Kitabı oku: «Das Phänomen», sayfa 5
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Auf dem Weg in ihre Praxis hinterließ sie Taylor eine Nachricht auf dem Handy. Wie immer, wenn er Vorlesungen hielt, gab er den Flugmodus ein, um in den Genuss eines Vortrages ohne Störung zu kommen. Er liebte es, eine ganze Stunde zu referieren ohne unterbrochen zu werden. In der darauffolgenden Stunde hatten die Studenten Zeit und Gelegenheit, Fragen oder sich ihm in einer Diskussion über das letzte Thema zu stellen. In beiden Fällen duldete er keinerlei Unterbrechungen.
Nach Unterrichtsende schaltete er den Lautsprecher seines Handys ein und ließ die eingegangenen Nachrichten abspielen. Dabei korrigierte er meist Arbeitsblätter oder Prüfungsbögen. Es langweilte ihn zumeist, die Nachrichten abzuhören, weil so gut wie immer die gleichen Leute anriefen, obwohl sie wussten, dass er vormittags beschäftigt war. Doch bei Rosalies Stimme ließ er den Stift fallen und starrte das leuchtende Display an als wäre es ihr Gesicht, in dem er lesen konnte. Sofort rief er zurück, doch sie war noch in der Ordination und versuchte erneut, Mrs Blackwood von ihren Rückenschmerzen zu befreien ohne dass sich die Gute an ihr Trainingsprogramm hielt. Die meisten ihrer Patientinnen waren stinkfaul und ließen sich lieber medikamentös behandeln anstatt ihren Bewegungsapparat in Schwung zu bringen.
Taylor versuchte es ein zweites Mal, mit seiner Frau zu sprechen, doch sie nahm sein Gespräch nicht entgegen. Kurz entschlossen legte er die Hausarbeiten seiner Studenten in den Safe, versperrte diesen und machte sich sofort auf den Weg in die Ordination. Er konnte nicht bis am Abend warten; zu groß war die Neugierde, welches Phänomen sich vor drei Stunden abgespielt hatte, von dem sie auf seiner Mailbox gesprochen hatte.
Rosalie schilderte kurz, was los war und komplimentierte ihn mit dem Versprechen, zu Hause alles ganz genau zu erzählen, aus der Praxis. Immerhin warteten noch vier Patienten darauf, von ihren Leiden geheilt zu werden. Danach standen noch einige Hausbesuche auf dem Plan, die wohl allesamt länger dauerten. Die alten Menschen waren einsam und froh, wenn sie jemanden zum Reden hatten. Rosalie fragte sich immer, ob sie nicht auch einmal froh sein würde, wenn sich ihre Ärztin im Alter mit ihr unterhalten würde anstatt nur ein Rezept auszustellen und zu gehen. Deshalb blieb sie immer ein wenig bei ihnen um deren Gemüt wieder aufzupolieren. Und mittlerweile waren es ihre Patienten schon gewohnt. Nun konnte sie nicht mehr so einfach ohne Unterhaltung gehen, aber das war schon in Ordnung. Schließlich war sie nicht des Geldes wegen Ärztin geworden, sondern aus Liebe zu den Menschen.
Als sie kurz vor achtzehn Uhr das Haus betrat, hing bereits der unverkennbare Duft von heißer Lasagne in der Luft. Zwar wusste sie, dass Taylor sie aus der Tiefkühltruhe geholt und nicht selbst zubereitet hatte, aber sie war dennoch froh, sich nicht mehr an den Herd stellen zu müssen. Es war ein anstrengender Tag gewesen und sie war müde. Auch der Vorfall bei Sandy hatte sie psychisch ziemlich mitgenommen, weshalb sie jetzt noch eine Spur müder als an üblichen Arbeitstagen war.
Taylor trug sofort das Essen auf, setzte sich und sah sie mit großen Augen, aus denen die Erwartung wie Wasser aus einem Staudamm floss, an.
