Kitabı oku: «Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020», sayfa 2
Wer sich selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt
Während der vielen Jahre meiner regelmäßigen Zugreisen zwischen Linz und Bregenz fiel manche Fahrt auf einen Samstagvormittag – die verlässlich ruhigste Reisezeit der Woche. Häufig teilte ich einen Großraumwaggon mit nur drei oder vier Mitreisenden. Dabei beobachtete ich wiederholt, wie neu Zugestiegene hundert freie, bessere Plätze, fußfrei und mit Tisch, ignorierten, um programmiert und fremdgesteuert von ihrer Platzreservierung den schlechtesten Platz zu wählen – hinein in eine enge Zeile, vor die Fensterkonsole und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung!
Wenn der Kontakt zur Situation und zu sich selbst fehlt, finden weder die Umstände eines Orts noch die eigenen Bedürfnisse zu ihrem Recht, weder die inneren noch die äußeren Bedingungen. Wer sich aber selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt, ist offen für Verführung und fremde Führung. Das wirkt sich fatal auf Individuum und Gemeinschaft aus – und auf die Demokratie, denn was diese legitimiert und mit Leben füllt, sind Weltzugewandtheit, Anteilnahme und die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger.
Es sind diese Ferne zu den Dingen und unsere Fühllosigkeit, die uns stumm bleiben lassen vor dem Rückzug der Demokratie, der Verrohung der Sprache und dem Monogrün unserer sogenannten Wiesen, die uns untätig sein lassen angesichts der unfassbaren Banalisierung der städtischen Peripherien, des Insekten- und Vogelschwunds und des maßlosen Leids in Flüchtlingslagern.
Es gibt eine Daseinsform, die keine Rückkoppelung mit der Welt kennt, weder mit der persönlichen Geschichte noch mit der kollektiven. Psychologisch würde eine Existenz ohne wechselhafte Bezüge zur sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Wirklichkeit wohl als Autismus diagnostiziert, oder als Narzissmus – deren Beschaffenheit uns seit ihrer amerikanischen Personifizierung so drastisch vor Augen steht. In dieser Weise programmiert wird die äußere Welt zum schändlichen Abbild der inneren. Schon bei Hugo von Hofmannsthal ist nachzulesen: „Es ist den Menschen im Allgemeinen nicht gegeben, zu sehen, was ist.“7
Kaum treffender sind die Verhältnisse zu charakterisieren als mit dem vom 27. Februar 2014 aus Moskau überlieferten Geschehen: Nachdem sich nicht mehr geheim halten ließ, dass das Parlament der Krim gewaltsam besetzt worden war, stand die Frage im Raum: Gibt es Krieg? Unsicherheit und Angst waren zum Greifen, Hotelgäste wurden aufgefordert, die weitere Entwicklung im Haus abzuwarten. Ungläubig und verzweifelt war deren Reaktion: „Heißt das, wir können nicht shoppen gehen?“
Eingenommen von der eigenen Unersättlichkeit und der des Marktes,
im Hinterhalt der Werbung brainwashed,
verloren in virtuellen Welten,
gebannt von der Sorge um die eigene Existenz,
vom Kompensationsbedürfnis erlebter Bedeutungslosigkeit getrieben,
aufgelöst im Sog großer Ideen,
geblendet vom eigenen Wertemaßstab
und von Vorurteilen konditioniert,
bedrängt von Zielen und Ansprüchen,
im Fluchtreflex vor den misslichen Seiten des Lebens verheddert,
vereinnahmt von Selbstmitleid
oder versunken in Resignation,
wirr von medialer Dauerbeflutung,
vom Hass gegen fremdes Sein verzehrt,
von fremden Imponiergesten eingeschüchtert,
außer Atem gesetzt vom eigenen Stress,
von Ehrgeiz gejagt,
besetzt von Sehnsüchten und Gefühlsüberschwang und
gezerrt vom Hang und Zwang zur Weltverbesserung,
vom Aufmerksamkeitsgeheische ermüdet,
angestiftet von der Emotionalisierungswut des Boulevards,
absorbiert von faszinierenden Entdeckungen,
gefangen gehalten in Konzepten
und in Ideologien verrannt,
erschöpft von Ersatzhandlungen,
im Füllen innerer Leere ausgebrannt,
abgetaucht in der Permanentunterhaltung,
besessen von Verschwörungsfantasien,
elektrisiert vom Kitzel des Risikos,
vom eigenen Erfolg betört oder
gelähmt von der Angst, auf der Strecke zu bleiben,
geblendet von vermeintlicher oder echter Bedeutung,
und beherrscht vom ewigen „nicht genug“.
