Kitabı oku: «Das Phänomen», sayfa 6

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Den Nachmittag verbrachte sie am Strand, grub ihre Beine in den rostrotgelben Sand ein und beobachtete die Wellen, auf denen blaubraune Schaumkronen tanzten. Sie sah dem bunten Sand zu, wie er Körnchen für Körnchen von ihrer Haut rieselte und ein kaum wahrnehmbares Kitzeln hinterließ. Langsam gewöhnte sie sich an das bizarre Farbenspiel und es erinnerte sie daran, dass sie einige Tests durchführen lassen wollte. In diesem Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass dieses prächtige Farbenspiel von einer chemischen Verunreinigung stammen und giftig sein könnte. Sofort sprang sie auf und fegte panisch mit den Händen die Sandkörnchen von ihrer Haut.

Dann nahm sie Kurs auf ihr Haus um im Labor anzurufen. Doch vorher stattete sie dem Haus von Marisha noch einen Besuch ab. Die alte Lady war bereits vom Bestatter abgeholt worden, der Totenschein war weg. Rosalie seufzte, denn mit diesem Tag begann eine neue Ära für sie; ein Leben ohne die verwirrte Dame, der sie immer wieder aus einem Buch vorgelesen hatte. Sie vermisste sie jetzt schon.

Noch bevor Taylor von der Uni nach Hause kam, bereitete sie einen schnellen Mango-Joghurt-Kuchen ohne ihn backen zu müssen zu und stellte ihn im Kühlschrank kalt. Er diente als Teil des Abendessens, das lediglich aus Sandwichscheiben mit Salat, Tomaten, Schinken, Käse und sauren Gurken bestehen sollte. Sie hatte keine Lust, sich noch an den Herd zu stellen um zu kochen und Taylor war ein äußerst dankbarer Futterverwerter. Er aß, was auf den Tisch kam und lobte es auch noch. Auch dafür liebte sie ihren Mann. In vielen Bereichen war er völlig unkompliziert, doch in wenigen Belangen konnte er sie und auch viele andere zur Weißglut treiben. Vor allem dann, wenn er sich in ein Thema verbissen hatte. Dann konnte man ihn durchaus mit dem Leittier einer Vielfraßgruppe vergleichen; auch wenn der Vielfraß ein Einzelgänger ist. Hin und wieder nervte sie diese Art, dass er mit dieser Vehemenz vorging, aber dieses Mal war sie darüber froh. Sie konnte nämlich spüren, dass sich dieses Problem nicht von selbst lösen würde.

Taylor kam gut gelaunt von der Arbeit und stürzte sich über die Sandwiches als wären sie feinster Lachs, garniert mit teurem Kaviar. „Ich habe heute übrigens mit Melvin telefoniert, du weißt schon, dem Rektor der Stadlin Universität für Biologie. Natürlich habe ich ihm von unserem Phänomen erzählt und er hat mir seine gesamte Bibliothek zur Verfügung gestellt. plus jeden Professor und Dozenten, wenn ich mit jemandem ein Problem diskutieren möchte. Normalerweise ist er sehr zurückhaltend, wenn es um seine Bücher und sein Personal geht. Scheinbar interessiert ihn dieses Phänomen und er möchte mehr wissen.“

Rosalie strahlte ihn an. „Das ist ja fantastisch! Vielleicht handelt es sich tatsächlich nur um eine chemische oder biologische Verunreinigung der Luft durch die Industrie. Ich habe bereits Messungen angeordnet, sie werden noch heute durchgeführt. Luft, Boden, Gras, Blätter und Gebäudeoberflächen. Das war’s mal für den Anfang. Wenn wir mehr brauchen, werden wir überlegen, was sinnvoll scheint.“

„Und die Ergebnisse nehme ich an die Stadlin Uni mit. Eine bessere Adresse zur Aus- und Bewertung gibt es wohl kaum“, freute sich Taylor.

„Was ist aber, wenn es keine Umweltgifte sind, die das Farbspiel verursachen?“, fragte Rosalie und nahm den Mangokuchen aus dem Kühlschrank. Damit hatte sie die Aufmerksamkeit ihres Mannes verloren, der schon nach dem Messer griff noch ehe sie die Dessertteller auf den Tisch gestellt hatte. „Damit hast du dich wieder mal selbst übertroffen!“, lobt er sie und leckte die Kuchengabel mit Hingabe ab. „Ist auch noch ein zweites Stück drin?“, fragte er, als er die Krümel mit der Fingerbeere vom Teller pickte. „Der ist echt fantastisch“, kommentierte er und ließ sich ein weiteres Stück auf den Teller legen.