Rosalie wusste, dass sie gegen die ärztliche Schweigepflicht verstieß, sah sich aber dennoch moralisch verpflichtet, ihm von dem Vorfall in Sandys Haus zu erzählen. Er hörte aufmerksam zu und presste die Oberschenkel fest aneinander, als sie die Verletzungen, die Sandy ihrem Lover zugefügt hatte, schilderte. Als Mann konnte er den Schmerz förmlich spüren.
„Und du sagst, sie wusste nicht, weshalb sie ihm den Penis zerfleischt hat? Es ist einfach so über sie gekommen, wie der Suizidversuch von Benny? Meinst du, es war der gleiche ….. sagen wir mal Mechanismus?“
Rosalie nickte nur, weil sie sich gerade eine Gabel voll Lasagne in den Mund gesteckt hatte. Die Fleischfüllung schmeckte ein wenig künstlich, aber sonst war sie ganz in Ordnung. Aber nach einem langen, harten Arbeitstag war wohl alles in Ordnung, das den Magen füllte, heiß war und das nicht mit Arbeit verbunden war.
Taylor legte noch immer etwas irritiert ein neues Blatt für den Vorfall mit Sandy an und berichtete ihr anschließend von seinem Telefonat mit dem Bürgermeister. „Weder er noch die Gemeindeangestellten hatten eine Anfrage erhalten noch eine Genehmigung für den Jahrmarkt erteilt. Er ist so plötzlich auf der Festwiese gestanden wie er wieder weg war. Der Bürgermeister wollte eigentlich heute am Morgen mit den Leuten reden und die Platzmiete kassieren, aber da war schon alles weg. Er war ebenso erstaunt wie wir, dass sie keinerlei Spuren hinterlassen hatten. Normalerweise mussten die Gemeindebediensteten am Montag noch tonnenweise Becher, Teller und Flaschen einsammeln.“
„Also kommen wir über diesen Weg auch nicht weiter“, kommentierte sie seine Ausführungen. Er schüttelte nur den Kopf und hob die Schultern an. „Es ist aber auch nicht wichtig, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun. Wenn der Bürgermeister seine Pacht für die Wiese haben will, muss er zusehen, dass er sie bekommt. Es ist nicht unser Problem“, sagte er und lehnte sich zurück.
„Und wie willst du mit den Phänomenen weitermachen? Langsam häufen sie sich und ich fürchte, es werden noch schlimmere Dinge passieren. Was mir auch ziemliche Sorgen bereitet sind die Farben der Natur. Ob man eine Analyse der Wiesen und Bäume veranlassen sollte? Möglicherweise ist es ein Farbstoff, der gesundheitsgefährdend für die Bevölkerung ist. Ich werde gleich morgen ein paar Tests veranlassen. Als Gemeindeärztin steht mir das zu.“
Taylor nickte. „Gute Idee! Vielleicht klärt sich dann auch gleich das Phänomen von selbst. Kann es sein, dass ein Farbstoff oder etwas, das durch die Luft übertragen wird, diese Phänomene hervorruft? Dass der Stoff in das Gehirn der Menschen eindringt und dort Veränderungen hervorruft oder so etwas Ähnliches.“
Rosalie dachte kurz nach. „Möglich wäre es, natürlich, aber ich habe noch nie davon gehört. Was aber auch nicht heißt, dass es nicht schon vorgekommen wäre. Ich werde morgen mal im Internet recherchieren; vielleicht finde ich den einen oder anderen Beitrag dazu. Aber jetzt möchte ich nur noch blöd in en Fernseher glotzen um meinen Kopf wieder frei zu bekommen. Der Tag heute war echt hart!“
Der neue Morgen zeigte sich ein wenig wolkenverhangen. Rosalie blieb auf der Veranda stehen und sah auf das Meer hinaus, das mit seinen leichten, aber sehr spitzen Wellen die Wolken zu berühren schien. In der Mitte der dunkelgrauen, regengeschwängerten Wolken schimmerte ein Licht, als ob sich ein Blitz darin verstecken würde. Ein kleines Gewitter in jeder Wolke, in der es von grellem Weiß bis zum sanften Gelb schillerte und leuchtete. Rosalie wusste nicht, ob sie dieses unnatürliche Schauspiel als bedrohlich oder als faszinierend betrachten sollte. Vermutlich war es beides, doch sie war sich ihrer Gefühle nicht sicher. Sie hatte auch Hemmungen, aus dem Schutz des breiten Verandadachs hinaus unter den freien Himmel zu treten. Mit einem Schirm über dem Kopf fühlte sie sich zwar nicht sicher, aber doch ein wenig besser, obwohl ihr bewusst war, dass er im Fall eines kontaminierten Regens völlig sinnlos war. Manchmal aber braucht der Mensch nur etwas, um sich daran fest zu halten, dachte sie und stürmte im Laufschritt auf das Haus ihrer Nachbarin zu.