In der Gefangenschaft unserer persönlichen Konditionierung sind wir von uns selbst und von der Welt getrennt, von der Tiefe und Breite der Empfindungen, die das Leben intensiv machen und reich.
Ich spreche nicht von „den anderen“, sondern von mir und dem eigenen Erleben. Und ich nehme mich selbst nicht aus. Eine meiner Fallen liegt in einer Aufmerksamkeit, die mir meist zwei oder drei Schritte vorauseilt und sich nur widerstrebend einfangen lässt.
Dem Allernächsten und Konkretesten zugewandt
Ich war acht Jahre alt, als unser Lehrer Herr Schneider ab Dreikönig allmorgendlich die sich ändernde Uhrzeit, zu der die Morgensonne über dem Pfänder aufblitzte, an den linken Rand der Tafel schrieb. Diese stattliche, nüchterne Zahlenreihe ist noch heute von Begeisterung und meinem Staunen derart geladen, dass sie sich als Bild von Wandel und Wiederkehr tief und warm in meine Erinnerung gegraben hat.
Im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit wachsen Verantwortung und Verstehen. Sorgfältige Hinwendung und absichtsloses Wohlwollen lassen Leben erblühen: Seelen, Kinder, Gärten und die Welt.
Es ist diese Welt- und Daseinsnähe, die mir Franz Michael Felder so faszinierend macht, seine Wachsamkeit gegenüber sich selbst und der Welt, sein umfassendes und sentimentalitätsfreies Mitgefühl mit aller Existenz, seine unerschütterliche Klarheit im Benennen von Unrecht, seine ungebrochene Wahrheitsliebe. Bei Franz Michael Felder standen Theorie und Praxis, Denken und Tun in befruchtender Wechselwirkung. Trotz der vielen Grobheiten seines Schicksals, beständigen Leids und eines viel zu frühen Sterbens, das sich einem roten Faden gleich durch sein Leben zog, war Felder ein „im Leben Angekommener“. Darin, dass Franz Michael Felder zudem Ort, Zeit und die eigene Existenz und Empfindung so vollkommen zum Ausdruck zu bringen vermochte, liegt seine Bedeutung. Vielleicht heute mehr denn je. Und wir hier sollten uns gewahr sein, dass auch Lesen ein Leben aus zweiter Hand ist.
Ich danke für die Einladung und für die Zeit und Aufmerksamkeit, die Sie meinen Gedanken geschenkt haben.
__________
1 „Subsistenzwirtschaft oder Bedarfswirtschaft werden alle – vorwiegend landwirtschaftlichen – Wirtschaftsformen genannt, deren Produktionsziel weitestgehend die Selbstversorgung zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes einer Familie oder einer kleinen Gemeinschaft ist. Subsistenzwirtschaft umfasst auch die Erträge aus Jagen und Sammeln. […] Bei der traditionellen Subsistenzstrategie besteht keine Marktorientierung, keine ausgeprägte Arbeitsteilung und kein Profitstreben.“ Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Subsistenzwirtschaft [letzter Zugriff: 6.5.2020].
2 Michael Becker und Monika Brunner-Gaurek: Führer durch das Salzburger Freilichtmuseum. Salzburger Freilichtmuseum: Großgmain 2011 (= Veröffentlichung des Salzburger Freilichtmuseums; Bd. 18), S. 89.
3 Elias Canetti: Macht und Überleben (1962). In: Ders.: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 25 – 41, hier S. 25.
4 Lao Tse: Spruch 45. In: Ders.: Tao-Te-King. In der Übersetzung von Hans J. Knospe und Odette Brändli. Zürich: Diogenes 1990, [o. P.].
