, dass die diese Spielchen oft genug provozieren.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, antwortet Scharf schmatzend. Neuperts Gesichtszüge scheinen harscher zu werden.

Dann muss ich deutlicher werden. »Eskortieren der Fans in der Bahn, Empfänge von Fangruppen am Bahnhof in voller Ausrüstung, alles am besten noch mit Videoüberwachung. Leibesvisitationen friedfertiger Leute, willkürliches Herausziehen einzelner Personen, kollektives Einkesseln.«

»Mir kommen die Tränen. Sie werden den Einsatzleitern hoffentlich nicht verbieten, dass sie aus Fürsorge für ihre Mitarbeiter das Aufsetzen von Helmen anordnen. Dass die Ultras das in ihrer bierschwangeren Stimmung nicht nachvollziehen können, ist ja nicht deren Schuld. Jedenfalls haben sich Katrin Benzeler und der Boltz bei solchen Gelegenheiten oft genug mokiert und die Menge aufgewiegelt. Ist doch klar, dass man die als Erstes rauszieht.«

»Klingt aber nicht so, als ob man auf Dialog setzt«, meint Schröter.

Scharf kommt in Fahrt. »Kommunikation ist immer unser erstes Mittel. Aber mit denen ist doch nicht zu reden.« Er wendet sich an mich. »Und was die Einzelkontrollen angeht: Wenn Sie mir sagen, wie wir sonst das Hineinschmuggeln von Pyrotechnik oder Wurfgeschossen verhindern sollen, dann nur zu.«

Neupert wird unruhig auf seinem Platz. Mir geht es nicht anders. »Wollen wir uns nicht lieber auf das Opfer konzentrieren?«, wendet er ein, und Schröter und ich nicken.

»Das ist so eine Sache mit Opfern, die oft genug Täter waren«, muss Scharf noch nachsetzen.

»Jedenfalls gab es zwischen dem relativ neuen Capo und der Toten Querelen«, ignoriert Neupert seinen Vorgesetzten. »Das werden ihnen die Jungs des Fanprojekts sicher bestätigen. Es geht ja darum, wer das Sagen hat, die Macht im Fanblock. Und wenn ich das richtig deute, glänzte Benzeler nicht nur mit den besseren Ideen für Choreos, sondern war Boltz auch in den meisten anderen Dingen überlegen, zum Beispiel intellektuell.«

Ich blicke zu Scharf, kein Kommentar.

»Andererseits hat Uwe Boltz das bewusst genutzt: Benzeler schaffte es nicht nur immer wieder, uns auszutricksen, sondern war die kreative Ideenlieferantin, wenn es darum ging, den gegnerischen Fans eins auszuwischen. Die haben sich, wie wir, ab und an auf die Gruppe um den Capo konzentriert, und Cat konnte unterhalb des Radars agieren.«

Scharf schüttelt den Kopf. »Manchmal habe ich den Eindruck, du findest das witzig.« Er spuckt sich begleitet von einem ekelhaften Geräusch den Kaugummi in die Hand und wirft ihn in seine Kaffeetasse. »Wir konnten es ihr nicht nachweisen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es war, die sich letzte Saison in Sandhausen mit zwei weiteren Frauen von den Societas mitten in den gegnerischen Fanblock schlich, um dort rot-blaue Rauchtöpfe zu zünden. Fragen Sie mich nicht, wie.«

»Das hat denen sicher nicht besonders gefallen«, schmunzle ich. Scharf drückt sich ein neues Kaustück aus der Packung. Nikotinkaugummi.

Neupert erzählt uns noch weitere Beispiele, die zeigen, dass Cat in den letzten Jahren aufgerüstet hatte, nicht nur die SKBs und die Polizei mit kreativen Mitteln erfolgreich foppte, sondern auch die gegnerischen Fans. Dass sie sich damit einen Namen erwarb unter den heimischen Ultras wie in der Szene, ist verständlich, ebenso dass der Capo sich diese Ressource sicherte und ihre Beliebtheit für sich nutzte. Während Neuperts Schilderungen bleibt Scharf still, wenn auch nicht ruhig. Ich sehe genau, dass er innerlich kocht bei der ein oder anderen Geschichte. Überhaupt scheint er recht wenig Spaß zu verstehen.