Als sie die Tür öffnete, blieb sie stehen und lauschte. Sie rechnete irgendwie damit, dass Marisha herumkramte, doch sie hörte nicht den geringsten Laut. „Marisha?“, fragte sie zögerlich in den Raum hinein, erhielt jedoch keine Antwort. Mit fröstelnden Oberarmen schlich sie vorsichtig zum Schlafzimmer und spähte um die Ecke. Ihre Nachbarin und Freundin lag in ihrem Bett und war tot. So tot wie vor vierundzwanzig Stunden.
Rosalie atmete hörbar aus und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Aber dieses Mal nicht, um ihr eine Geschichte vorzulesen, sondern um sich endgültig von ihr zu verabschieden. Marisha war tot und würde wohl nicht wieder lebendig werden. Und das war gut so! Sie freute sich über diese Normalität wie über ein Wunder.
Nachdem sie der alten Frau die Decke über den Kopf gezogen hatte, warf sie wieder einen Blick auf das Meer. Die spitzen Wellen drängen sich nun in Richtung Himmel, der jetzt noch tiefer zu hängen schien als noch vor wenigen Minuten. Sie hatte den Eindruck, als wollten die Spitzen der Wellen die Wolken aufstechen, um das gelb-weiße Farbenspiel ins Meer laufen zu lassen. Rosalie fröstelte erneut und sie lief geduckt unter dem Schirm zu ihrem Auto um in die Ordination zu fahren. Zu allererst würde sie Marishas Tochter sowie den Leichenbestatter informieren. Den ärztlichen Totenschein hatte sie gut sichtbar auf dem Küchentisch hinterlassen.
Obwohl in der Praxis schon sieben Patientinnen warteten, nahm sie sich die Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Marishas Tochter. Sie hatte sie nie so richtig kennen gelernt, denn sie war nur sehr selten zu Besuch bei ihrer Mutter gewesen, und sie wollte sie auch jetzt nicht mehr kennen lernen. Ihr war nur wichtig, dass ihre Freundin und Nachbarin ein wirklich gutes Begräbnis bekam. Das hatte sie sich allemal verdient.
Als sie sich wieder fit für die Aufgaben des Alltags fühlte, öffnete sie die Tür zum Warteraum und wollte ihre erste Patientin in den Untersuchungsraum bitten, doch ihr Lächeln erstarb sofort, als sie sah, dass alle sieben Frauen heftig miteinander stritten. Sie zischten wie Schlagen, weil sie gelernt hatten, ihre Stimmen in einer Arztpraxis zu dämpfen, aber es war eindeutig ein schlimmer Streit.
„Meine Damen, was ist denn hier los?“, fragte sie entsetzt und sah eine nach der anderen vorwurfsvoll an.
„Die da“, keifte Mrs. Blackwood, „behauptet, sie müsse zur Arbeit und möchte vorgelassen werden. Aber ich war als Erste hier und verlange, als Erste untersucht zu werden. Das ist mein gutes Recht!“ Sie verschränkte die Arme vor ihrer bombastischen Brust und setzte eine zornige Miene auf.