5 Luigi Pirandello: Die Riesen vom Berge. Die Mythen und andere späte Stücke. Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Richert. Mit einem Nachwort von Michael Roessner. Berlin: Propyläen 1997 (= Gesammelte Werke; Bd. 2), S. 273 – 343, hier S. 305.
6 Stefan Zweig: Phantastische Nacht. Novelle. Göttingen: LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag 2019, S. 8.
7 Hugo von Hofmannsthal: Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie. In: Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 173 – 186, hier S. 176.
Edition
BARBARA GLAUERT-HESSE
Yvan Goll.
Unveröffentlichte Gedichte und Tagebücher 1918 – 1940
Aus dem Nachlass von
Robert Warnebold
Gedichte 1918 – 1930
Abstieg
Jung schwang ich mich empor
Im Knochengebirg
Nach Göttern zu graben:
Viele Väter vor mir
Viele Söhne nach mir
Lockt der Granit.
Zum Übermut.
Doch bald
Wirft sie’s zurück
In leuchtendes Vergessen:
Rasch mit dem Wasserfall
Reisst sie’s hinab – –
Weise vom Sturz
Reich vom Verlust
Such ich die Menschen
Die ich zurückliess:
Ruhig
Erwart ich ihre dunkle Karawane
Ihre langsame
Karawane
Am Hügel lehnend
Den Kopf im roten Klee
Und – mit den Füssen im Bach
Des Himmels Bild
Zerschlagend
*
Und wende mich um
Ein Mensch unter Menschen
Von all dem Treiben
Nur einen roten Klee
Im Knopfloch
Bergwald
O Wald, du leuchtender lächelnder Freund
Mit grünem Moosbart
Von Sonne triefend und von Harz
Mit tausend Armen umarmend,
Mit tausend Händen verschwendend:
Ich brauche deine Güte!
Gib
Du Reichgeborener,
Goldäugiger, der wie ein Patriarch
Mit kleiner Erdbeerliebe sich umgibt
Und ein Ballett von Rehen unterhält
In der Waldmeisterlichtung –
Geheimniskundiger
Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt
Und greiser Eulen Weisheit lernte:
Du gib mir das Geleit
Bis ans Gebiet der Steine –
Und der Einsamkeit
Und zuversichtlicher
Beschreit ich dann den Weg
Des Einsamen.
Fels-Grat
Steig, steig
Und wär's umsonst!
Zehnmal gekreuzigt von der Sonne Nägeln
Und immer kleiner vor den Türen des Himmels
Du hängst am Rand der Erde – –
Und fehlt dein Fuss – fällst du ins Nichts hinauf.
Ein Tänzer musst du sein
Auf Spitzen balancierend
Nackt zwischen Tod und Tod
Der Stein ist los
Der Fels ist fremd
Du Mensch: was klopfst du an den Türen des Himmels?
Stumm
Fluch
Und überwind dein Herz
Gekreuzigt von der Sonne Nagel
Noch einmal fluch
Und überwinde Gott!
Gesang des Mädchens
1.
Streichle mich, Frühwind,
Betöre mich mit deinen Amseln,
Beströme mich mit deinem Lächeln.
Da steh ich
Schmal zitternd
Ein Mandelbäumchen
Mit blassen Blättchen,
Und unter deinen heimlichen Küssen,
Mannwind,
Reift mein rosa Gefühl
Und Durchduftet das Tal.
2.
Umschwalbe mich, Frühling,
Umlerche mich, Süsswind,
Ich bin deine Wiese
Erblüht und erkleet!
Ich minze den Bach,
Ich bächle das Wäldchen,
Ich nachte und monde
Dem Liebenden zu.
3.
Der Wölkinnen rosigste
Der Rosen wolkigste
Will ich dir sein!
Ganz hin geduftet
Deinem Rauschen,
O dass du mich umdornest
Und dunkel dich entadlerst
Und mir lächelst:
Unhimmlischer Gott!