Als wir uns für die Informationen und den delikaten Kaffee bedanken und den beiden Männern die Hände schütteln, zieht Scharf mich nochmals zu sich heran. »Wissen Sie, Frau Schätzle, ich bin auch Fußballfan. SSV Ulm.« Die mochten wir nie besonders. »Deshalb finde ich es so nervig, dass diese jungen Chaoten den Fußball kaputt machen. Ich würde am Wochenende viel lieber im Stadion sitzen und meine Mannschaft anfeuern. Stattdessen rauben uns die Ultras unsere wertvolle Freizeit.«

»Wenigstens sind Sie mit Ihrem Job trotzdem in einem Stadion.«

Er lächelt, meint es aber nicht so. »Man ist nicht Teil des Ereignisses.«

Kann ich mir vorstellen.

»Wissen Sie, was mir am meisten auf die Nerven geht an diesen sogenannten Fans? Dass die einfach keinen Anstand besitzen. Die wissen nicht, was sich gehört. Sie kommen mit Bus und Bahn schon betrunken in der Stadt an, halten auf dem Weg ins Stadion den ganzen Verkehr auf und binden dabei Einsatzkräfte, die eigentlich woanders gebraucht werden, pissen überall hin und stören normale Leute bei dem Genuss eines Fußballspiels.«

Ich frage ihn nicht, was genau er unter »normalen Leuten« versteht.

»Diese verzogenen Kids haben einfach keine Kinderstube. Weiß nicht, was die Eltern gemacht haben. Vermutlich gar nichts. Die sehen das Spielwochenende als Legitimation an, gegen alle gesellschaftlichen Regeln zu verstoßen, und sind dann erstaunt, dass nicht jeder Stadionbesucher ihre Ansicht teilt. Und wir Ordnungshüter eben auch nicht.«

Ich blicke zu Neupert, aber Scharf ist noch immer nicht fertig. »Katrin Benzeler zählte definitiv zu denen. Sie mochte es immer bunt und schrill. Ich hatte selbst einmal eine Auseinandersetzung mit ihr, vor einem halben Jahr vielleicht. Als sie ein Kollege der BFE angeblich zu hart anfasste. Dabei ist doch klar: Jeder Polizeibeamte ist gesetzlich dazu verpflichtet, Gefahren von Personen abzuwehren. Einen Spielraum gibt es da nicht.« Er sieht mich durchdringend an.

»Inwiefern zu hart angefasst, Herr Scharf?«

Ein kurzes Lachen schüttelt ihn. »Die haben uns bei ihrer Anreise nach Ulm an der Nase herumgeführt, sich anders als sonst auf mehrere Züge verteilt. Wir aber durchschauten es rechtzeitig, und eine Einheit der BFE konnte sie am letzten Bahnhof vor Ulm abfangen, ein paar bekannte Gesichter herausziehen. Und das Kätzchen haben sie im Einsatzwagen festgesetzt und schmoren lassen. Da hatte das Spiel schon längst begonnen. Als ich dazukam, saß sie nur in Höschen und T-Shirt bekleidet im Bus, sagte, sie müsse dringend mal pinkeln und die Kolleginnen hätten es ihr nur unter der Bedingung erlaubt, dass die sie rechts und links dabei sichern. Angeblich hätte sie so nicht gekonnt.« Er zieht die Achseln hoch, grinst frech.

»Ich hoffe, Sie haben das Ihren Vorgesetzten gemeldet«, antworte ich, und er lässt endlich meine feuchte Hand los.

Ockhams Rasiermesser oder der Kampf ums Faktische

»Hat sich bei ziemlich vielen unbeliebt gemacht, deine Freundin.«

Schröter und ich stehen mit verschränkten Armen an unsere Schreibtische gelehnt, glotzen zum Fenster hinaus, hinab auf die Schnaitheimer Straße. »L & L«. Lungern und Lauern. Die zwei großen Ls der Polizeiarbeit sind kriminalpolizeiliche Grundhaltungen. Wir lungern vor Haustüren, im Büro oder vor Gericht, lauern im Besprechungsraum, vor Akten, Fotos, Computern. Wir lungern und lauern vor dem Fall als Ganzem, belungern und belauern ihn und die Verdächtigen so lange, bis einer nachgibt.

»Scharf und Neupert sind bei jedem Spiel dabei, oder?«

Ich bin gedanklich woanders. Bei Cat, bei den Schwarzen Gespenstern und dabei, wie die mit uns umsprangen damals. Kann mir denken, dass das heute noch krasser ist. Schließlich wird nahezu alles immer krasser.