„Heute hatten sieben Frauen in meiner Praxis einen handfesten Streit“, versuchte Rosalie wieder auf das Thema Phänomene zu lenken. Die Komplimente bezüglich des Kuchens waren zwar sehr nett gemeint, aber in Anbetracht der prekären Situation empfand sie dieses Thema als absolut oberflächlich. „Mrs. Blackwood hat sogar auf eine andere Patientin mit ihrer Handtasche eingeschlagen!“

Taylor prustete los und musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht winzige Kuchenstücke, vermischt mit Speichel, auf dem Tisch zu verteilen. „Was? Die alte Blackwood? Das wundert mich ehrlich gesagt nicht. Sie war schon in früheren Zeiten eine bissige Ziege. Worum ging es bei dem Streit?“

„Die andere Patientin musste zur Arbeit und wollte deshalb vorgelassen werden.“

Taylor sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. „Uhh, das ist natürlich ein Grund, jemanden zu vermöbeln, da verstehe ich die gute Mrs. Blackwood nur zu gut“ witzelte er, bekam aber sofort wieder einen ernsten Gesichtsausdruck als er das Missfallen seiner Frau spürte.

Nach ein paar Sekunden des Schweigens fuhr sie fort: „Es war jetzt kein normaler Streit, sondern ein richtig aggressiver, mit eindeutigen Schlägen unter die Gürtellinie. Und es haben nicht nur die beiden gestritten, sondern alle sieben! Es wurden auch Themen aufgegriffen, die nichts mit dem ursprünglichen Thema zu tun hatten. Mrs. Drawling warf einer Patientin vor, jedes Kind von einem anderen Mann zu haben und Mrs. Blackwood wurde beschuldigt, ihr Leben lang die Beine breit gemacht zu haben, nur um finanziell von ihrem Mann ausgehalten zu werden.“

Taylor pfiff durch die Zähne. „Na das ist aber schon starker Tobak. Ob das nicht auch vielleicht mit dem Phänomen zu tun hat? Normal ist das jedenfalls nicht. Nicht in dieser Intensität.“

„Genau darauf will ich hinaus“, ereiferte sie sich und erzählte gleich darauf die eigenartige Geschichte mit den Hunden vor der Greißlerei. Während sie sie erzählte, erschien sie ihr immer merkwürdiger, obwohl sie sie im Laden noch als völlig harmlos abgetan hatte.

Taylor hatte währenddessen sein zweites Stück Kuchen verputzt und schon zu seiner Mappe gegriffen, um die wichtigsten Fakten der beiden Vorfälle zu dokumentieren. Jeder Fall bekam natürlich wieder ein eigenes Blatt.

„Mich fasziniert die Vielfalt der Ereignisse, die sich seit vorgestern abspielen. Oder wir jagen hier einem Phantom nach, weil es solche Vorfälle schon immer gegeben hat, wir aber nicht sensibel genug darauf reagiert haben. Mit Ausnahme der unnatürlichen Landschaftsfärbungen natürlich. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir aufmerksam genug waren, um solche Vorkommnisse zu registrieren und in einen Kontext zu bringen.“

Rosalie nickte nachdenklich. „Das kann gut möglich sein. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die Häufigkeit solcher Vorfälle früher nicht gesehen haben oder ob sie jetzt wirklich gehäuft auftreten. Wir sollten von offizieller Seite her nichts überstürzen, sonst machen wir uns lächerlich und das wollen wir nicht, oder?“

Taylor pfiff erneut durch die Zähne. „O yeah, du hast vollkommen recht, Baby!“, gab er betont lässig von sich und streckte ihr seinen Zeigefinger entgegen.

„Aber du könntest vielleicht mal mit diesem, na, wie heißt er noch gleich? Lionel reden. Mit dem Psychiater. Vielleicht hat er eine plausible Erklärung für die Aggressivität unter deinen Patientinnen und für das atypische Verhalten von Sandy und Benny. Eventuell löst sich nach einem Gespräch mit ihm alles in Wohlgefallen auf oder er kann helfen, die Fälle zu klären. Oder er hat einfach nur eine Erklärung für alles. Mir würde schon eine Einschätzung von psychiatrischer Seite reichen. Es ist auf alle Fälle eine Absicherung für uns.“

Rosalie fiel ihm um den Hals. „Du bist ein Genie! Darauf wäre ich nie gekommen“, rief sie aus und küsste ihn.

