Kitabı oku: «Im Malstrom», sayfa 2

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Überhaupt das Volkseigentum! „Man kann aus den Betrieben noch viel mehr rausholen“, lehrte uns die Partei und die Werktätigen setzten die Losung um. So, wie sie sie verstanden. Zur Arbeit wurden wir sogar mit dem Bus gefahren. Zurück ebenfalls. Umsonst natürlich. Da waren aber wenigstens alle zur gleichen Zeit da. Und abends hörten alle zugleich auf. Wer wollte schon laufen? Das ganze hieß geregelte Arbeitszeit. Wo sind sie geblieben, die hart erkämpften Privilegien der Arbeiter?

Na ja, die Privilegien! Eigentlich müsste man ja anders fragen. Warum sollte es das noch geben? Damals verdienten ja fast alle das Gleiche, heute ist es nicht mehr ganz so. Und wer heute schon Arbeit hat, soll gefälligst sehen, wie er da hinkommt. Das ist nur gerecht. Die Arbeitslosen werden schließlich auch nicht umsonst kutschiert, um ihre Stütze abzuholen. Und früher, in der DDR, gab es das ja nicht: Arbeitslose und Arbeitsämter. Es geht etwas durcheinander, mein alter Freund, ich weiß das, aber versteh mich bitte, ich muss für mich selbst erst herausfinden, was uns 1989 eigentlich so plötzlich auf die Straße getrieben hat. Scheinbar war ja alles in Ordnung im Staat mit dem Saarländer an der Spitze. Wer einige Jahrzehnte später in der damaligen Presse, nicht nur der im Osten, nachliest, was da so berichtet wurde über das zehntgrößte Industrieland der Welt, wird den Eindruck jedenfalls bekommen.

Und dann plötzlich wollte es das alles so nicht mehr, das undankbare Volk, und begab sich auf die Straße, um Freiheit einzufordern. Ich auch und sogar besonders freudig. Freiheit bedeutete, dass es anders werden sollte im „real existierenden Sozialismus“. Was genau alles anders werden sollte, war nicht ganz klar. Nicht alles jedenfalls, aber vieles, und diesen Forderungen schlossen wir uns an. Wir, das waren die Werktätigen unseres Kombinats. Ich auch und meine Kumpels aus der Betriebselektrikerbrigade „Stromschnelle“, die ich leitete. „Auf nach Leipzig zur Demo“, scholl ein Ruf wie Donnerhall durch die Betriebe! Und wir fuhren demonstrieren! Ja, sogar nach Leipzig und auf eigene Kosten. Zum ersten Mal so richtig freiwillig, wenn ich mich recht erinnere, und sogar nach der regulären Arbeitszeit, am Anfang zumindest, und das war auch gewöhnungsbedürftig.

Wochenlang waren wir an jedem Montag in Leipzig um den Ring marschiert. Erst ein Häuflein voller Neugier, Mut und Angst zugleich, dann wurde daraus ein Haufen, bei dem die Angst nicht kleiner war, der Mut aber wurde größer und das Gefühl, etwas ändern zu können, mächtig. Zu vorletzt demonstrierte wirklich das Volk. Aber wie sagte schon ein schlitzohriger englischer Politiker? „England darf in einem Krieg jede Schlacht verlieren, nur die letzte nicht.“ Hätten wir das nur beherzigt. Was war das für ein herrliches Gefühl damals, den Schulterschluss der Unzufriedenen zu spüren und im Chor hinüberzurufen zu den Mächtigen, dass wir es sind, das Volk, das gehört werden wollte. Erst riefen wir leise, dann lauter, schließlich machtvoll: „WIR SIND DAS VOLK!“ Ein Volk riefen wir nicht. Damals nicht. Das kam später. Dieser Ruf war nicht der unsere. Wer von den Gutmenschen ihn übernommen und demagogisch eingebracht hat, wird wohl nicht mehr zu ermitteln sein. Übernommen hat derjenige oder diejenigen ihn jedenfalls von Hitler. Geprägt hat der den Begriff. Das ist erwiesen, wenn er es auch nicht in Gedanken an die Demos von ’89/​90 getan hat. Und zwar prägte er ihn am 4. Dezember 1930 in einer programmatisch, demagogischen Rede vor Studenten der Berliner Technischen Hochschule (abgedruckt: „Völkischer Beobachter“ vom 9. Dezember 1930). Doch das ist eine andere Geschichte. Überhaupt sollte man mit Begriffen nicht gar so spitzfindig umgehen. Schließlich ist auch die Wortschöpfung „Volksrepublik“ von Hitler. Den Begriff prägte er am 2. August 1938 in seiner Rede zum Richtfest der Neuen Reichskanzlei, gehalten in der damaligen Deutschlandhalle. Na ja, man kann ja nicht alles wissen als Lenker. Und wir, die einfachen Demonstranten, wollten nur, dass es besser wird. Nicht alles, aber vieles! Deshalb achteten wir nicht so genau auf Wortspiele. Hätten wir es nur beherzigt, dass wir es waren, das Volk, denn bald kam doch alles ganz anders.

