Kitabı oku: «Seelsorgelehre», sayfa 9

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2.2.5Seelsorge als Erbauung (Pietismus)

Der Pietismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts war die erste große Erneuerungsbewegung innerhalb des deutschen Protestantismus nach der Reformation. Im Lichte der pietistischen Grundanschauungen – und das entspricht oft auch heutiger Sicht – erschien die lutherische Orthodoxie als eine Zeit geistlicher Dürre, kirchenrechtlicher Verkrustungen und religiöser Erstarrung. Dass dies so generell keineswegs zutreffend ist, wird durch die Beobachtung belegt, dass die Zeit der Orthodoxie auch eine Phase intensiver Frömmigkeitspraxis ist. Man denke an die Andachts- und Gebetsbücher aus dieser Zeit, an die vielen— gerade auch die persönliche Frömmigkeit ansprechenden – Gesangbuchlieder (Paul Gerhardt!) und an die geistlichen Trosthilfen für Krisenzeiten.101

Es scheint jedoch so, als hatte die lutherische Frömmigkeit dieser Zeit ihre Prägekraft für die großen Massen der Gemeindeglieder verloren. Und sie hatte es offensichtlich auch nicht zu Wege gebracht, in den Gemeinden einen stabilen Kern derer zu bilden, „die mit Ernst Christen sein wollen“ (Luther). Hier setzt der Pietismus ein. Es geht ihm um ein ernsthaftes, auf Erfahrung fußendes Christentum, das sich von der Masse der „Scheinchristen“ unterscheidet und wahre Früchte des Glaubens hervorbringt. Die pietistische Frömmigkeit zeichnet sich aus durch eine intensive Bibelorientierung und eine lebendige Christusbeziehung. Im Einzelnen ist der Pietismus natürlich sehr unterschiedlich geprägt. Die drei herausragenden Führungsgestalten – Spener102, Francke103, Zinzendorf104, – unterscheiden sich schon in den äußeren Rahmenbedingungen ihrer Wirksamkeit und so auch in den spezifischen Intentionen ihrer Theologie. Zinzendorf etwa wendet sich nach anfänglicher Übereinstimmung später entschieden von der pietistischen Bekehrungstheologie mit dem für Francke eigentümlichen Bußzwang ab.105 Im Wissen um die Differenzierungen innerhalb des Pietismus sind für den seelsorgegeschichtlichen Zusammenhang einige Punkte hervorzuheben, die für die Grundauffassung der Seelsorge in dieser Phase charakteristisch sind:

1.Jede stark veräußerlichte Form von Seelsorgepraxis wird abgelehnt. Für die Orthodoxie bestand diese vor allem in der Privatbeichte. Sie war wieder zu einem Zwangsinstitut geworden. Massenweise wurde die Beichte von den Pfarrern abgehört und es wurde Absolution erteilt, ohne dass damit eine ernsthafte Seelsorgearbeit verbunden werden konnte. Man holte sich im Beichtstuhl ein gutes Gewissen ab. Spener wollte die Privatbeichte nicht abschaffen, aber ihren oberflächlichen und zwangsweisen Gebrauch. Das routinierte Beichtehören ohne geistliche Vertiefung war ihm ein Gräuel. Und auch Francke wandte sich ausdrücklich gegen den „Missbrauch des Beichtstuhls“.106

2.Seelsorge sollte sich zuerst auf die Kerngemeinde ausrichten. „Nicht von der Besserung der Unfrommen, sondern von der Förderung der Frommen erwartete Spener die Reform der Kirche.107 Der Seelsorge obliegt zuerst die Aufgabe der „Erbauung“, der „Stärkung des Glaubens“ bei dem einzelnen Gemeindeglied. Gegenüber einer pastoralen Massenabfertigung kam es im Pietismus – vor allem Spenerscher Prägung – zu einer seelsorglichen „Entdeckung des Einzelnen“108. „Erst von ihm her ist die Ausrichtung auf das ‚Ganze‘ möglich.“109