Ich muss an einen Tag denken, als Cat und ich zusammen mit unseren damaligen Kerlen im Fanbus nach Stuttgart saßen. Schon vor der Stadt wurden wir von einem Motorradpolizisten abgefangen und auf einen Parkplatz gelotst. Dort lauerten 40, 50 Polizisten der BFE auf uns. Als der Busfahrer die Türen öffnete, stürmte etwa ein Dutzend Polizisten mit Schlagstöcken herein, befahl den Stehenden, sich auf ihre Plätze zu setzen und sicherte den Gang. »Willkommen in Stuttgart«, brüllte einer. »Hände auf den Vordersitz! Wir führen eine Personenkontrolle durch und untersuchen diesen Bus auf Waffen und Pyrotechnik.« Jeder von uns wurde einzeln aus dem Bus geführt, musste seinen Namen in eine Kamera sprechen und den Personalausweis abgeben. Taschen ausleeren, Jacke ausziehen, Schuhe und Socken, sich an eine Mauer stellen, dann Leibesvisitation, bei um die null Grad. Bei Frauen wurde auch der BH kontrolliert. Danach ging es in einen Container, der vielleicht zehn mal zehn Meter groß war und sich nach und nach füllte mit bereits durchsuchten Fußballfans. Immer mehr baten darum, austreten zu dürfen, erhielten aber keine Erlaubnis. Die Kerle nutzten eine Ecke dafür. Und wir weiblichen Fans bettelten darum, auf die Bustoilette gehen zu dürfen. Durften wir nicht. Als die Gespenster uns endlich wieder aus dem Container herausließen, lagen in einer Plastikschale neben dem Eingang zum Bus zwei Chinaböller und ein wenig Rauchpulver. Und ich hatte mir in die Hosen gepisst.

»Da habt ihr einen richtig dicken Fang gemacht«, meinte Cat zu dem Beamten, der vorhin die lautstarke Rede gehalten hatte.

Als wir alle wieder auf unseren Plätzen saßen und der Bus losfuhr, zog Cat auf dem Sitz vor mir die Plastikstangen unseres neuen Societas-Banners an sich, schraubte an der unteren Seite den Pfropf der hohlen Stange ab und ließ schmunzelnd ein paar Pyros in ihre Hand gleiten. »Wie gut, dass unsere Ordnungshüter so wenig Fantasie besitzen.«

Johannes umarmte sie lachend. »Dir mache ich mal drei wunderhübsche Babys.«

Und Cat antwortete: »Wer sagt dir, dass ich drei Bälger will?«

»Also. Die rivalisierenden Ultras«, holt mich Schröter zurück ins Heute. »Sie feinden sich an.«

»Die putzen sich gegenseitig ein bisschen runter. Aber das sind Scheingefechte. Meistens.«

»Sie provozieren sich.«

»Ja. Sie werden fies. Klar. Eigentlich finden zwei Spiele statt im Stadion. Das auf dem Platz zwischen den Mannschaften und das am Spielfeldrand zwischen den Fanblocks. Manchmal verlierst du auf dem Platz, aber erzielst in der Kurve einen Achtungssieg.«

»Und wenn es eskaliert, gibt’s Dresche.«

Wenn man etwas nicht kennt, sieht man oft nur schwarz-weiß. Aber ja. Manchmal gerät es ein wenig aus dem Ruder.

»Es ist ein Spiel. Mehr nicht«, sage ich. »Auch in der Kurve. Man stichelt ein wenig gegen den Gegner oder übt Druck aus. Versucht, ihn zu provozieren und aus der Reserve zu locken. Macht ihn verbal runter.« Schröter sieht mich skeptisch an. »Auf dem Platz geschieht auch nichts anderes. Das ist Teil der Taktik. Psychologische Kriegsführung. Der Verteidiger steckt dem Stürmer gleich in den ersten Minuten, dass er ihm heute keinen Zentimeter gönnen wird. Tritt ihm zur Bekräftigung einmal ordentlich auf die Zehen oder gegen das Schienbein, zieht unauffällig an seinem Trikot, sodass der Schiri es nicht mitkriegt. Und sagt ihm dann, dass seine Mutter eine Hure ist.«