„Als ob sie wüssten, was es heißt, pünktlich in der Arbeit zu erscheinen!“, zischte die Beschuldigte zurück. „Sie haben nur die Beine breit gemacht, damit ihr Mann Sie durchfüttert. Alle wissen das!“
„Also woher sie ihre drei Kinder haben, möchte ich nicht wissen“, stichelte Mrs. Drawling auf die von Mrs. Blackwood beschuldigte Frau ein. „Sie sehen einander überhaupt nicht ähnlich und keine einziges davon ihrem Mann.“
Während diese bösen Worte ausgesprochen wurden, hatte sich Mrs. Blackwood von ihrem Stuhl erhoben und prügelte mit der ziemlich großen Lederhandtasche auf ihre Kontrahentin ein. „Wagen Sie es ja nicht, meine Ehre in den Dreck zu ziehen!“, schrie sie nun hemmungslos und ließ ihre Tasche erneut auf die Frau hernieder sausen.
„Halt! Stopp! Aus! Ruhe! Wer sich nicht benehmen kann, der geht auf der Stelle nach Hause, das ist mein Ernst! Ich werde jede einzelne eigenhändig aus meiner Praxis schmeißen, wenn nicht sofort Ruhe herrscht. Wir sind doch hier nicht in der Gosse!“, keifte Rosalie lautstark, um sich Gehör zu verschaffen und die Frauen aus ihrer Fokussierung auf den Streit zu holen.
Sie spuckte vor Aufregung dünne Speichelfäden in den Raum und ihr Gesicht lief dunkelrot an. Noch in derselben Sekunde herrschte Stille im Raum und die Damen sahen sie einen Moment völlig entgeistert an, denn so kannten sie ihre Ärztin nicht. Dr. Baxter war stets ruhig, nett, besonnen und vernünftig, doch jetzt zeigte sie eine ganz andere Seite von sich.
Zähneknirschend setzte sich Mrs. Blackwood und hielt ihre Handtasche schützend vor ihren Bauch. Auch die anderen sechs Damen hielten ihren Mund und blickten finster an die Wand, auf die Decke oder auf den Boden. Rosalie war mit ihrer Zurechtweisung zufrieden und bat die erste Patientin ins Sprechzimmer. „Kommen Sie bitte herein, damit sie noch rechtzeitig zur Arbeit kommen“, sagte sie und behielt Mrs. Blackwood im Auge, die tatsächlich noch nie berufstätig war.
Nachdem sie die letzte Patientin verabschiedet hatte, legte sie ihren weißen Mantel ab, schulterte ihre Handtasche und stellte sich zum Anmeldeschalter.
„Was war denn heute morgen mit den Damen los? Und wieso waren es nur Damen? Ist dir aufgefallen, dass heute kein einziger männlicher Patient hier war? Nur zickige, streitsüchtige Weiber. Sorry, der letzte Satz war nicht so gemeint“, entschuldigte sie sich sofort bei ihrer Sprechstundenhilfe.
„Du kannst es ruhig aussprechen, sonst muss ich es machen. Der Streit, den die alte Blackwood vom Zaun gebrochen hat, war echt nicht nötig. Es ist doch seit jeher bekannt, dass wir die Berufstätigen vor den Pensionisten drannehmen. Trotzdem war es ein sehr aggressiver Streit und nicht nur zwischen den beiden, es haben sich alle eingemischt. Ich habe keine Ahnung, was da los war. Und wo die Männer abgeblieben sind, weiß ich auch nicht. Ein vernünftiger, ruhiger Mann wäre heute ein echter Gewinn gewesen. Selbst dann, wenn es ein hässlicher gewesen wäre“, witzelte die Sprechstundenhilfe und Rosalie legte ihr lachend die Hand auf den Unterarm.
„Ich gehe heute früher nach Hause, die Befunde diktiere ich morgen. Du kannst auch Schluss machen. Dreh’ mit deinem Hund eine Extrarunde, er wird es dir danken!“
Rosalie trat auf die Straße hinaus und sah sich um. Die Farben der Natur boten nun ein völlig anderes Bild als noch am Morgen. Was sie allerdings sehr wundert war die Tatsache, dass niemand über das Phänomen sprach. Eigentlich musste jeder einzelne Bürger besorgt sein. Sie sah sich um und verspürte keine Panik, sondern eher etwas Friedliches in sich. Und vielleicht war es genau das, was die anderen auch spürten und sich deshalb nicht besorgt zeigten. Bevor sie jedoch nach Hause fuhr, lenkte sie ihren Wagen zur Greißlerei, weil sie keine Lust hatte, in den Supermarkt der nächsten Stadt zu fahren. Die wenigen Lebensmittel, die sie im Moment brauchte, bekam sie auch hier. Und sie war im Moment auch bereit, die unverschämt hohen Preise dafür zu bezahlen. Sie wollte weder noch eine halbe Stunde im Auto sitzen noch stundenlang an einer Supermarktkasse mit einer übermüdeten Kassierin anstehen. Und von Menschen hatte sie an diesem Tag auch schon die Nase voll.
