Kitabı oku: «Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020», sayfa 2

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Wer sich selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt

Während der vielen Jahre meiner regelmäßigen Zugreisen zwischen Linz und Bregenz fiel manche Fahrt auf einen Samstagvormittag – die verlässlich ruhigste Reisezeit der Woche. Häufig teilte ich einen Großraumwaggon mit nur drei oder vier Mitreisenden. Dabei beobachtete ich wiederholt, wie neu Zugestiegene hundert freie, bessere Plätze, fußfrei und mit Tisch, ignorierten, um programmiert und fremdgesteuert von ihrer Platzreservierung den schlechtesten Platz zu wählen – hinein in eine enge Zeile, vor die Fensterkonsole und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung!

Wenn der Kontakt zur Situation und zu sich selbst fehlt, finden weder die Umstände eines Orts noch die eigenen Bedürfnisse zu ihrem Recht, weder die inneren noch die äußeren Bedingungen. Wer sich aber selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt, ist offen für Verführung und fremde Führung. Das wirkt sich fatal auf Individuum und Gemeinschaft aus – und auf die Demokratie, denn was diese legitimiert und mit Leben füllt, sind Weltzugewandtheit, Anteilnahme und die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger.

Es sind diese Ferne zu den Dingen und unsere Fühllosigkeit, die uns stumm bleiben lassen vor dem Rückzug der Demokratie, der Verrohung der Sprache und dem Monogrün unserer sogenannten Wiesen, die uns untätig sein lassen angesichts der unfassbaren Banalisierung der städtischen Peripherien, des Insekten- und Vogelschwunds und des maßlosen Leids in Flüchtlingslagern.

Es gibt eine Daseinsform, die keine Rückkoppelung mit der Welt kennt, weder mit der persönlichen Geschichte noch mit der kollektiven. Psychologisch würde eine Existenz ohne wechselhafte Bezüge zur sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Wirklichkeit wohl als Autismus diagnostiziert, oder als Narzissmus – deren Beschaffenheit uns seit ihrer amerikanischen Personifizierung so drastisch vor Augen steht. In dieser Weise programmiert wird die äußere Welt zum schändlichen Abbild der inneren. Schon bei Hugo von Hofmannsthal ist nachzulesen: „Es ist den Menschen im Allgemeinen nicht gegeben, zu sehen, was ist.“7

Kaum treffender sind die Verhältnisse zu charakterisieren als mit dem vom 27. Februar 2014 aus Moskau überlieferten Geschehen: Nachdem sich nicht mehr geheim halten ließ, dass das Parlament der Krim gewaltsam besetzt worden war, stand die Frage im Raum: Gibt es Krieg? Unsicherheit und Angst waren zum Greifen, Hotelgäste wurden aufgefordert, die weitere Entwicklung im Haus abzuwarten. Ungläubig und verzweifelt war deren Reaktion: „Heißt das, wir können nicht shoppen gehen?“

Eingenommen von der eigenen Unersättlichkeit und der des Marktes,

im Hinterhalt der Werbung brainwashed,

verloren in virtuellen Welten,

gebannt von der Sorge um die eigene Existenz,

vom Kompensationsbedürfnis erlebter Bedeutungslosigkeit getrieben,

aufgelöst im Sog großer Ideen,

geblendet vom eigenen Wertemaßstab

und von Vorurteilen konditioniert,

bedrängt von Zielen und Ansprüchen,

im Fluchtreflex vor den misslichen Seiten des Lebens verheddert,

vereinnahmt von Selbstmitleid

oder versunken in Resignation,

wirr von medialer Dauerbeflutung,

vom Hass gegen fremdes Sein verzehrt,

von fremden Imponiergesten eingeschüchtert,

außer Atem gesetzt vom eigenen Stress,

von Ehrgeiz gejagt,

besetzt von Sehnsüchten und Gefühlsüberschwang und

gezerrt vom Hang und Zwang zur Weltverbesserung,

vom Aufmerksamkeitsgeheische ermüdet,

angestiftet von der Emotionalisierungswut des Boulevards,

absorbiert von faszinierenden Entdeckungen,

gefangen gehalten in Konzepten

und in Ideologien verrannt,

erschöpft von Ersatzhandlungen,

im Füllen innerer Leere ausgebrannt,

abgetaucht in der Permanentunterhaltung,

besessen von Verschwörungsfantasien,

elektrisiert vom Kitzel des Risikos,

vom eigenen Erfolg betört oder

gelähmt von der Angst, auf der Strecke zu bleiben,

geblendet von vermeintlicher oder echter Bedeutung,

und beherrscht vom ewigen „nicht genug“.