III

Bevor ich weitererzähle, stelle ich mich vielleicht lieber erst vor. Nicht dir, mein Freund, denn du und ich, wir kennen uns. Vielleicht aber denen, die das doch einmal zufällig lesen! Vieles kann passieren. Meine letzte Chefin zum Beispiel, die hat mich sogar um ein Buch gebeten, sollte ich doch noch einmal eins schreiben. Nun, das schaffe ich jetzt nicht mehr. Solltest du aber vielleicht, oder sonst wer … dann vergesst sie bitte nicht.

Vorgestellt versteht man sich besser. Also, Heinrich Paschke ist mein im Pass eingetragener Name. Meine Freunde und Kollegen nennen mich Heinz. Meine mir angetraute Frau Gemahlin ebenfalls, nur manchmal, wenn sie wütend auf mich ist, nennt sie mich Heini. Das kam vor der Wende aber selten vor, denn wir waren ein glückliches Paar. Auch im ’89er Herbst noch, als diese Geschichte begann. Damals war ich 48 Jahre alt, meine geliebte Frau Jana fast 39 und unser gemeinsamer Sohn Waldemar 21. Der war unstrittig unser gemeinsam erschaffener, ein wenig renitenter, Sprössling. Bis auf seinen Namen. Den hatte er von seinem Großvater und ihn legte er am Tag seiner Volljährigkeit eigenmächtig ab. 150 Mark der DDR hatte die Namensänderung gekostet und geborgt hatte er sie sich unter scheinheiligen Vorwänden von eben diesem seinem Großvater, der ebenfalls Waldemar hieß und der nebenbei auch mein Vater war. Das vergaß er zwar manchmal und ich oft, denn lieben gelernt hatten wir uns nicht.

Durchgesetzt auf dem „Amt für Personenstandswesen“, wie in der DDR die Standesämter genannt wurden, hatte er die Namensänderung selbst, unser Waldemar. Das heißt fast. Seinen ihm von uns angedienten altdeutschen Namen wollte er nicht mehr tragen. Nein, wahrscheinlich nicht aus politischen Gründen, sondern aus Eitelkeit. „Wer heißt denn noch so, außer mir und meinem Opa?“ Was er da fragte, war auch nicht ganz falsch.