3.Seelsorge geschieht im Pietismus bei aller Kritik an den traditionellen Institutionalisierungen dennoch bewusst methodisch. Für Spener bedeutet „Seelsorge als Erbauung“ ein „gezieltes, methodisch reflektiertes, differenziertes und planvolles Handeln“.110 Das seelsorgliche Gespräch wird hoch geschätzt und der – in der Zeit der Orthodoxie verpönte, teilweise sogar verbotene – Hausbesuch kam nun wieder zu seinem Recht. Der pietistische Seelsorger musste alle Möglichkeiten ergreifen, um seine primäre Aufgabe, die Stärkung und Festigung des Glaubens der Wiedergeborenen, zu erfüllen

4.Seelsorge führt in die Gemeinschaft der Erweckten und vollzieht sich zu einem guten Teil auch in ihr selber. Trotz des Ansatzes der Seelsorge beim Einzelnen ist für Spener etwa das Ziel der Erbauung überindividuell. Die Glaubenden sollen geistliche Gemeinschaften bilden, die er „ecclesiolae in ecclesia“ nennt – gleichsam „Pilotprojekte der Erbauung“111. Besonders das Herrnhut Zinzendorfs ist bekannt für die vielfachen Formen geistlicher Gruppengemeinschaft.112 Zinzendorfs Satz „Der Christ geht in Kompagnie“ ist geradezu zum geflügelten Wort geworden. Die strenge Gruppenordnung in Herrnhut muss man sich nicht als Installation seelsorglicher Zwangsgemeinschaften vorstellen. Sie war vielmehr die Möglichkeit, die einfachen und komplizierten Fragen des alltäglichen Lebens in die geistliche Gemeinschaft hineinzunehmen.113

5.Seelsorge im Pietismus ist Realisierung des allgemeinen Priestertums. Was Luther gewollt hatte, aber letztlich doch nicht durchsetzen konnte, das gewinnt hier nun praktische Wirksamkeit. Erbauung ist „Recht und Pflicht aller Christen“‚114. In den Gruppen und Gemeinschaften der wirklich gläubig gewordenen Gemeindeglieder findet nun das „mutuum colloqui um fratrum“, das wechselseitige geschwisterliche Gespräch bzw. eben die Seelsorge, wirklich statt. Für den Laientheologen Zinzendorf war die Idee der Geschwisterlichkeit für die Gemeinde und ihre Leitung ausgesprochen strukturbestimmend.

6.Pietistische Seelsorge wendet sich zuerst an den inneren Menschen. Sie intendiert aber keine Privatisierung des Glaubens. Der Glaube soll Früchte tragen und Erbauung vollzieht sich nicht in frommer Selbstzwecklichkeit. So muss die Seelsorge beispielsweise in Zusammenhang gesehen werden mit dem sozialen und pädagogischen Werk, das von dem Halle Franckes ausging, oder auch mit der „Reichgottesarbeit“, die Zinzendorf von Herrnhut aus in die weite Welt hinaustragen wollte.

Der Pietismus war eine wichtige Phase in der Kirchen- und Seelsorgegeschichte. Elemente des pietistischen Frömmigkeitsanliegens und Glaubenserlebens sind in den Kirchen immer gegenwärtig – in einzelnen Gruppierungen, als Strömung innerhalb der Großkirchen oder in dem Auftreten von charismatischen Einzelpersönlichkeiten. Oft erscheinen dann die genuinen und berechtigten pietistischen Anliegen in radikaleren oder gesetzlicheren Formen als bei den Vätern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Das macht zuweilen Abgrenzungen erforderlich, die jedoch nicht den Blick dafür verstellen sollten, wie viel die Seelsorgepraxis der Kirchen gerade dem pietistischen Erbe verdankt.

2.2.6Seelsorge als Bildung und Lebenshilfe (Aufklärung)

Mit dem Pietismus teilen die Aufklärungstheologen die entschiedene Ablehnung der Institutionalisierungen kirchlicher Seelsorge in der Gestalt von Privatbeichte und Kirchenzucht. Während aber die pietistische Seelsorge ihren besonderen Zielpunkt in der Ausbildung einer authentischen Frömmigkeit auf dem Hintergrund einer positiven Glaubensentscheidung hatte, ging es den von Rationalismus und Neologie geprägten Theologen mehr um die Bildung der Menschen und um Hilfe für die Bewältigung konkreter Lebensprobleme. Der entscheidende Unterschied zum Pietismus und zur Orthodoxie muss aber wohl in der kritischen Einstellung zu jeder Form von Autoritätsanspruch, auch und gerade einem geistlichen, gesehen werden.