In der Gefangenschaft unserer persönlichen Konditionierung sind wir von uns selbst und von der Welt getrennt, von der Tiefe und Breite der Empfindungen, die das Leben intensiv machen und reich.

Ich spreche nicht von „den anderen“, sondern von mir und dem eigenen Erleben. Und ich nehme mich selbst nicht aus. Eine meiner Fallen liegt in einer Aufmerksamkeit, die mir meist zwei oder drei Schritte vorauseilt und sich nur widerstrebend einfangen lässt.

Dem Allernächsten und Konkretesten zugewandt

Ich war acht Jahre alt, als unser Lehrer Herr Schneider ab Dreikönig allmorgendlich die sich ändernde Uhrzeit, zu der die Morgensonne über dem Pfänder aufblitzte, an den linken Rand der Tafel schrieb. Diese stattliche, nüchterne Zahlenreihe ist noch heute von Begeisterung und meinem Staunen derart geladen, dass sie sich als Bild von Wandel und Wiederkehr tief und warm in meine Erinnerung gegraben hat.

Im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit wachsen Verantwortung und Verstehen. Sorgfältige Hinwendung und absichtsloses Wohlwollen lassen Leben erblühen: Seelen, Kinder, Gärten und die Welt.

Es ist diese Welt- und Daseinsnähe, die mir Franz Michael Felder so faszinierend macht, seine Wachsamkeit gegenüber sich selbst und der Welt, sein umfassendes und sentimentalitätsfreies Mitgefühl mit aller Existenz, seine unerschütterliche Klarheit im Benennen von Unrecht, seine ungebrochene Wahrheitsliebe. Bei Franz Michael Felder standen Theorie und Praxis, Denken und Tun in befruchtender Wechselwirkung. Trotz der vielen Grobheiten seines Schicksals, beständigen Leids und eines viel zu frühen Sterbens, das sich einem roten Faden gleich durch sein Leben zog, war Felder ein „im Leben Angekommener“. Darin, dass Franz Michael Felder zudem Ort, Zeit und die eigene Existenz und Empfindung so vollkommen zum Ausdruck zu bringen vermochte, liegt seine Bedeutung. Vielleicht heute mehr denn je. Und wir hier sollten uns gewahr sein, dass auch Lesen ein Leben aus zweiter Hand ist.

Ich danke für die Einladung und für die Zeit und Aufmerksamkeit, die Sie meinen Gedanken geschenkt haben.

__________

1 „Subsistenzwirtschaft oder Bedarfswirtschaft werden alle – vorwiegend landwirtschaftlichen – Wirtschaftsformen genannt, deren Produktionsziel weitestgehend die Selbstversorgung zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes einer Familie oder einer kleinen Gemeinschaft ist. Subsistenzwirtschaft umfasst auch die Erträge aus Jagen und Sammeln. […] Bei der traditionellen Subsistenzstrategie besteht keine Marktorientierung, keine ausgeprägte Arbeitsteilung und kein Profitstreben.“ Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Subsistenzwirtschaft [letzter Zugriff: 6.5.2020].

2 Michael Becker und Monika Brunner-Gaurek: Führer durch das Salzburger Freilichtmuseum. Salzburger Freilichtmuseum: Großgmain 2011 (= Veröffentlichung des Salzburger Freilichtmuseums; Bd. 18), S. 89.

3 Elias Canetti: Macht und Überleben (1962). In: Ders.: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 25 – 41, hier S. 25.

4 Lao Tse: Spruch 45. In: Ders.: Tao-Te-King. In der Übersetzung von Hans J. Knospe und Odette Brändli. Zürich: Diogenes 1990, [o. P.].