Dann griff sie nach dem Handy, suchte die Nummer Lionels heraus und rief ihn an. Leicht nervös trommelte sie mit den Fingern auf den Tisch und biss sich leicht auf die Unterlippe ohne es zu bemerken. Während ihres Studiums waren Lionel und sie einander nähergekommen, auch wenn es keine richtige Beziehung war. Sie gingen häufig miteinander aus, knutschten in dunklen Ecken und versuchten, sich gegenseitig die Rätsel der Medizin zu erklären. Nur zu gut konnte sie sich an jenen Abend kurz vor dem Ende des dritten Semesters erinnern. Sie waren in einer schmierigen Bar, in der Burger um neunzig Cent serviert wurden und sie teilten sich einen, weil das Geld für zwei nicht langte. Der Barkeeper wies sie nach drei Stunden darauf hin, dass sie nun entweder noch etwas konsumieren oder den Laden verlassen müssten. Rosalie benutzte noch die Toilette, trank Wasser aus dem Hahn und verabschiedete sich mit einem frechen „Das ist hier ohnehin ein Saftladen“ vom Barkeeper. Vor der Tür nahmen sie allerdings die Beine in die Hand, da der ziemlich groß gewachsene und sehr breit gebaute Kellner diese Beleidigung rächen wollte. Seine dicken Oberschenkelmuskeln trugen ihn aber nicht sehr schnell und auch nicht sehr weit und somit gab er nach wenigen hundert Metern die Verfolgung auf.

Just in dem Moment donnerte ein Platzregen auf die beiden hernieder und sie standen auf offener Straße. Rosalie lachte noch immer über den etwas tollpatschig wirkenden Muskelprotz und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Ihre blanken Brüste glänzten in Schein der Straßenlaterne silbrig. Lionels Augen traten wie die einer Weinbergschnecke hervor und aus seinem offenstehenden Mund drang kein einziger Laut. Nach rund einer Minute schnappte er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft; er hatte sogar zu atmen vergessen.

Rosalie hingegen hielt ihr Gesicht in den Himmel und sprang ausgelassen auf der leeren Straße umehr. Ihre festen, relativ großen Brüste wippten dabei im Takt auf und ab. Lionel ließ sich von ihrer guten Laune anstecken, streifte ebenfalls sein T-Shirt ab und tanzte mit ihr die Straße entlang. Oder aber er hatte Angst, beim Anblick ihres formschönen Busens schwach zu werden und hatte sich deshalb mit dem Tanzen abgelenkt. Darüber gesprochen hatten sie danach niemals.

Als sich ihr ehemaliger Studienfreund meldete, zuckte sie kurz zusammen, denn sie war noch fest in der Erinnerung verankert.

Nachdem sie ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, kam sie gleich zur Sache und erklärte die Sachlage in ihrem Dorf und formulierte ihre Bitte an ihn. Dann biss sie sich wieder leicht auf die Unterlippe und wartete gespannt auf seine Antwort. Es dauerte bei ihm immer eine geraume Zeit, bis er sich zu einer Antwort entschließen konnte. Das hatte sie nicht nur zu Studienzeiten rasend gemacht, sondern auch noch während der darauffolgenden Jahre, in denen sie nur noch telefonischen Kontakt zu ihm pflegte.

„Nun ja, das hört sich tatsächlich sehr interessant an und es ist selbstverständlich, dass ich die Situation näher unter die Lupe nehme. Kann ich gleich morgen kommen? Da ist mein freier Tag. Aber nur, wenn du mir deine köstliche Studentenlasagne servierst. Ohne Gage rühre ich nämlich keinen Finger, nicht einmal den kleinen!“

„Lasagne, so viel du essen kannst, versprochen! Ich freue mich schon auf dich, bis morgen dann!“

Taylor beäugte sie etwas misstrauisch, schob aber seine Bedenken, dass zwischen den beiden wieder etwas aufflammen könnte, beiseite. „Aber von der Studentenlasagne will ich auch ein Stück abhaben. Und es muss genauso groß wie Lionels sein, wenn nicht sogar noch größer“, räumte er mit einem leichten Anflug von Eifersucht ein. Rosalie lächelte ihn an, küsste ihn und nickte bestätigend.

„Jetzt muss ich aber noch mal zu Grant, um Lasagneblätter und Faschiertes zu kaufen. Fährst du mit?“, fragte sie und schnappte ihren Autoschlüssel. Ohne zu antworten stand er auf und hielt ihr mit einer galanten Verbeugung die Haustür auf.

Während Rosalie sich beim Greißler umsah, stöberte Taylor in den Zeitungen herum, da er sich nicht mit Emma, der Kindergärtnerin unterhalten wollte. Sie war mit ihrem sechsjährigen Sohn Nathan ebenfalls einkaufen und beäugte jedes Stück Obst, das in den Kisten lag, mit Argusaugen. Nathan trieb sich währenddessen bei den Süßigkeiten herum, warf aber dann einen Blick auf Rosalie und schlenderte lässig auf sie zu. „Gott zum Gruße, edles Fräulein. Gebet mir doch Preis, wo ich einen Humpen des besten Gerstensafts erstehen kann und was ich dafür berappen müsste; ich hatte seit dem gestrigen Tage keinen mehr! Mein Odem ist schon ganz trocken und mein Wanst ist leer!