Nur einige Aspekte, die für die Geschichte der Seelsorge im Zeitalter der Aufklärung von Bedeutung sind, können hier hervorgehoben werden:

1.Eine gewisse „Pädagogisierung der Theologie“ geht einher mit einer Neuprofilierung des Pfarrerberufs im Blick auf seine sozialpädagogische Funktion: „Der Pfarrer wird zum Volksaufklärer und Lehrer, der die Untertanen jene Verhaltensweisen und mentalen Einstellungen lehrt, welche zur Förderung der salus publica unumgänglich sind.“115 Der Pfarrer als „Lehrer der Weisheit und Tugend“116 ist dazu berufen, Menschen nach dem Maß der Vernunft zu bilden und ihnen Sitte und Religion ans Herz zu legen. Seelsorge wird so zu einer spezifischen Form des Unterrichtens. Auch in früheren Epochen gab es solche Akzentuierungen – man denke an Klemens und Origenes –‚ aber in der Aufklärungstheologie erfuhr diese wohl zum ersten Mal eine derart zugespitzte Ausprägung.

2.Charakteristisch ist jetzt die Unterscheidung einer „allgemeinen Seelsorge“ von einer „speziellen“117. Die Aufgabe der allgemeinen Seelsorge besteht eben darin, dafür Sorge zu tragen, dass die Voraussetzungen für individuelle Existenz und Frömmigkeit gegeben sind. Dazu gehört die Sorge um die ökonomischen Lebensbedingungen, um Gesundheit, Ordnung, Recht und Moral, um ein geordnetes Ganzes. Die allgemeine Seelsorge hat es mit den sehr konkreten und realen Bedingungen des Alltagslebens der Menschen zu tun.

3.Die spezielle Seelsorge – cura animarum specialis – geschieht vor allem im „Privatumgang“, also im Gespräch mit dem Einzelnen. Sie ist nicht mehr wie in den vorangehenden Zeiten so sehr auf die Überwindung der Sündhaftigkeit des Menschen konzentriert. Eher geht es auch hier um „Besserung“, aber diese kann jetzt erreicht werden durch Anknüpfung an den schon von Gott her gelegten guten Grund im Menschen. Es kommt für die Seelsorge darauf an, die ihr Anbefohlenen dazu zu befähigen, „vorkommende Fälle nach Gottes Wort und den Vorschriften desselben zu entscheiden.“118 Heute würden wir wohl sagen, es geht darum, dem Einzelnen dazu zu verhelfen, „sittliche Kompetenz“ (Herms) zu erlangen.

4.Natürlich gehört zur speziellen Seelsorge auch die Beachtung der ganz konkreten Lebenssituation der einzelnen Gemeindeglieder. In gewisser Weise kann man davon sprechen, dass in der Aufklärung eine kasuelle Seelsorge geübt wird. Der katholische Pastoraltheologe Andreas Reichenberger nennt in seinen „Pastoralanweisungen von 1812 vier unterschiedliche Fallgruppen für die Seelsorge: „Kranke und Sterbende“, „Missetäter“, „Uneinige“ und diejenigen, „die einen Stand zu wählen im Begriffe sind“.119 Es geht dabei keineswegs nur um formale Rubrizierungen der seelsorglichen Praxis, sondern um das angestrengte Bemühen, dem Einzelnen in seiner ganz besonderen psychischen, sozialen und biographischen Situation gerecht zu werden.

5.Der Aufklärung verdanken wir neue Konzepte einer professionelleren Pfarrerausbildung120, in deren Folge auch die Qualifikation für die Seelsorgearbeit an Gewicht gewinnt. So beginnt sich die Einsicht, dass für eine kompetente Seelsorgepraxis auch psychologische Fachkenntnisse benötigt werden, hier und da durchzusetzen.121 Besonders im katholischen Bereich gewinnt seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine ganz neue praktisch-theologische Disziplin – die „Pastoralmedizin“ bzw. „Pastoralpsychiatrie“ oder auch „Pastoralanthropologie“122 – an Bedeutung. Hier haben wir im Umkreis der Aufklärung also den Beginn einer Entwicklung, die im zwanzigsten Jahrhundert unter neuen und veränderten Bedingungen zur Herausbildung einer pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge geführt hat.