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Eine kleine Gruppe Menschen verließ gerade den Bahnhof. Wie in jedem kleinen Dorf kannten die Bewohner einander und deshalb unterhielten sie sich ausgelassen miteinander, während sie am Gehsteig entlang schlenderten. Der Tag war zwar heiß, aber sie hatten dennoch keine Eile nach Hause zu kommen. Sie erfreuten sich am Small Talk und noch mehr über einen handfesten Skandal, von dem sie vielleicht erfuhren.
Gerade als sie in die Mainstreet eingebogen waren, verlangsamte eine der Frauen ihren Schritt. Sie spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, der seine Eiszapfen sogar in ihre Ohren bohrte; gleichzeitig stellten sich ihre feinen Nackenhärchen auf. Sie blieb stehen und drehte sich vorsichtig um. Irgendjemand oder irgendetwas beobachtete sie, das war deutlich zu spüren. Und richtig. Hinter ihnen standen vier Hunde, die sie aus kalten Augen beobachteten. „Los, gehen wir schneller, das ist mir nicht geheuer!“, forderte sie die anderen auf und die Gruppe bewegte sich nun eiligen Schrittes die Hauptstraße entlang. Doch die Hunde folgten ihnen. Lautlos, aber mit gespitzten Ohren trotteten sie ihnen hinterher. Bemühten sich, ihre Erregung in Zaum zu halten und auf keinen Fall ihre spitzen Fangzähne zu zeigen. Ihre Schwänze zuckten als wollten sie die Ode an die Freude vor einem Millionenpublikum dirigieren und ihr Fell stellte sich wellenförmig auf, als würden Windböen über eine nicht gemähte Graslandschaft streifen.
Die Tiere beäugten die kleine Gruppe vor sich argwöhnisch, doch sie hielten immer exakt denselben Abstand. Blieb die Menschengruppe stehen, hielten auch sie an. Oder sie verlangsamten, beziehungsweise beschleunigten ihre Schritte, wenn die anderen es taten. Und sie gaben weiterhin keinen Laut von sich, was die Leute zunehmend beunruhigte. Mit immer schnelleren, mittlerweile trippelnden Schritten strebten sie auf den kleinen Dorfladen zu, der Schutz und Zuflucht versprach, weil er zu dieser Tageszeit mit Sicherheit geöffnet hatte.
Mit geflüsterten Worten hatten sie beratschlagt, wo sie Schutz suchen sollten und in der Eile ein paar Vorschläge unterbreitet. Doch es wäre gut möglich gewesen, dass die Angestellten des Gemeindeamtes gerade ihre Mittagspause abhielten und deshalb das große Tor aus dickem, rotbraunem Palisanderholz, das dem Gebäude den schwachen Anschein verlieh, eine uneinnehmbare Festung zu sein, abgeschlossen hatten.
Jeder Einzelne von ihnen wusste auch, dass Hochwürden die Tore seiner Kirche stets von sechs Uhr morgens bis nach dem Ende der Abendmesse um neunzehn Uhr für seine Schäfchen offen hielt. Doch in den heiligen Räumen Zuflucht vor einer bösen Ahnung zu nehmen, schien ihnen frevelhaft, ja direkt schon gotteslästerlich. Oder war es doch eher der Glaube, dort nicht wirklich sicher zu sein? Gab es da Ansätze in jeder einzelnen Seele der kleinen Gruppe, die am Herrn zweifelten? Jeder für dachte kurz darüber nach, gab sich jedoch nicht die Blöße, es mit den jeweils anderen zu besprechen. Zu groß war die Scham, als nicht gottesfürchtig zu gelten. Aber es war auch eine Schande, solche Gedanken überhaupt zu hegen! Die Scham kroch lautlos über jeden einzelnen Nacken und zog ihre Schultern nach oben. So hoch, dass sie beinahe bis an die Ohrläppchen reichten, was ihnen einen unwuchtigen Gang verlieh.