Schröter nickt. »Um ihn zu entmutigen.«

»Ganz genau. Den Schneid abkaufen.«

»Das ist nicht ernst gemeint. Auch nicht persönlich. Es geht nur darum, ihn nervös zu machen.«

Schröter mahlt mit seinem Unterkiefer. »Aber manchmal wird aus einem Spiel dann Ernst.«

»Jemand überspannt den Bogen, und plötzlich wird’s hässlich. Egal, ob auf dem Platz oder außerhalb.«

Schröter lässt das sacken. »Was war das für eine Geschichte mit den Schweinsköpfen und Aalen?«

Ich muss lachen. »Ach, gar nichts. Vor dem Derby zwischen Aalen und Heidenheim 2014 hatte nachts jemand vor den Heidenheimer Schlossarkaden einen abgetrennten Schweinekopf abgelegt, mitsamt einem blutigen Holzkreuz und einem Schild, auf dem stand: ›Dieses Schwein gründete den FCH‹.«

Schröters angeekeltem Gesicht nach zu urteilen findet er das nicht witzig.

»Man muss die Vorgeschichte kennen: Als es dem VFR Aalen finanziell ziemlich schlecht ging, war angeblich ein Anhänger des FC Heidenheim 1846 nach Aalen gefahren und hatte 18 Euro und 46 Cent in die Vereinskasse gespendet, mit dem Vermerk: ›Bitte sinnvoll verwenden für eure Vereinsauflösung.‹«

Jetzt muss Schröter doch lachen. »Ich verstehe. Provokation und Gegenprovokation. Irgendwie nur ein Spiel. Aber manchmal eskaliert es.«

»Ja. Gegebenenfalls erst in der dritten Halbzeit.«

Ich spiele an meinem Denkstummel. So ist das doch im Leben auch. Oder etwa nicht? Zunächst sind es freundschaftliche Kabbeleien, ein scherzhaftes Stupsen, Spielchen. Schattenboxen, verbal oder körperlich. Wie bei Kindern. Fällt dann eine Bemerkung zu bissig aus oder ein Tritt zu fest, eskaliert das Ganze. Menschliche Emotionen. Ob positiv, ob negativ, gut oder böse. Aus kleinen Dingen werden große. Die ersten Fouls sind noch harmlos. Erhöhen sich der Druck und der Adrenalinspiegel der Spieler, werden die Bandagen härter und die gegenseitigen Fouls auch. Die ersten Blutgrätschen folgen. Dann muss der Schiedsrichter aufpassen. Das Spiel wird härter. Gerät eine Mannschaft nun in Rückstand und damit zunehmend unter Druck, hagelt es die ersten gelben Karten. Nach einem richtig bösen Foul gehen einige Spieler sich gegenseitig an und eh man sich versieht, gibt’s auch mal eine auf die Fresse. Unsportliches Verhalten. Rote Karte.

So ist es auf dem Platz. Und in der Liebe eigentlich auch: Zwei Menschen schleichen umeinander herum, spielen mit mehr oder weniger großem Körpereinsatz. Doch dann wird’s plötzlich ernst, weil Emotionen ins Spiel kommen. Und später wird auch das wieder hässlich.

Spiel und Leben kann man nicht wirklich trennen. Nur schade, dass es im richtigen Leben keinen Schiedsrichter gibt.

»Dann erklär mir jetzt mal, wie du die Einschätzungen der Szenekundigen einordnest«, sagt Schröter.

»Also die von Scharf kannst du vergessen. Der Spießer checkt gar nichts.«

Schröter nickt.

»Du kriegst die Ultraszene nicht mit Draufhauen in den Griff. Die wollen Respekt, sonst mucken sie auf.«

»Respekt wofür?«

»Für das, was sie für den Verein leisten«, sage ich etwas zu scharf und zu laut. »Sie sind es, die die Stimmung im Stadion erzeugen, die Fußball als Stadionerlebnis erst attraktiv machen. Ohne sie wäre jedes Spiel ein Geisterspiel, weil da nur so Typen sitzen würden wie der Scharf. Stinklangweilig. Das wissen die Vereine ganz genau. Nur müssen die den Spagat hinkriegen zwischen dem Sitzpublikum und den Sponsoren auf der einen und den Ultras auf der anderen Seite.«