Gletscher
In der pariser Morgue
Sah ich einmal die Toten eines Tags,
In Eissärgen zur Schau gestellt:
Ich suchte einen Freund
Und fand ein Dutzend …
So stand vor mir der Gletscher
Mit seinen Totenkammern:
Hier war der Götter Grabstatt
Hier sah ich vieler Morgenröten
Altgewordene Leichen
Und früher Riesen dauernde Skelette
Und dort auf einem weissen Felde
Vom Frühlingsföhn des Schnees gelockt
Lag eine Saat von kleinen grauen Vögeln
Die trunken aus dem Tal
Mit irren Schwingen
An ihren Traum
Geglaubt
Und dafür starben
Nachthütte
Erst in der Hütte
Ward’s wieder menschenwarm:
Es duftete nach herbem Holz
Nach liebem Feuer
Nach Frauenhaar!
Nun, seinen Sieg vergeuden!
Wie nur ein Gletscher im März
Hinrieseln
Hinsinken
Hinschmelzen
Aus allen Munden tropfen
Aus allen Augen weinen
Zergehen zu Tal
Zerrinnen zu Tiefe
Essen
Schlafen
Mensch sein
An der Schulter
Die vergänglich ist
Und zittert
Schlucht
Sind die Menschen für das Aug der Sterne
Das mit Feuerblicken
Sie erprobt:
Sind die Menschen mehr als ein Gekröse
Ein schattiges Geschlecht
Im Tanz der Wälder und der Städte?
Krone der Schöpfung!
Mit eckigen Köpfen
Mit Herzfehlern
Hungersnöten ausgesetzt
Und den schlimmeren Instinkten!
Dumpfe Gruppen mit Trommeln,
Müde Massen des Schweigens
Füllen die Plätze
Füllen die Häuser
Und arbeiten
Und arbeiten
Und arbeiten
Und wenn sie nicht arbeiten
Klagen sie
Klagen das Aug der Sterne an
Das sie ansieht
Und verlangen dass es ihnen helfe,
Und wissen nicht
Wozu es ihnen helfen soll
Wald
O Wald, mein bärtiger, reichgeborener Freund
Der funkelnd von Goldsmaragd
Mit tausend Armen und tausend Händen
Sein Alles ausstreut
Und immer freundlich ist.
Du Vie[l]gewaltiger
Der sich mit Kleinstem abgibt
Die Erdbeeren zu liebenden Herzen erzieht
Aus jedem Reh eine Tänzerin macht
In der waldmeisterduftenden Lichtung
Geheimniskundiger auch
Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt
Jedoch am glücklichsten
Wenn ein dummes Rotkehlchen
Die Tonleitern übt
Dass du mein Freund bist
Und mich den ersten Weg begleitest
Bis ans Gebiet der steinernen Einsamkeit
Wie zuversichtlich
Schreit ich aus!
Wald (2)
Du wirfst deinen nächtigen Mantel um mich
Legst Moos um meine Füsse
Legst Moos um meinen Mund
Und hältst den Schlag meines Herzens an!
Und doch gibst du mir keine Ruh:
Du Tausendäugiger!
Unheimlich ist mir deine Freundschaft!
Unheimlich deine väterliche Art:
Denn spielst du nicht mit der Angst der Rehe?
Verschweigst du nicht, du Tausendstimmiger,
Ein schreckliches Geheimnis
Mit deiner Eulen flügellosem Flug?
Geschehn nicht Morde
Am Mittaghang
Der rot von Erdbeeren brennt?
Was will die Wurzel,
Die nach mir rennt?
Ich fürchte mich vor deinem goldenen Lächeln
Vor deiner tiefen Tiere
Gottlosen Augen.