6.In die Aufklärungszeit gehören auch die ersten Erfahrungen mit einer empirischen Seelsorgeausbildung. Dies gilt im katholischen Bereich für die Forderungen nach einer person- und praxisbezogenen Theologenausbildung.123 Für den Protestantismus ist besonders das 1781 von Heinrich Philipp Sextro gegründete „Pastoralinstitut“ in Göttingen zu erwähnen.124Hier ging es um eine ganz praxisnahe Seelsorgeausbildung. Die Kandidaten der Theologie führten im Krankenhaus „Andachtsübungen“ sowie „Privatunterhaltungen“ durch und hatten die dabei gemachten Erfahrungen dann in „gemeinschaftlicher Beratschlagung“, also einer Form von Supervision, für sich auszuwerten. Sextro hielt diese Form der Ausbildung für sehr wichtig, denn: „Das Spital ist eine treffliche Schule der moralischen Beobachtung und Menschenkenntnis.“125 Nur für eine knappe Generation hatte das „Pastoralinstitut“ in Göttingen Bestand. 1805 wurde es geschlossen, die Gründe sind unbekannt. Vielleicht war der Geist der Aufklärung hier seiner Zeit zu weit vorausgeeilt!

2.2.7Seelsorge und Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert

Der bisher eingeschlagene Weg, einzelne Epochen der Seelsorgegeschichte durch ein sie besonders, wenn auch nicht ausschließlich charakterisierendes Seelsorgeverständnis zu kennzeichnen, kann für das 19. Jahrhundert nicht beibehalten werden. Das hat vor allem zwei Gründe, die mit der Sache selbst zusammenhängen:

•Einmal: Die Seelsorge ist im neunzehnten Jahrhundert in ihr reflexives Stadium getreten. Zum ersten Mal entsteht jetzt eine Seelsorgetheorie im eigentlichen Sinne. Erst jetzt kann und muss versucht werden, die Seelsorge als ein besonderes Handeln in ihrer Beziehung zur Gemeinde im Ganzen und deren verschiedenen Lebensäußerungen sowie in ihrem Zusammenhang mit den glaubensmäßigen „Grundsätzen der evangelischen Kirche“ (Schleiermacher) zu begreifen. Die Herausforderung zur Entwicklung einer spezifischen Seelsorgetheorie ergibt sich auch aus der jetzt veränderten geistigen und kulturellen Situation. Wenn in der nun säkular werdenden Gesellschaft die traditionalen Lebensformen nicht mehr mit Selbstverständlichkeit geübt werden, droht der kirchlichen Seelsorge ihr primäres Bezugsfeld zu entgleiten. Es ist also erst einmal ein „Orientierungsrahmen“ zu benennen, in dem Seelsorge als ausreichend begründet zu erscheinen vermag. Seelsorge wird so zum „Dauerthema theologischer Reflexion“ und „zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin“.126 Die Folge dieser Entwicklung ist, dass eine Darstellung der Seelsorge selbst mit der der Seelsorgelehre nicht mehr zusammenfällt. Die Praxis und deren wissenschaftliche Reflexion sind in ihrer literarischen Darstellung durchaus zwei verschieden Genera.127 Will man über Seelsorgepraxis im 19. Jahrhundert etwas mitteilen, dann genügt es eben nicht, nur Literatur über die Seelsorge zu referieren. Vielmehr ginge es darum dem Niederschlag seelsorglicher Praxis in den verschiedenen möglichen Formen nachzugehen: in der zeitgenössischen Literatur (etwa die Pfarrergestalten!), im Erbauungsschrifttum, in der Predigtliteratur, in Biographien und anderen Lebenszeugnissen usw. Hier tut sich eine lohnenswerte und interessante Forschungsaufgabe auf, die in Analogie bzw. Ergänzung zur Alltags- und Kulturgeschichte zu leisten wäre. Im Rahmen dieser Einführung kann sie nicht in Angriff genommen werden.