Als sie endlich den Laden erreicht hatten, versuchten sie beinahe alle, gleichzeitig durch die Tür zu gelangen. Sie stießen, rempelten und boxten, damit sie die ersten sein konnten, die das sichere Land erreicht hatten. Eine Rettung aus tosenden Fluten hätte nicht anders aussehen können. Die Letzte schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich kurz dagegen.
Hinter der Tür standen sie nun wieder vereint und atmeten durch. Doch Mel sah zum Fenster hinaus und stieß einen spitzen Schrei aus. Die Hunde kamen näher, richteten ihre Augen weiterhin auf sie und ihre Mitstreiter. Strebten unablässig auf die Tür zu, die jetzt gar nicht mehr so sicher erschien wie noch vor wenigen Sekunden. „Schiebt die Tiefkühltruhe vor die Tür, schnell!“, schrie Mel schon direkt hysterisch, doch Grant, der Ladenbesitzer, schoss hinter seiner Theke hervor.
„Moment, meine Dame, Sie werden schön die Finger von meiner Tiefkühltruhe lassen und mir erklären, was das Ganze überhaupt werden soll.“
Mel sah ihn mit ängstlichen Augen an. „Die Hunde werden hier hereinkommen und uns alle töten!“, wisperte sie mit zitternder Stimme und bewegte sich langsam von der Tür weg in Richtung der hinten gelegenen Privaträume.
Grant setzte ein trotziges Gesicht auf und sah aus dem Fenster. Die Hunde standen zwar in einem Rudel vor der Tür, aber seiner Meinung nach ging keine Bedrohung von ihnen aus. Als er vorsichtig die Tür öffnete, sahen sie ihn gleichzeitig an, fixierten ihn eine Sekunde lang und wedelten dann mit dem Schwanz. Nach einigen weiteren Sekunden hatten sie das Interesse an dem Ladenbesitzer, der ihnen keine Wurstzipfel und keine Kuchenreste überlassen wollte, verloren und sie trotteten in alle Windrichtungen davon.
Grant schloss die Tür und sah seine verängstigten Besucher an. „Man kann bei der Hitze schnell überreagieren, das kommt schon mal vor. Womit kann ich dienen? Ich habe frische Wassermelonen, kalten Eistee und herrlich kühlen Zitronenkuchen. Hat meine Frau heute am Morgen frisch gebacken; den kann ich wirklich wärmstens empfehlen.“
Die geistige Starre, in der sich die kleine Gruppe befunden hatte, löste sich langsam auf und anstelle der Paralyse schlich sich nun leichte Verwirrung sowie Scham in das Denken ein. Sie alle waren beschämt und kauften neben dem Zitronenkuchen auch Unmengen an Wassermelonen und Eistee als Wiedergutmachung für ihr abstruses Verhalten. Auf dem Kuchen türmte sich in kleinen Wellen eine weiße Baisermasse, die an die Schaumkronen des Meeres erinnerte, wenn der Wind die salzigen Tropfen gegeneinander peitschte. Grant teilte die ganze Torte auf, legte sie auf rechteckige Pappteller und schlug die einzelnen Stücke in Papier ein. Seine Frau würde in diesem Verkauf eine Bestätigung ihrer Backkünste sehen. Grant hingegen war nur wichtig, dass die Kasse klingelte, denn seit der Eröffnung des neuen Supermarkts ein paar Kilometer entfernt hatte er schwere finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Da kam ihm die verängstigte und beschämte Gruppe gerade recht.