5 Luigi Pirandello: Die Riesen vom Berge. Die Mythen und andere späte Stücke. Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Richert. Mit einem Nachwort von Michael Roessner. Berlin: Propyläen 1997 (= Gesammelte Werke; Bd. 2), S. 273 – 343, hier S. 305.

6 Stefan Zweig: Phantastische Nacht. Novelle. Göttingen: LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag 2019, S. 8.

7 Hugo von Hofmannsthal: Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie. In: Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 173 – 186, hier S. 176.

Edition

BARBARA GLAUERT-HESSE

Yvan Goll.
Unveröffentlichte Gedichte und Tagebücher 1918 – 1940

Aus dem Nachlass von

Robert Warnebold

Gedichte 1918 – 1930

Abstieg

Jung schwang ich mich empor

Im Knochengebirg

Nach Göttern zu graben:

Viele Väter vor mir

Viele Söhne nach mir

Lockt der Granit.

Zum Übermut.

Doch bald

Wirft sie’s zurück

In leuchtendes Vergessen:

Rasch mit dem Wasserfall

Reisst sie’s hinab – –

Weise vom Sturz

Reich vom Verlust

Such ich die Menschen

Die ich zurückliess:

Ruhig

Erwart ich ihre dunkle Karawane

Ihre langsame

Karawane

Am Hügel lehnend

Den Kopf im roten Klee

Und – mit den Füssen im Bach

Des Himmels Bild

Zerschlagend

*

Und wende mich um

Ein Mensch unter Menschen

Von all dem Treiben

Nur einen roten Klee

Im Knopfloch

Bergwald

O Wald, du leuchtender lächelnder Freund

Mit grünem Moosbart

Von Sonne triefend und von Harz

Mit tausend Armen umarmend,

Mit tausend Händen verschwendend:

Ich brauche deine Güte!

Gib

Du Reichgeborener,

Goldäugiger, der wie ein Patriarch

Mit kleiner Erdbeerliebe sich umgibt

Und ein Ballett von Rehen unterhält

In der Waldmeisterlichtung –

Geheimniskundiger

Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt

Und greiser Eulen Weisheit lernte:

Du gib mir das Geleit

Bis ans Gebiet der Steine –

Und der Einsamkeit

Und zuversichtlicher

Beschreit ich dann den Weg

Des Einsamen.

Fels-Grat

Steig, steig

Und wär's umsonst!

Zehnmal gekreuzigt von der Sonne Nägeln

Und immer kleiner vor den Türen des Himmels

Du hängst am Rand der Erde – –

Und fehlt dein Fuss – fällst du ins Nichts hinauf.

Ein Tänzer musst du sein

Auf Spitzen balancierend

Nackt zwischen Tod und Tod

Der Stein ist los

Der Fels ist fremd

Du Mensch: was klopfst du an den Türen des Himmels?

Stumm

Fluch

Und überwind dein Herz

Gekreuzigt von der Sonne Nagel

Noch einmal fluch

Und überwinde Gott!

Gesang des Mädchens

1.

Streichle mich, Frühwind,

Betöre mich mit deinen Amseln,

Beströme mich mit deinem Lächeln.

Da steh ich

Schmal zitternd

Ein Mandelbäumchen

Mit blassen Blättchen,

Und unter deinen heimlichen Küssen,

Mannwind,

Reift mein rosa Gefühl

Und Durchduftet das Tal.

2.

Umschwalbe mich, Frühling,

Umlerche mich, Süsswind,

Ich bin deine Wiese

Erblüht und erkleet!

Ich minze den Bach,

Ich bächle das Wäldchen,

Ich nachte und monde

Dem Liebenden zu.

3.

Der Wölkinnen rosigste

Der Rosen wolkigste

Will ich dir sein!

Ganz hin geduftet

Deinem Rauschen,

O dass du mich umdornest

Und dunkel dich entadlerst

Und mir lächelst:

Unhimmlischer Gott!