•Der zweite Grund: Der Protestantismus ist im 19. Jahrhundert durch die fortschreitende Differenzierung seiner theologischen und religiösen Positionen charakterisiert. Das wirkt sich natürlich auch auf die Theoriebildung in der Seelsorge aus und lässt es kaum zu, eine Schwerpunktbestimmung für die Seelsorge pars pro toto herauszugreifen. Jetzt bestehen nebeneinander: einerseits die vermittlungstheologische Seelsorgelehre, der es um eine „wissenschaftliche Seelenpflege“ (Nitzsch) zu tun ist, andererseits eine konservativlutherische Poimenik, die in ihrer stark sakramental ausgeprägten Form bei Löhe besonders die Beichtpraxis in den Mittelpunkt stellt, und schließlich die den Strom der Erweckungstheologie aufnehmende „charismatische“ Seelsorge mit ihrer Ausrichtung auf einen ganzheitlichen Heilungsvorgang, wie sie uns bei den beiden Blumhardts begegnet. Die Vielfalt der poimenischen Positionen ist nur schwer übersehbar. Die Seelsorge hatte im 19. Jahrhundert in der praktisch-theologischen Theoriebildung offensichtlich eine Schwerpunktbedeutung.128 Infolge der Pluralität poimenischer Konzepte ist es verführerisch, die Poimenik des 19. Jahrhunderts als eine Art Steinbruch zu benutzen, um in die jeweilige eigene Position noch ein paar wichtige Steine als Legitimationshilfe einzubauen.

Zur Charakterisierung der Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert seien nun drei Momente exemplarisch hervorgehoben:

1. Grundlegend und wegen ihrer Klarheit besonders eindrucksvoll ist die Auffassung von der Seelsorge bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.129 Für ihn gehört die Seelsorge in die Zuständigkeit des „Kirchendienstes“130, also der auf den Einzelnen gerichteten Tätigkeiten. Vorausgesetzt wird von Schleiermacher, dass gemäß dem evangelischen Glauben die Gemeindeglieder grundsätzlich „selbst ihr Gewissen aus dem göttlichen Wort berathen können“131. Das ist die Freiheit jedes Christen. Sie gründet in seinem unmittelbaren Verhältnis zum Wort Gottes; und dieses genüge normalerweise für seine Gewissheit und für seine Orientierung. Eine Seelsorgepflicht könne es mithin nicht geben. Wenn allerdings bei dem einzelnen Gemeindeglied ein Seelsorgebedürfnis entstehe, sei es die unbedingte Pflicht des Pfarrers, dem zu entsprechen. Die Anforderung an den Seelsorger ist für Schleiermacher ein Anzeichen dafür, dass dem Gemeindeglied das Vertrauen in die unmittelbare Führung durch Gottes Wort und damit auch seine Identität mit der Gemeinde verloren gegangen ist. Der Seelsorger habe darum „solche Anforderung … dazu zu benutzen, die geistige Freiheit des Gemeindegliedes zu erhöhen und ihm eine solche Klarheit zu geben, dass jene Anforderung nicht mehr in ihm entstehe.“132Das ist der „Kanon“ für die seelsorgliche Arbeit in der evangelischen Kirche. Für Schleiermacher ist also die Wahrung und Förderung der Freiheit des Gemeindeglieds der oberste Grundsatz der Seelsorgelehre. Seelsorge ist damit – so würden wir heute sagen – in der Tendenz immer Hilfe zur Selbsthilfe. In keiner Weise darf Seelsorge zu Abhängigkeit oder in ein geistliches Vormundschaftsverhältnis führen. Es verwundert nicht, dass Beichte und Buße gegenüber dem Gespräch bei Schleiermacher zurücktreten.133 Ein seelsorglicher Dirigismus schade dem Anliegen der Seelsorge. Beim Seelsorger wird deshalb die Fähigkeit vorausgesetzt, „unbefangen“ und bereit zu sein, „in die verschiedenen Sinnesarten einzugehen“134, also sich einzufühlen. Das ist die Bedingung, um den anderen in seiner besonderen Persönlichkeit wahrnehmen und bestärken zu können135 – was freilich nicht im individualistischen Sinne zu verstehen ist, denn die Wiedererlangung der Freiheit und des Vertrauens hat ihren Sinn darin, dass der Einzelne nun wieder in die Gemeinschaft zurückfinden kann, aus der er „herausgefallen“ war.