Heinrich wollte er künftig heißen. Das ist zwar auch ein altdeutscher Name, aber der Dramatiker Kleist hieß so, argumentierte Waldemar. Der Dichter Heine auch und der Schriftsteller Mann, einer von den vielen Manns, welcher genau, wusste er nicht, ebenfalls. Dass ich, sein treusorgender Vater, auch so hieß, spielte in seinen Überlegungen keine Rolle. Die altdeutsche Form von Heinrich wollte er natürlich nicht annehmen. Alles was deutsch war, war ihm suspekt. Das hatte er so in der Schule gelernt. Und dann war ihm noch untergekommen, dass auch Himmler so hieß, sagte er, und einige reaktionäre deutsche Kaiser ebenfalls. Nein, so heißen wollte er auch wiederum nicht. Waldemar wollte die englische Form des Namens, denn englisch sei so gut wie amerikanisch und was amerikanisch ist, ist okay, alles! „Henry“ wollte er sich deshalb künftig nennen. Dass das nicht nur der Name der, aus seiner Sicht, „fortschrittlichen“ Herren Kissinger und Ford war, sondern auch einiger genauso reaktionärer französischer Könige, störte ihn nicht weiter. Reaktionär waren für ihn sowieso nur Deutsche, die sich Heinrich nannten, nicht ausländische. Und französische, englische und besonders amerikanische Henrys überhaupt nicht, egal was und wer sie waren.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei seinem Namenswechsel spielte die 22-jährige „Sachbearbeiterin für Vornamensfragen“ beim „Amt für Personenstandswesen“ Bitterfeld, die auf den Namen Ilona Schön hörte. Die hatte er bei einem Subbotnik der FDJ kennengelernt. Ihn selbst fand die schöne Schön ganz okay, seinen Namen Waldemar aber „ätzend“. Der ist „wirklich echt blöd“! Den von ihm nach ihrem Vorschlag gewählten neuen Namen Henry fand sie „okay“, ihre gemeinsame Argumentation für die Änderung „geil“ und schließlich ihn selbst mit seinem neuen Namen richtig „sexy“. Ob der Namenswechsel genau dem damals geltenden Volkswillen entsprach oder mehr dem sich in der Vorwendezeit auch in der DDR schnell verwestlichenden Zeitgeist, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich hatte man in den Ämtern für Personenstandswesen der DDR keinen Nerv mehr, sich ungeliebten amerikanischen Namenswünschen mit aller Kraft zu verweigern! Jedenfalls bekam Waldemar mehr Hilfe bei der gewünschten Namensänderung, als es die „amtliche Pflicht“ von Ilona Schön gewesen wäre. Zusammen mit dem vom Großvater Waldemar geborgten und ihm bis heute schuldig gebliebenen Betrag von 150 Mark schufen beide Tatsachen. Das kommt vor, wenn ein Wille da ist, sind es gar zwei … na, wir wissen es inzwischen.

Der nun im Register gestrichene Name Waldemar unseres Erstgeborenen hatte allerdings einen etwas heiklen Hintergrund. Er war Bestandteil eines Deals zwischen meinem Vater, seiner von ihm wenig geliebten Schwiegertochter Jana und mir. Als der Namenswechsel und die ihn begleitenden Umstände schließlich ans Licht kamen, geriet Großvater Waldemar so in Zorn, dass er Jana und mir mit der Aufkündigung des besagten Deals und seinem undankbaren Enkel Waldemar, wegen arglistiger Täuschung, mit dem testamentarischen Ausschluss von der Erbfolge drohte.

Schließlich erklärte er noch, er werde beim Bürgermeister von Bitterfeld eine Eingabe gegen die „Ische Schön“ einreichen. Wegen Vorteilsnahme im Amt und so weiter. Außerdem bekam sie bei ihm Hausverbot. Das war aber eher eine hilflose Geste, denn Ilona hatte ihn zuvor wissen lassen, dass sie keineswegs die Absicht habe, mit einem Typen von Großvater, der auf den „echt blöden“ Namen Waldemar hörte, Umgang zu pflegen.

Das alles löste bei uns eine kurzfristige mittelschwere Familienkrise aus. Die konnte ich aber entschärfen, indem ich meinem Vater versprach, den neuen Namen Henry seines Enkels künftig nur gemeinsam mit seinem Geburtsnamen zu benutzen. Daran hielt ich eisern fest. Wort ist schließlich Wort. Doch wirklich wichtig waren bald weder der Deal zwischen mir und meinem Vater noch die Namensänderungsaffäre, denn die noch zu schildernden weltpolitischen Ereignisse überlagerten alles andere. Der einzig Leidtragende des Namensspektakels blieb zuletzt ich, denn mein altehrwürdiger Name Heinrich wurde neben Heinz und Heini nun auch noch durch Henry verstümmelt. Doch richtig gelitten habe auch ich nicht darunter.

Inzwischen nahmen die Montagsdemos und die Versammlungen mit endlosen Diskussionen über die Missstände im Staat DDR im Allgemeinen und speziell denen in unserer Firma meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Es nützte aber nichts. Langsam aber stetig änderte sich die Stoßrichtung unserer Bewegung. Wir alle spürten das, doch fanden wir dagegen kein Mittel. Niemand hatte so etwas wie Richtungskompetenz. Von außen drängten halbseidene Elemente mit populistischen Parolen nach vorn und gaben schließlich die Richtung vor. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bürger folgte ihnen willig. Damit entglitt uns die Entscheidung über unsere Zukunft. Von Treibenden wurden wir zu Getriebenen. Die Veränderungen im Land nahmen ein so rasantes Tempo auf, dass keine Zeit zum Denken blieb. Was war dagegen schon ein winziges Problem wie die Namensänderungsfrage unseres Sohnes?