»Und was ist das für eine Geschichte mit der BFE?«

Ich rümpfe meine Nase. Die Gespenster sind ein Reizwort für mich, auch nach so langer Zeit. »Diese Einheiten sollen eigentlich die Fans trennen, deeskalieren und die aggressiven unter ihnen sichern.«

Schröter sieht mich eine Weile an. »Klingt doch sinnvoll.«

Ich muss lachen. »Wenn’s so einfach wäre. Nur arbeiten auch die Gespenster mit dem Prinzip Entmutigung. Das heißt, die marschieren auf, geben sich so martialisch, wie’s nur geht. Schüchtern ein. Zumindest fühlt es sich so an für manche Fans. Und nehmen alles von vorneweg bierernst.«

»Verstehe. Und Cat hat ein paar dieser Gestalten angezeigt.«

»Vermutlich, weil die sie zu hart angegangen sind.« Ich muss an meine vollgepisste Hose denken. Mein Gott, es gibt Schlimmeres. Aber angefressen war ich trotzdem damals. Und zwar nicht zu knapp. Manchmal denke ich, ich bin genau deshalb zur Polizei gegangen. Weil ich es anders machen wollte.

Schröter ist gedanklich bereits einen Schritt weiter. »Cat hatte einen eigenen Copy-Shop, sagst du«, fängt er mich wieder ein. Zu viele Assoziationen, zu viel Vergangenheit.

»Ja. Mit ein oder zwei Angestellten. Copy Cat. Ganz ehrlich: Ich fand, sie hätte viel mehr gekonnt. Nach dem Abi jobbte sie eine Zeit lang bei einem Logistikunternehmen, lieferte Pakete aus. Die haben ihr nach Kurzem schon einen Job als Teamleiterin angeboten. Aber sie lehnte ab. Mir erzählte sie, sie wolle Pilotin werden. Hat dann aber andere Sachen ausprobiert, immer wieder was Neues.«

Meine Cat. Sie hatte Pläne. Frage mich, ob sie die zuletzt noch immer hatte. Oder ob das eine oder andere Vorhaben auf der Strecke geblieben war wie bei den meisten. Das Leben schreitet voran, irgendwann realisierst du: Nun ist es zu spät. Geht mir ja auch nicht anders mit meinen 42 Jahren.

»Wird Johannes nicht gefallen haben, wenn er es wusste«, meine ich zu meinem Partner.

»Was? Wer?«, fragt Schröter.

»Schwanger.« Ich zeige zum Whiteboard, an dem Bilder von Cats Leiche kleben und auf dem wir vorhin mögliche Motive notiert haben. »Johannes Lederer. Ihr ehemaliger Freund.«

Schröter nickt.

»Cat war ein leichtsinniges Ding«, erkläre ich ihm. »Ließ nie was anbrennen. Das wusste Johannes damals schon. Aber er war sich ihrer sicher. Auch wenn sie ihn ein paarmal betrogen hat. Er sagte mir immer, das kümmere ihn nicht. Im Grunde ihres Herzens liebe sie ihn, und deshalb sei ihm das egal.«

»Sehr liberal.«

»Aber was ihre Mutter sagte, stimmt schon. Sie konnte sich nie entscheiden. Hat hundertmal ihre Arbeitsstelle gewechselt, bis sie sich irgendwann mit dem Copy-Shop selbstständig machte. Auch privat brauchte sie einfach immer was Neues. Den Kick.«

»Rastlos.«

»Ja. Und klar: Wenn Johannes ihr einen Antrag gemacht und sie ihn abgelehnt hat, dann führte das sicher zu Spannungen und irgendwann vermutlich zum Bruch. Er wollte sicher nicht ewig warten. Wünschte sich Kinder …«

»Er hat eine neue Beziehung, sagt Berti. Ist verlobt.«

Ich nicke. »Habe ich auch gehört. Aber das mit dem Kind … Könnte schon sein, dass ihn das mitnehmen würde. Wenn er es denn erfahren hätte.«

Das kotzt mich an in unserem Job: Die halbe Zeit reden wir im Konjunktiv. Das macht sonst niemand. Philosophen allenfalls. Oder theoretische Physiker.

Lauern eben. Man stelle sich mal vor, ein Koch oder Maurer oder Zahnarzt würde so reden: Also, da könnte ein Loch drin sein. Wenn ich da jetzt aufbohren würde, dann … Nein. Ergibt keinen Sinn. Nur bei uns. Verfluchte Potenzialität. Ein einziges Hirngewichse.