Eindrucksvoll an Schleiermachers Seelsorgeverständnis ist die Verknüpfung von aufklärerischem Freiheitsbewusstsein mit dem Freiheitsverständnis des Evangeliums. Im Kern argumentiert Schleiermacher als Theologe. Problematisch erscheint das von ihm bevorzugte „Defizienzmodell“136, wonach jedes Seelsorgebedürfnis als Ausdruck für einen geistlichen Mangel interpretiert wird, und daraus folgend umgekehrt erst ein entsprechender Mangel vorhanden sein müsse, um Seelsorge zu indizieren.

2. Im Anschluss an Schleiermacher entwickelt sich im neunzehnten Jahrhundert die wissenschaftliche Seelsorgelehre. Beispielhaft sei hier die 1857 erschienene Seelsorgetheorie von Carl Immanuel Nitzsch137 erwähnt. Die Seelsorge ist für Nitzsch „die amtliche Tätigkeit der Kirche, welche der Erhaltung, Vervollkommnung und Herstellung des geistlichen Lebens wegen auf das einzelne Gemeindeglied gerichtet ist“138. Um die Aufgabe auch angemessen erfüllen zu können, müsse man sich darüber im Klaren sein, dass es in der Seelsorge um ein ganz persönliches Verhältnis gehe. Es käme also auf die Beachtung der „persönlichen Zustände und Bedürfnisse“ des Gemeindegliedes ebenso an, wie auch der ganz „persönliche Eindruck des Seelsorgers“ zu Buche schlage. Die Persönlichkeit des Seelsorgers spielt mithin für Nitzsch eine ebenso wichtige Rolle wie die spezifischen Kompetenzen, die er als „diagnostische Fähigkeit“ einerseits und als „therapeutische Tüchtigkeit“ andererseits definiert. Erstere beziehe sich vor allem auf die „Menschen-Kenntniß“: „dass er sich auf das menschliche Herz und Wesen nach dem Maße unserer Beschränktheit recht gründlich verstehe“139. Letztere hat etwas zu tun mit der Vermittlung von „Heil“ und „Segen“. Diese kommen zwar wohl „vom Herrn“ selbst, aber sie fallen doch „der Arbeit und Mühe seiner Diener nach seinem Wohlgefallen zu“140.

Im Anschluss an Reinhard Schmidt-Rost lassen sich drei Aspekte für die spezifische Ausrichtung der wissenschaftlichen Poimenik, wie sie uns bei Nitzsch begegnet und zugleich über ihn hinausweist in die künftige Entwicklung, benennen:

a.Sie bezieht sich ganz auf ein Handeln am Einzelnen.

b.Sie vollzieht sich im Bewusstsein christlicher Weltverantwortung und mit einer Realitätsorientierung auf das „Machbare“.

c Sie macht auf Dauer eine professionelle Ausprägung der seelsorglichen Berufsrolle erforderlich.141

Bei Nitzsch deutet sich also ein Weg an, der zu einer einschneidenden Veränderung im pastoralen Berufsverständnis führt. Das Leitbild ist nun bald nicht mehr der Gemeindehirte im Sinne der herkömmlichen Pastoraltheologie, sondern der „Seelenarzt“142 Vor allem gehört zu dieser neuen Weise, über Seelsorge nachzudenken, eine konsequente und kritisch reflektierte Einbeziehung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden. Die sich entwickelnde Seelsorgelehre kann immer weniger auf qualifizierte Übernahmen aus Anthropologie und Psychologie verzichten.