Gletscher

In der pariser Morgue

Sah ich einmal die Toten eines Tags,

In Eissärgen zur Schau gestellt:

Ich suchte einen Freund

Und fand ein Dutzend …

So stand vor mir der Gletscher

Mit seinen Totenkammern:

Hier war der Götter Grabstatt

Hier sah ich vieler Morgenröten

Altgewordene Leichen

Und früher Riesen dauernde Skelette

Und dort auf einem weissen Felde

Vom Frühlingsföhn des Schnees gelockt

Lag eine Saat von kleinen grauen Vögeln

Die trunken aus dem Tal

Mit irren Schwingen

An ihren Traum

Geglaubt

Und dafür starben

Nachthütte

Erst in der Hütte

Ward’s wieder menschenwarm:

Es duftete nach herbem Holz

Nach liebem Feuer

Nach Frauenhaar!

Nun, seinen Sieg vergeuden!

Wie nur ein Gletscher im März

Hinrieseln

Hinsinken

Hinschmelzen

Aus allen Munden tropfen

Aus allen Augen weinen

Zergehen zu Tal

Zerrinnen zu Tiefe

Essen

Schlafen

Mensch sein

An der Schulter

Die vergänglich ist

Und zittert

Schlucht

Sind die Menschen für das Aug der Sterne

Das mit Feuerblicken

Sie erprobt:

Sind die Menschen mehr als ein Gekröse

Ein schattiges Geschlecht

Im Tanz der Wälder und der Städte?

Krone der Schöpfung!

Mit eckigen Köpfen

Mit Herzfehlern

Hungersnöten ausgesetzt

Und den schlimmeren Instinkten!

Dumpfe Gruppen mit Trommeln,

Müde Massen des Schweigens

Füllen die Plätze

Füllen die Häuser

Und arbeiten

Und arbeiten

Und arbeiten

Und wenn sie nicht arbeiten

Klagen sie

Klagen das Aug der Sterne an

Das sie ansieht

Und verlangen dass es ihnen helfe,

Und wissen nicht

Wozu es ihnen helfen soll

Wald

O Wald, mein bärtiger, reichgeborener Freund

Der funkelnd von Goldsmaragd

Mit tausend Armen und tausend Händen

Sein Alles ausstreut

Und immer freundlich ist.

Du Vie[l]gewaltiger

Der sich mit Kleinstem abgibt

Die Erdbeeren zu liebenden Herzen erzieht

Aus jedem Reh eine Tänzerin macht

In der waldmeisterduftenden Lichtung

Geheimniskundiger auch

Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt

Jedoch am glücklichsten

Wenn ein dummes Rotkehlchen

Die Tonleitern übt

Dass du mein Freund bist

Und mich den ersten Weg begleitest

Bis ans Gebiet der steinernen Einsamkeit

Wie zuversichtlich

Schreit ich aus!

Wald (2)

Du wirfst deinen nächtigen Mantel um mich

Legst Moos um meine Füsse

Legst Moos um meinen Mund

Und hältst den Schlag meines Herzens an!

Und doch gibst du mir keine Ruh:

Du Tausendäugiger!

Unheimlich ist mir deine Freundschaft!

Unheimlich deine väterliche Art:

Denn spielst du nicht mit der Angst der Rehe?

Verschweigst du nicht, du Tausendstimmiger,

Ein schreckliches Geheimnis

Mit deiner Eulen flügellosem Flug?

Geschehn nicht Morde

Am Mittaghang

Der rot von Erdbeeren brennt?

Was will die Wurzel,

Die nach mir rennt?

Ich fürchte mich vor deinem goldenen Lächeln

Vor deiner tiefen Tiere

Gottlosen Augen.

Gedichte 1930 – 1937

Ans Kreuz des Südens

Hast du mich angeschlagen

Nun leucht ich weiss – doch tot – diese

deine Nächte

*

* *

*

Plötzlich erschrak mein Körper

Inmitten der brennenden Rosen

Brannte er mit – ohne dich

Auteuil, 27.8.1933

Einen Tag und eine Nacht brauchte ich

Um zu begreifen

Dass Du es warst der an mein Herz klopfte

Stark war ich und gross

Wie im Gebirge

Wuchsen meine Schmerzen über die Welt hinaus

Das Linnen der Begrabenen presste meinen Leib

Die Starre der Vergessenen dörrte meine Glieder

Meine Augen waren leer wie die der Denkenden

Da traf dein Atem mich

Und ich erzitterte auf meiner Erde

Zarter als der Krokus auf den Gräbern im Frühlingswind

Leise rührtest du mich an

Setztest sanft mir neue Augen ein

Meine Brüste wurden spitz von der Berührung des Engels.