»Könnte sein, dass er es weiß.«

Ich blicke auf. Schröter nimmt ein Blatt mit einer Liste von seinem Tisch, in der Namen mehrmals markiert sind. »Die Technik konnte einen Teil der Handydaten analysieren. Sie hat in letzter Zeit öfter mit Lederer telefoniert und gechattet.«

»Bedeutet das, er könnte …?«

Schröter zuckt mit den Schultern. »Das, was wir haben, an Chats, gibt darüber keine Auskunft. Sie haben sich ein paarmal verabredet. Aber die WhatsApp-Nachrichten waren immer sehr knapp.«

Genau das ist die Scheiße. Dass wir am Anfang einer Ermittlung noch nicht ahnen, wo die Reise wirklich hingeht. Angenommen, Cat war von dem Falschen schwanger, das wäre eventuell ein Motiv: für den Vater, für den Ex, für einen neuen Lover. … Vielleicht hat sie sich aber auch mit einem gegnerischen Ultra angelegt, das sollten wir rausfinden … Oder diese Anzeigen gegen die Schwarzen Gespenster haben zu einer Eskalation geführt.

Man könnte unsere Arbeit als einen Kampf gegen die Masse des Denkbaren bezeichnen. Vielleicht sind wir umgekehrte Philosophen: Wir ringen gegen das Mögliche und um das Tatsächliche. Kämpfen um die Fakten. Ockhams Rasiermesser, habe ich einmal irgendwo gelesen. Reduktion des Potenziellen, solange, bis nur noch das Faktische übrig bleibt: die Wahrheit. Was für ein Wort. Aber die Philosophen benutzen es doch auch die ganze Zeit. Manchmal wünsche ich mir so sehr, ein Maurer zu sein. Da baut man eine Wand und die steht dann da. Wir dagegen? Wir sind nur Lügeneinreißer.

Schröter zuckt zusammen, als ich meine Ferse gegen den Bürotisch haue. »Abgerissener Heidekopf im Mund, arrangiert wie eine Schlafende. Das ist doch kein Zufall. Ich glaube nicht an ein persönliches Motiv. Das ist alles symbolisch, eine Inszenierung. Das tust du nicht, wenn du eifersüchtig bist, jemanden magst oder gemocht hast und ihn deshalb jetzt umso mehr hasst, gerade weil du ihn einmal gemocht hast.«

Schröter starrt mich an. »Aber es steckt ziemlich viel Wut dahinter. Drei Stiche. Und ihr wurde buchstäblich das Maul gestopft.«

»Und genau deshalb denke ich, dass es eher damit zu tun hat, dass Cat ein fanatischer FCH-Fan war.«

Mein Kollege starrt noch immer, hat aber schon wieder eine Weisheit auf der Zunge: »Sei entschlossen darin, deinen ersten Gedanken nötigenfalls zu verwerfen. Das sagte mein Ausbilder immer zu mir.« Das kann mein Hirn gerade nicht verarbeiten.

»Da ist noch etwas anderes«, meint Schröter. Er sieht wieder auf sein Papier mit den Markierungen. »Die Kollegen konnten keine dazu passenden Telefonate oder Chats rekonstruieren. Aber laut Bewegungsdaten war sie das letzte halbe Jahr öfters auf dem Siechenberg. Auch über Nacht.«

»Ach? Wo die alte Voith-Villa stand. Noble Gegend. Wo genau?«

»Wildstraße 46.«

»Und da wohnt wer?«

»Der Vizevorstand des FCH.«

»Werner Schneet?«

»Sieht so aus, als hätten sie eine Beziehung oder Affäre gehabt.«

Kann ich mir nicht vorstellen, aber … Ich gehe zu unserem Whiteboard, schreibe »Schneet« neben »Johannes Lederer« und »die Gespenster (BFE)«. »Hm. Wir sollten uns zuerst mit ihm unterhalten. Lederer steht direkt danach auf der Agenda.«

Johannes, noch so ein Gespräch mit der Vergangenheit. Mir wird schlecht bei dem Gedanken. Warum zieht mich eigentlich niemand ab von dem Fall? Ich bin verdammt noch mal gefangen! Ich meine befangen.

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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
305 s. 9 illüstrasyon
ISBN:
9783839267004
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