Anfangs lief alles vorwärts. Wir wollten sie, die lange überfälligen Reformen. Die allgemeine kopflose Euphorie löste bei mir nur leise unterschwellige Ängste vor der Zukunft aus. Aber ich wusste natürlich auch, dass Menschen zwar Veränderungen herbeisehnen, zugleich aber immer Angst vor einer ungewissen Zukunft haben. Gesprochen habe ich darüber mit Kollegen nicht, denn allzu leicht konnte man bereits damals in Verdacht geraten, ein „Konterrevolutionär“ zu sein. Verzeihung, der Begriff war natürlich bereits veraltet. Jetzt hieß es „Ewig-Gestriger“. Gemeint war aber das Gleiche. Wir kannten ihn ja, den Begriff, den die jeweiligen Gutmenschen verwenden, um unerwünschte Mahner zum Schweigen zu bringen. Deshalb vor allem schien es zunächst so zu sein, dass ich der Einzige in unserer Firma war, den manchmal unterschwellige Ängste vor dem plötzlich erwachten Volkswillen überkamen. Jana lächelte nur sanft, wenn wir darüber sprachen. „Lass das Volk sich doch etwas von der Seele schreien. Die beruhigen sich wieder“, sagte sie, „oder hast du schon mal etwas von einer richtigen Revolution ohne Studenten gehört? Unsere jedenfalls sind ruhig und gehen nicht auf die Straße, sondern in die Disko.“

In der Tat, einige Studenten der Leipziger Universität, die damals noch den Namen Marx trug, beteiligten sich zwar an den Montagsdemos, aber wohl eher aus Neugier. Einige diskutierten auch untereinander in den Vorlesungspausen, doch am Studienablauf änderte sich nichts. Der akademische Nachwuchs, gewöhnlich das Hauptunruhepotential bei Revolutionen, spielte vor dem 9.

November 1989 in Leipzig nur eine beinahe passive Rolle. Der Forschungs- und Lehrkörper engagierte sich eigentlich überhaupt nicht. Vielleicht war es nur die Angst vor möglichen Folgen, vielleicht aber glaubte man auch nicht an den Sinn der Bewegung. Ich weiß, das darf man heute nicht mehr sagen, wie vieles andere auch nicht. Aber ich weiß es eben durch Jana, die dort arbeitete, als Slawistin. Es galt schon als mutig, wenn sich Studenten die Demonstration gelegentlich aus den Fenstern oder von der Plattform des „Uni-Riesen“ ansahen. Die stolze Universität stand in den aufkommenden Stürmen der Zeit wie ein Fels in der Brandung. Das beruhigte Jana zunächst, dann auch mich, meistens wenigstens. Wenn ohne Studenten keine richtige Revolution zustande kommt, sagte ich mir, dann wird das auch keine. Das ist auch besser so. Ein paar grundsätzliche Veränderungen im Staat herbeizurevoltieren, war ja notwendig und überfällig. Deshalb ging ich weiter zu den Versammlungen im Werk und fuhr mit zu den Montagsdemonstrationen nach Leipzig. Aber immer wieder pochte es warnend in meinem Hinterkopf und ich wusste nichts dagegen, als es mir selbst kleinzureden.