Schwach bin ich nun

Erschrocken und stumm

Starr ich mit deiner Sehkraft

Ins Antlitz der Verheissung

Zögere nicht länger

Du der über mich schwebt

Spüre mein tödliches Zittern

Stoss herab o mein Gott

Komm!

Hochsommerlied

O dein Mohnblut

Im Gewoge des Hafers

Blaue Krone des Korns

Die zum König mich kürt

O du silberner Rittersporn

Der die Lenden mir schürt

Blühende Dornenhecke

Dach meines Schlafes

Dein Sommersonnengesicht

Mir Atem mir Speise mir Licht

Iwan

21. Juni 1938

Hügelwiese

Nur einmal noch –

Bevor der Berg beginnt –

Den Kopf an deine traumduftende

Hüfte schmiegen

Das Haar mit Veilchengras vermischt

Und im Geruch der Urgeburt versunken –

Mutter! Mutter!

Die ich verschrie,

Niedere, Dienende,

Die ich verschmähte,

Die Wäsche wusch

Im Acker grub

Und nach dem Regen fragte –

Mutter, Demutsmutter, Demeter

Hier hier vor meinem Gang zu Gott

Knie ich zu deinen Knien

Und esse deinen Staub

Weib, Leib, Erde!

Ich lass fallen von mir

Jahr um Jahr

Wie der Platanenbaum seine Rinden.

Langsam von der Stirn

Löst sich das seidne Gelock

Und der Geliebten

Rötliches Lied entweht.

Immer nackter wird meine Brust

Immer einsamer mein Mund

Immer grösser wird der Himmel

Da die Augen mir

Übergehn

Klage auf Delos

O käme jetzt die Amazone

Noch den Galopp des Mustangs in den Hüften

Und blutnass die Gelenke

Von der gerade tobenden Schlacht:

Sie würde mich retten,

Nachtschattengefangene!

Aber der Wind

Findet den Weg zu mir nicht mehr,

Die rosablaue Dämmerung

Erstickt mich unter dem seidenen Zelt.

Vom Himmel hängt die Ampel

Die offenmündige Dattura

Und mischt die Düfte des Todes

In meinen Atem.

Dort brennt die rote Schlacht,

O klirrende Amazone

Und dein Geschwader aufgeschäumter Pferde

Sprengt Blitze in den Abend.

Ich sehe deine rauchende Schulter

Verwegene Heldin, fern!

Mir aber steckt das Beil des Monds im Fleisch

Und meine Mattheit ruft

Die Tiere der Trauer schon:

Die grossäugigen Sphinxe

Und den bekreuzten Totenkopf,

Indessen die Fledermäuse

Mir schon die schwarzen Gehänge weben.

Mein grosser Häuptling

Ich danke dir dass du bist!

Ein wildes Fest muss ich feiern

Toben einen neuen Tanz

Und opfern dem Schöpfer

Der uns dein starkes Herz

Erstrahlen liess:

Palu!

Du bist der erste Mensch

Der ersten Tage

Des erhabenen Jahrhunderts!

Zur Führerin geboren

Des geistigen Geschlechts

Das doppelseelisch ist!

Das 33. Jahr

Das Jahr, in dem die Dichterpropheten

Den einsamen Berg ersteigen

Um die Sonne herabzuholen

Den bangenden Menschen!

Ich stehe an seinem Fuss

Bereit deine Botschaft zu künden

Wana

Paris, 5. 1. 1933

Wind

Da plötzlich löst ein Einzelner

Vom Zuge sich:

Sprach mich wer an?

Blickte ein Weib?