Während Grant das Geld kassierte konnte er die erneut aufflammende Unruhe in der Gruppe direkt spüren. Sie hatten noch immer Angst vor den Hunden, obwohl sie sich längst getrollt hatten. Irgendetwas schien also an der Panik dran zu sein. Oder es handelte sich einfach um die berühmte Gruppendynamik, die in solchen Fällen sicher zu tragen kommt. Einer hat Angst und die anderen übernehmen diese Emotion ungefiltert und unreflektiert. Wie auch immer, er freute sich, ein gutes Geschäft mit ihnen gemacht zu haben und öffnete die Tür.
Doch Mel ließ es sich nicht nehmen, vorab einen sehr langen, umherschweifenden Blick durch das Fenster auf die Straße zu werfen. Dann verabschiedeten sie sich von Grant, dankten ihm für die Waren und versprachen, alsbald wieder zu kommen.
Als Mel ihren Fuß vor die Tür setzte, zögerte sie. Immerhin konnten die Hunde um die Ecke lauern und nur darauf warten, bis sie und ihre Verbündeten auf offener Straße waren um sie anzugreifen. Doch nichts geschah. Die Hunde waren nicht mehr zu sehen, aber es hing noch ein Hauch von Gefahr in der Luft, die die kleine Gruppe noch immer verspürte. Deshalb verabschiedeten sie sich rasch voneinander und liefen nach Hause, wo sie sich sicher fühlten.
Rosalie begegnete den Leuten, die vorsichtig einen Fuß nach dem anderen aus dem Laden auf die Straße hinaus setzten und glaubte, in ihren Gesichtern ängstliche Züge erkennen zu können. Doch sie wollte sich nicht mit deren Ängsten belasten. Falls sie darunter litten, sollten sie in ihre Praxis kommen. Deshalb ignorierte sie die kleine Gruppe und betrat den Laden. Grant stand noch hinter einem der Fenster und sah auf die Straße hinaus.
„Haben Sie die Hunde gesehen, Frau Doktor?“, fragte er, ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen.
„Welche Hunde? Nein, ich habe keine gesehen. Hatten denn diese Leute vor streunenden Hunden Angst?“, fragte sie und war nun doch neugierig geworden.
„Es waren keine streunenden Hunde, sondern der Riesenschnauzer von den Ellsons und der weiße Labrador, der dem Enkel von Luis Travolli gehört. Sie wissen schon, das kleine Pferd, dem nur noch das Horn auf der Stirn fehlt.“ Grant wollte witzig sein, brachte es aber nicht so richtig zustande. „Insgesamt waren es sechs Hunde, die normalerweise alle brav zu Hause sind und faul im Garten herum liegen und darauf warten, dass ihre Herrchen von der Arbeit heimkommen. Ich weiß nicht, was sie auf der Straße wollten und vor allem gemeinsam.“
Rosalie sah ihn an. „Wieso fürchtet man sich vor Hunden, von denen jeder weiß, dass sie ungefährlich sind? Na wie ich auch immer, ich habe sie jedenfalls nicht gesehen. Haben Sie Mangos? Ich brauche zwei reife Früchte, einen Sandwichwecken und ein Glas saure Gurken. Und geben Sie mir auch noch einen großen Becher Joghurt dazu. Das wäre alles.“
Sie hatte keine Lust mehr, sich über Hunde zu unterhalten, die zufällig miteinander auf der Straße gespielt haben. Sie sah sich in dem kleinen Laden um, der noch an die Zeit der Goldgräber erinnerte. Sie mochte den leicht muffigen Geruch der alten, abgetretenen Holzdielen im Verkaufsraum, die Mischung aus den verschiedensten Aromen, die aus den Holzfässern, Brotkörben und vom Obst aus ging. Es war auch ein etwas finsterer Laden und dennoch keinesfalls schmuddelig oder Furcht einflößend. Grant war angeblich schon in der vierten Generation Greißler und er übte einen Beruf als Berufung aus; manchmal mehr, als den Kundinnen lieb war.
„Ach ja, fast hätte ich es vergessen! Die Butter ist auch ausgegangen. Ein viertel Kilo bitte“, unterbrach sie ihre Gedanken und kehrte wieder in die Realität zurück.