IV

Unser Sohn Waldemar Henry, wie ich ihn jetzt zu seinem Ärger nannte, war aktiv, glücklich mit seiner neuen Freundin, der Ische Ilona, und seinem selbstbestimmten Namen. Besonders aber mit den rasanten Veränderungen im Land. Gleich als es möglich war, wurde er in den ersten provisorischen Betriebsrat seiner Firma gewählt. Es ging aufwärts, dachte er. Doch wer hoch steigt, kann tief fallen. Nach einigen Monaten der Euphorie fiel er dann auch. Zunächst wieder zurück auf die Füße. Betriebsratsmitglied hin oder her, er gehörte zu den ersten, die freigesetzt wurden. Das war sogar noch einigermaßen logisch, diesmal aus Sicht der Gutmenschen, denn in den provisorischen Betriebsrat hatten sich auch einige Mitglieder der alten Betriebsgewerkschaftsleitung eingeschlichen. Das ging natürlich gar nicht, befand der neue Besitzer, als der Betrieb ihm gehörte. Außerdem war der Betriebsrat, wie bereits gesagt, ein Provisorium, also nur auf Zeit eingesetzt. Frei gewählt durch die Arbeitnehmer war er nicht! Gewählt zwar, aber so wie in der DDR üblich durch Handzeichen. Das reichte für einen Betriebsrat, den man brauchte, um mit seiner Zustimmung den Betrieb verkaufen zu können, für mehr aber nicht. Also arbeitete man zunächst ohne Betriebsrat. Einige Zeit später, Waldemar Henry war bereits geflogen, hätte theoretisch ein neuer Betriebsrat gewählt werden können. Ganz korrekt, in geheimer Wahl mit richtiger Urne. Doch dazu kam es dann leider nicht mehr. Der neue Inhaber war gerade dabei, die Firma abzuwickeln und ein Betriebsrat hätte dabei nur gestört. Notwendig war er auch so nicht mehr unbedingt, denn die Mehrzahl seiner potentiellen Wähler sahen sich ihren früheren Betrieb bereits von draußen an. Doch ich greife vor. Gehen wir noch einmal zurück zu unseren Vorwende-Lebensumständen.

Meine Frau Jana und ich waren schon früh, dank eines Tauschgeschäfts mit einer Tante und mit Assistenz der Betriebsgewerkschaftsleitung, Mitglieder einer Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) geworden und als solche inzwischen stolze Besitzer einer Vier-Zimmer-Neubauwohnung. 78 Mark Miete kostete sie uns monatlich, warm, versteht sich. Später, als im vereinten Vaterland das Licht aus der Sonnenuntergangsrichtung immer längere Schatten nach Osten zu werfen begann, würde man solche Wohnungen in den Medien verächtlich „Platte“ nennen. Klar, offensiv verächtlich machen musste sein. Wie hätte man sonst die wachsende Ostalgie bekämpfen sollen? Die entstand ja nun einmal nur, weil die undankbaren Ossis im Beitrittsgebiet manches anders vorgesetzt bekamen als von ihnen einst erwartet. Geschieht uns recht. Hätten wir doch besser zugehört in den politischen Veranstaltungen. Aber was soll es, in der DDR gab es ja auch nur die Farben Schwarz und Weiß, wenn uns etwas berichtet wurde aus dem goldigen Westen da drüben. Wer hätte da wissen können, was wahr und was Propaganda ist? Wohin so etwas führt, wissen wir jetzt allerdings!

Ach, fast hätte ich es vergessen, eine Reihengarage besaßen wir auch, ein echtes Privileg damals. Und darin stand ein achtzehn Jahre alter, weißer 353er Wartburg mit rotem Dach. Er war ein indirektes Geschenk meines Vaters Waldemar. Indirekt, weil er uns nicht das Auto und auch nicht das Geld dafür schenkte, sondern uns eine seiner parallel laufenden Bestellungen auf diesen Wagen abtrat. Als Gegenleistung verlangte er von uns nur, dass wir seinem ersten Enkel, falls wir einen solchen je zustande bringen würden, den vom Aussterben bedrohten Vornamen Waldemar geben. Dafür wollte er uns sogar das Geld, das wir wahrscheinlich allein für einen solchen Wagen auch nie zusammenbekommen hätten, mit einem günstigen Zinssatz von sechs Prozent vorschießen. Das war der bereits mehrfach angedeutete Deal. Jana wehrte sich zunächst heftig dagegen, doch als alle unsere Bekannten und Freunde ein Auto fuhren, siegte er schließlich, der Gruppendruck. Wir nahmen den angebotenen Kredit meines Vaters und auch die Anmeldung. Als es dann soweit war, ich glaube drei Jahre nach Waldemar Henrys Geburt, kauften wir ihn uns, den herbeigesehnten Wartburg, und zahlten den Kredit und die Zinsen in kleinen Raten fast bis zur Wende an meinen Vater ab. Unser Erstgeborener bekam den Namen Waldemar. Wort ist Wort, sagte ich der schmollenden Jana, bis sie sich fügte, aber mit der Faust in der Tasche.