3. Die Entwicklung der Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert wird nicht unwesentlich beeinflusst durch den immer deutlicher spürbaren Säkularisierungsprozess. In ihm lassen sich einerseits die Nachwirkungen der kulturellen Aufklärung erkennen, wie er andererseits auch im Zusammenhang mit Industrialisierung und neuer sozialer Differenzierung verstanden werden muss. Man kann geradezu von einem „Massenexodus aus der Kirche“143 sprechen, der sich zwar nicht in einer formellen Austrittsbewegung, dafür aber in einer inneren Ferne zu dem verfassten Christentum und praktischer Teilnahmeverweigerung gegenüber den kirchlichen Angeboten äußert. Carl Immanuel Nitzsch sah darum ein Erfordernis, den „seelsorgerischen Eifer“ zu verstärken, um das „Verlorene zu suchen“, und er zog daraus die Konsequenz: „…mit einem Wort, die Zeit für die innere Mission in der engeren Bedeutung ist für einen gewissen Kreis des kirchlichen, christlichen Lebens angebrochen“144. So kommt dann das seelsorgliche Handeln wieder sehr nah an die Wahrnehmung des missionarischen Auftrags heran.145 Was sich bei Nitzsch hier andeutet, das liegt ganz auf der Linie des durch Johann Hinrich Wichern 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag ins Leben gerufenen Werkes der Inneren Mission. Später hat Wichern gerade den seelsorglichen Aspekt des diakonischen Handelns sehr eindrücklich formuliert: „Kommen die Leute nicht in die Kirche, so muss die Kirche zu den Leuten kommen … Wir müssen Straßenprediger haben, vornehmlich in den großen Städten. Die Straßen müssen Kanzeln werden, und das Evangelium muss wieder zum Volk dringen.“ Nun wird deutlich: Die Seelsorge hat nur dann eine Chance, wenn die Kirche sich auf die Menschen zu bewegt und wenn sie zugleich aufmerksam wird für die ökonomische und soziale Not auf den Straßen und in den Häusern. Der Dresdner Pfarrer Emil Sulze hat diese Herausforderung unter den Bedingungen einer immer anonymer werdenden Großstadtparochie erkannt und angenommen. Er versuchte mit seinem gegliederten Gemeindestrukturmodell146 die organisatorische Grundlage für eine gemeindliche Seelsorgearbeit zu schaffen, die die Menschen nicht nur mit Reden und Ritualen abspeiste. Seelsorge ist für Sulze Präsenz am Ort und Zusammenführung geistlicher, sozialer und pädagogischer Kompetenz. Um die immensen Aufgaben der Seelsorge in der Großgemeinde zu bewältigen, genüge es freilich nicht, allein auf die Kapazität der bestallten Pfarrer zurückzugreifen. Für Sulze geht es darum, das allgemeine Priestertum aller Gläubigen in Kraft zu setzen: „Die besten Christen, nicht die besten Theologen oder Redner, sind von Gott selbst dazu befähigt und verpflichtet, das Leben der Seelen, das Leben der ganzen Gemeinde zu gestalten … Die größte äußerliche und innerliche Not, die dem Auge sich darbietet, fordert dringend Abhilfe und nimmt immer mehr Zeit und Kraft in Anspruch.“147

Auch wenn Sulze mit seinem Gemeindeprogramm praktisch gescheitert war148, so sind hier doch Fragen gestellt, die zumindest als Impulse in die Seelsorgelehre des nächsten Jahrhunderts hinüberweisen.

Eine hohe Aufmerksamkeit auf die äußeren Nöte der Menschen findet sich auch in Seelsorgetheorien und -konzepten von einigen Theologen des Liberalismus. Otto Baumgarten (1858–1934), dessen Tätigkeit schon weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht, betont, die seelsorgliche Tätigkeit dürfe nicht zu einer Predigt zum „Sichschicken in die Zeit“ führen; dadurch würde der Pfarrer unweigerlich zum „Kapitalistenpastor in den Augen der Notleidenden“. Vielmehr müsse sich die seelsorgliche mit der sozialen Aufgabe verbinden, die Massennöte seien realistisch wahrzunehmen und die Seelsorger sollten Verständnis suchen für das Treiben auf dem „Markt des Lebens“.149

Die Hinwendung zur wirklichen, zur „modernen“ Welt – das ist es, was liberale Theologie, bei durchaus unterschiedlichen sozialpolitischen Optionen und kulturellen Interessen, auszeichnet. Sie war letztlich dann auch der Boden, auf dem sich eine Seelsorgetheorie entwickelte, in der neue Erkenntnisse einer Psychologie der menschlichen Persönlichkeit konzeptuell aufgenommen werden konnten.

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