Gedichte 1930 – 1937
Ans Kreuz des Südens
Hast du mich angeschlagen
Nun leucht ich weiss – doch tot – diese
deine Nächte
*
* *
*
Plötzlich erschrak mein Körper
Inmitten der brennenden Rosen
Brannte er mit – ohne dich
Auteuil, 27.8.1933
Einen Tag und eine Nacht brauchte ich
Um zu begreifen
Dass Du es warst der an mein Herz klopfte
Stark war ich und gross
Wie im Gebirge
Wuchsen meine Schmerzen über die Welt hinaus
Das Linnen der Begrabenen presste meinen Leib
Die Starre der Vergessenen dörrte meine Glieder
Meine Augen waren leer wie die der Denkenden
Da traf dein Atem mich
Und ich erzitterte auf meiner Erde
Zarter als der Krokus auf den Gräbern im Frühlingswind
Leise rührtest du mich an
Setztest sanft mir neue Augen ein
Meine Brüste wurden spitz von der Berührung des Engels.
Schwach bin ich nun
Erschrocken und stumm
Starr ich mit deiner Sehkraft
Ins Antlitz der Verheissung
Zögere nicht länger
Du der über mich schwebt
Spüre mein tödliches Zittern
Stoss herab o mein Gott
Komm!
Hochsommerlied
O dein Mohnblut
Im Gewoge des Hafers
Blaue Krone des Korns
Die zum König mich kürt
O du silberner Rittersporn
Der die Lenden mir schürt
Blühende Dornenhecke
Dach meines Schlafes
Dein Sommersonnengesicht
Mir Atem mir Speise mir Licht
Iwan
21. Juni 1938
Hügelwiese
Nur einmal noch –
Bevor der Berg beginnt –
Den Kopf an deine traumduftende
Hüfte schmiegen
Das Haar mit Veilchengras vermischt
Und im Geruch der Urgeburt versunken –
Mutter! Mutter!
Die ich verschrie,
Niedere, Dienende,
Die ich verschmähte,
Die Wäsche wusch
Im Acker grub
Und nach dem Regen fragte –
Mutter, Demutsmutter, Demeter
Hier hier vor meinem Gang zu Gott
Knie ich zu deinen Knien
Und esse deinen Staub
Weib, Leib, Erde!
Ich lass fallen von mir
Jahr um Jahr
Wie der Platanenbaum seine Rinden.
Langsam von der Stirn
Löst sich das seidne Gelock
Und der Geliebten
Rötliches Lied entweht.
Immer nackter wird meine Brust
Immer einsamer mein Mund
Immer grösser wird der Himmel
Da die Augen mir
Übergehn
Klage auf Delos
O käme jetzt die Amazone
Noch den Galopp des Mustangs in den Hüften
Und blutnass die Gelenke
Von der gerade tobenden Schlacht:
Sie würde mich retten,
Nachtschattengefangene!
Aber der Wind
Findet den Weg zu mir nicht mehr,
Die rosablaue Dämmerung
Erstickt mich unter dem seidenen Zelt.
Vom Himmel hängt die Ampel
Die offenmündige Dattura
Und mischt die Düfte des Todes
In meinen Atem.
Dort brennt die rote Schlacht,
O klirrende Amazone
Und dein Geschwader aufgeschäumter Pferde
Sprengt Blitze in den Abend.
Ich sehe deine rauchende Schulter
Verwegene Heldin, fern!
Mir aber steckt das Beil des Monds im Fleisch
Und meine Mattheit ruft
Die Tiere der Trauer schon:
Die grossäugigen Sphinxe
Und den bekreuzten Totenkopf,
Indessen die Fledermäuse
Mir schon die schwarzen Gehänge weben.
Mein grosser Häuptling
Ich danke dir dass du bist!
Ein wildes Fest muss ich feiern
Toben einen neuen Tanz
Und opfern dem Schöpfer
Der uns dein starkes Herz
Erstrahlen liess:
Palu!
Du bist der erste Mensch
Der ersten Tage
Des erhabenen Jahrhunderts!
Zur Führerin geboren
Des geistigen Geschlechts
Das doppelseelisch ist!
Das 33. Jahr
Das Jahr, in dem die Dichterpropheten
Den einsamen Berg ersteigen
Um die Sonne herabzuholen
Den bangenden Menschen!
Ich stehe an seinem Fuss
Bereit deine Botschaft zu künden
Wana
Paris, 5. 1. 1933
Wind
Da plötzlich löst ein Einzelner
Vom Zuge sich:
Sprach mich wer an?
Blickte ein Weib?