Die uns versprochene Autobestellung, das droht in Vergessenheit zu geraten, stellte in der DDR schon einen Wert an sich dar. Sie war deshalb eine reale Gegenleistung bei dem Deal. Mein Vater hätte den Bestelltermin auch gut und gerne an andere verkaufen können. An Käufern mangelte es nicht, damals. Als Waldemar Henry mit seinem Wunsch zur Namensänderung vorstellig wurde, schämten wir uns zwar, seinerzeit darauf eingegangen zu sein. Doch dem Namensänderungswunsch konnten wir wegen der Treue zum Deal nicht zustimmen. Die setzte er, wie bereits berichtet, schließlich mit Hilfe der Sachbearbeiterin Schön beim Amt für Personenstandswesen Bitterfeld ohne unseren Segen durch.

Die Bestelllaufzeit für einen Wartburg betrug in jener Zeit ungefähr 16 Jahre. So lange im Voraus hatten wir uns nicht binden wollen, als es uns möglich gewesen wäre, eine Autobestellung aufzugeben. Und auf die Idee, es zu tun und damit später vielleicht zu handeln, kamen wir nicht. Richtiger, Jana und ich lehnten solche halbkriminellen Praktiken ab. Außerdem war da noch die Wohnung mit allem, was dazugehört, schließlich der im Anmarsch befindliche Nachwuchs. Dass Bestelldaten für ein Auto auf dem freien Markt gehandelt wurden im „real existierenden Sozialismus“ der DDR, ist Außenstehenden schwer zu erklären. Aber heute verstehen die einfachen Leute ja in der Regel auch nicht, wie man Steuern in Größenordnungen straflos hinterziehen kann. Für damalige Geschäftemacher war das normal, für heutige eben vieles andere. Und die Gegenleistung, dass unser Sohn den Namen seines Großvaters tragen sollte, kostete uns ja nichts und direkt ehrenrührig war der Deal auch nicht. Er belastete lediglich lange Zeit später das Verhältnis zwischen unserem Sohn und mir.

Mein Vater Waldemar allerdings kannte sich aus mit Geschäften hart am Rande der Legalität. Selbst hatte er manchmal sechs Autobestellungen gleichzeitig laufen, auf unterschiedliche Namen. Damit reduzierten sich rein rechnerisch die Bestelllaufzeiten für ihn oder für den, an den er den nahen Liefertermin verkaufte, von 16 auf unter drei Jahre. Kein schlechtes Geschäft, wenn man nicht die Autos kaufte, die Bestellungen dagegen an finanzkräftige Interessenten abtrat. Der Gewinn konnte ungefähr den Gegenwert eines Autos betragen. Je nach Skrupellosigkeit des Verkäufers und Bonität des Abnehmers. Das Problem bestand lediglich darin, Anmelder zu finden, die das Geschäftsmodell nicht selbst kannten. Mein Vater löste das mit Hilfe unserer Familie. Zwei Bestellungen liefen immer auf seinen Namen und den meiner Mutter, je zwei auf Janas Eltern, die, glaube ich, davon zunächst nichts ahnten. Danach sogar je eine auf uns, meine Frau Jana, mich und Waldemar Henry. Eine davon überließ uns schließlich Vater Waldemar, kostenlos, fügte er hinzu.

Na, Schwamm darüber. „Wer tüchtig ist, bekommt in jeder Gesellschaft seine Chance“, sagte mein Vater mit ironischem Nicken in meine Richtung. „Heute hat man leider dieses tolle Geschäftsmodell durch die Marktwirtschaft und die moralische Kurzlebigkeit der Westautos ruiniert“, bedauerte er nach der Wende. „Was waren das für tolle Zeiten, als man einen zehn Jahre gelaufenen Wartburg oder Trabant noch über dem ursprünglichen Neuwert verkaufen konnte“, schwärmte er. „Schade, aber alles hat seine Zeit. Dafür kann man heute leichter Steuern hinterziehen, Rentner betrügen, Firmen schleifen und den Gewinn einstreichen. Was war dagegen schon das Verkloppen eines Liefertermins?“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu, wenn ihm wieder einmal ein Deal gelungen war. „Schade, schade nur, dass die Wende nicht zwanzig Jahre früher gekommen ist“, sagte er bedauernd, „ich jedenfalls wäre heute Millionär!“

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