Nein

Ein

Flüchtiger

Flüssiger

Wind

Fuhr in mein Haar

Umschlang meinen Hals –

Ich hob das Haupt

Sah eine Sonne

Eine goldene Wolke

Ein Dreieck von Störchen

Rudernd gen Nord-Südwärts:

Und ich ihnen nach

Ihnen nach

Zehn Welt tief unter uns

Donnert die Untergrund

Zehn Himmel über uns

Schwirrt der Schneemöwenschwarm

Planetenwärts –

Was wissen wir vom Streben unsrer Kniee?

Was vom Altern unsres Haars?

Wir halten uns

In Höhe unserer schmalen Augen

Nichtachtend der Welten

Über und unter

Für Paula, 2. März 1931



Bericht

Bei den vorliegenden Gedichten handelt es sich um elf Gedichte von Yvan Goll (1891 – 1950) aus der Zeit von 1918 bis 1930 und um zehn Gedichte, die auf die Jahre von 1930 bis 1937 datiert werden können. Ein Gedicht, Croix de Lorraine, stammt von 1940 und wurde 1944 erstveröffentlicht. Siebzehn Gedichte sind bisher unveröffentlicht. Die bereits veröffentlichten Gedichte wurden schon im Jahr 2013 in die zweibändige Briefedition Claire Goll, Yvan Goll und Paula Ludwig, „Nur einmal noch werd ich dir untreu sein“. Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966, herausgegeben von Barbara Glauert-Hesse (Göttingen: Wallstein Verlag) aufgenommen. Mit dieser Veröffentlichung sind alle bekannten und erhaltenen Gedichte Yvan Golls in seinem veröffentlichten Werk versammelt. Sie stammen aus einem von Robert Warnebold (1934 – 2018) überlieferten Konvolut, das sich im Nachlass des Darmstädter Buchhändlers befand. Robert Warnebold war mit Paula Ludwig (1900 – 1974) und ihrem Sohn Friedel Ludwig (1917 – 2007) befreundet. Beide lebten ab dem Jahr 1970 ebenfalls in Darmstadt. Diese Freundschaft ermöglichte Robert Warnebold, seine umfangreichen Textsammlungen zu Paula Ludwig und Yvan Goll durch handschriftliche Zeugnisse zu erweitern. So kamen diese Autographen vermutlich durch Schenkungen, aber auch durch Ankauf in seinen Besitz. Im Zuge der Übernahme von großen Teilen der Warnebold‘schen Sammlungen zu Goll und Ludwig durch das Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek in den Jahren 2018 und 2019 kamen auch diese unveröffentlichten Texte von Yvan Goll nach Bregenz, die hier nun erstmals publiziert werden können. Ich danke dem Leiter des Archivs, Jürgen Thaler, dass er mich eingeladen hat, diese Editionsarbeit zu leisten. Meine langjährige Tätigkeit als Rundfunkredakteurin und Verlagslektorin in Mainz und Frankfurt führte mich schon nach dem Studium der Germanistik und der Amerikanistik in Mainz, Berlin und der University of Colorado in Boulder, Colorado, USA, im Jahr 1969 nach Paris zu Claire Goll. Im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft katalogisierte ich von 1969 an gemeinsam mit Claire Goll dort den Nachlass von Yvan Goll. Nach ihrem Tod 1977 setzte ich diese Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und im Yvan und Claire Goll-Archiv der Bibliothèque Municipale in Saint-Dié-des-Vosges, Frankreich, fort. Seit 1988 ediere ich die Gesamtwerke beider Dichter. Sie werden seitdem im Wallstein Verlag, Göttingen, veröffentlicht. Die Datierungen der noch unveröffentlichten Gedichte stammen – soweit sie nicht bereits bekannt waren – von der Herausgeberin. Zur Datierung herangezogen wurde eine private Gedichtedatei, die alle veröffentlichten Gedichte Golls umfasst sowie die von Andreas Kramer und Robert Vilain erstellte Bibliographie Yvan Goll – A Bibliography of the Primary Works (Peter Lang: Oxford-Bern-Berlin-Bruxelles-New York-Wien 2006).

Türler ve etiketler

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465 s. 10 illüstrasyon
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9783706561198
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