Nein
Ein
Flüchtiger
Flüssiger
Wind
Fuhr in mein Haar
Umschlang meinen Hals –
Ich hob das Haupt
Sah eine Sonne
Eine goldene Wolke
Ein Dreieck von Störchen
Rudernd gen Nord-Südwärts:
Und ich ihnen nach
Ihnen nach
Zehn Welt tief unter uns
Donnert die Untergrund
Zehn Himmel über uns
Schwirrt der Schneemöwenschwarm
Planetenwärts –
Was wissen wir vom Streben unsrer Kniee?
Was vom Altern unsres Haars?
Wir halten uns
In Höhe unserer schmalen Augen
Nichtachtend der Welten
Über und unter
Für Paula, 2. März 1931


Bericht
Bei den vorliegenden Gedichten handelt es sich um elf Gedichte von Yvan Goll (1891 – 1950) aus der Zeit von 1918 bis 1930 und um zehn Gedichte, die auf die Jahre von 1930 bis 1937 datiert werden können. Ein Gedicht, Croix de Lorraine, stammt von 1940 und wurde 1944 erstveröffentlicht. Siebzehn Gedichte sind bisher unveröffentlicht. Die bereits veröffentlichten Gedichte wurden schon im Jahr 2013 in die zweibändige Briefedition Claire Goll, Yvan Goll und Paula Ludwig, „Nur einmal noch werd ich dir untreu sein“. Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966, herausgegeben von Barbara Glauert-Hesse (Göttingen: Wallstein Verlag) aufgenommen. Mit dieser Veröffentlichung sind alle bekannten und erhaltenen Gedichte Yvan Golls in seinem veröffentlichten Werk versammelt. Sie stammen aus einem von Robert Warnebold (1934 – 2018) überlieferten Konvolut, das sich im Nachlass des Darmstädter Buchhändlers befand. Robert Warnebold war mit Paula Ludwig (1900 – 1974) und ihrem Sohn Friedel Ludwig (1917 – 2007) befreundet. Beide lebten ab dem Jahr 1970 ebenfalls in Darmstadt. Diese Freundschaft ermöglichte Robert Warnebold, seine umfangreichen Textsammlungen zu Paula Ludwig und Yvan Goll durch handschriftliche Zeugnisse zu erweitern. So kamen diese Autographen vermutlich durch Schenkungen, aber auch durch Ankauf in seinen Besitz. Im Zuge der Übernahme von großen Teilen der Warnebold‘schen Sammlungen zu Goll und Ludwig durch das Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek in den Jahren 2018 und 2019 kamen auch diese unveröffentlichten Texte von Yvan Goll nach Bregenz, die hier nun erstmals publiziert werden können. Ich danke dem Leiter des Archivs, Jürgen Thaler, dass er mich eingeladen hat, diese Editionsarbeit zu leisten. Meine langjährige Tätigkeit als Rundfunkredakteurin und Verlagslektorin in Mainz und Frankfurt führte mich schon nach dem Studium der Germanistik und der Amerikanistik in Mainz, Berlin und der University of Colorado in Boulder, Colorado, USA, im Jahr 1969 nach Paris zu Claire Goll. Im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft katalogisierte ich von 1969 an gemeinsam mit Claire Goll dort den Nachlass von Yvan Goll. Nach ihrem Tod 1977 setzte ich diese Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und im Yvan und Claire Goll-Archiv der Bibliothèque Municipale in Saint-Dié-des-Vosges, Frankreich, fort. Seit 1988 ediere ich die Gesamtwerke beider Dichter. Sie werden seitdem im Wallstein Verlag, Göttingen, veröffentlicht. Die Datierungen der noch unveröffentlichten Gedichte stammen – soweit sie nicht bereits bekannt waren – von der Herausgeberin. Zur Datierung herangezogen wurde eine private Gedichtedatei, die alle veröffentlichten Gedichte Golls umfasst sowie die von Andreas Kramer und Robert Vilain erstellte Bibliographie Yvan Goll – A Bibliography of the Primary Works (Peter Lang: Oxford-Bern-Berlin-Bruxelles-New York-Wien 2006).