Meine Queste nach dem Bollemoschder könnten Sie, oh holde Maid, vielleicht auch beenden?“

Rosalie starrte den sommersprossigen Jungen an. Auch Taylor hatte diese Worte gehört und konzentrierte sich auf den Jungen. Geistesgegenwärtig übernahm er die Rolle seiner Frau und gab ihm an ihrer Stelle Antwort.

„Ihr müsset in die Herberg gehen, dort schenket der Wirt gut ein. Aber nur, wenn ihr Silberlinge habt. Dero zwei sollten reichen für einen Humpen. Und lasset euch nicht auf eine Disputatio mit dem Bollemoschder ein, er ist nicht gut auf Auswärtige zu sprechen!“

Nathan lachte süffisant auf. „Ihr glaubet wohl, ich sei ein tumber Tor? Mitnichten! Aber hier gefallet es mir nicht, ihr nidet mir nur.“ Dann drehte er sich um und spazierte zur Tür. „Nun denn, gehabt Euch wohl!“, sprach der Knirps und war auch schon bei der Tür draußen.

Grant, Rosalie, Taylor und Emma starrten auf den Platz, wo gerade Nathan gestanden und diese eigenartigen Worte von sich gegeben hatte. Die Erste, die sich bewegte, war seine Mutter. Sie ließ die Mango in die Kiste zurückfallen und lief ihrem Sprössling hinterher. Wohl weniger um ihn nach den Worten zu fragen als ihn vor den Gefahren der Straße zu beschützen.

„Was zum Teufel war das denn?“, fragte Grant und entschuldigte sich sofort für seinen verbalen Missgriff.

Taylor schüttelte ungläubig den Kopf. „Das war die Sprache des sehr späten Mittelalters, beziehungsweise wurde sie auch noch vor etwas mehr als einhundert Jahren in unseren Breiten gesprochen. Woher hat dieser Junge diese Ausdrücke nur?“, fragte er und lief ebenfalls aus dem Laden ohne die Zeitung zurück ins Regal zu stecken.

Rosalie verließ gleichfalls den Laden und stürmte den dreien in Richtung Rathaus nach. Nur Grant blieb in der Nähe seines Ladens, stand aber in der Mitte der Straße, um noch einen Blick auf die vier Laufenden erhaschen zu können.

Nachdem Taylor Nathan erreicht und zum Stehen bleiben überredet hatte, legte er ihm die Hand auf die Schulter und lobte ihn für seine Schnelligkeit und Kondition. „Dafür hast du dir ein Eis verdient. Du magst doch Eis, oder? Welches hättest du denn gern?“

Nathan keuchte zwar ein wenig, grinste aber glücklich. „Schokolade, Marille und Kirsche“, war die prompte Antwort und er machte sich sofort auf den Weg zum Eissalon gleich um die Ecke.

Emma wollte schon Protest einlegen, weil der Zucker im Eis seinen Zähnen schaden könnte, doch Rosalie nahm sie beherzt zur Seite und sah sie eindringlich an. „Taylor muss sein Vertrauen gewinnen um herauszufinden, woher er diese Worte kennt und weshalb er so spricht. Das geht bei Kindern am besten mit Süßigkeiten. Drücken Sie einfach ein Auge zu, denn es ist sehr wichtig. Vielleicht können Sie mir sagen, wo er diese Sprache gehört hat und weshalb er sie so gut nachahmen kann. Haben Sie eine Idee?“

Rosalie zog Emma auf eine Bank. „Hat er schon jemals so gesprochen?“

Emma schüttelte energisch den Kopf.

„Waren Sie in letzter Zeit mit ihm in einer Mittelalterausstellung? Oder in einem Verein, in dem diese Sprache gepflegt wird? Vielleicht hat er sie in einem Film gehört? Denken Sie bitte nach, es ist wirklich wichtig“, insistierte Rosalie und legte ihre Hand vertrauensvoll auf die ihres Gegenübers.

Emma starrte blicklos auf einen Punkt auf der Straße, schüttelte aber nach geraumer Zeit den Kopf. „Nein, nichts dergleichen. Ich achte sehr darauf, was er hört oder sieht und mit dem Mittelalter bin ich sehr vorsichtig, weil es von Gewalt und Mord geprägt ist. Mein Nathan soll in eine liebevolle Kindheit gebettet sein und nicht mit all den Grauen der Welt konfrontiert werden, die sie zu bieten hat. Er wird noch früh genug die Grausamkeit am eigenen Leib erleben müssen.“

Rosalie hatte den Verdacht, dass Emma ihren Sohn unter eine Käseglocke setzt, in der es nichts als Sonnenschein gab. Der arme Junge wird aufs Leben absolut nicht vorbereitet, dachte sie leicht erzürnt. Sie nimmt ihm die Möglichkeit, sich an die zum Teil doch sehr grausame Welt zu gewöhnen.

Aber dann rief sie sich selbst zur Ordnung, denn es war nicht ihr Junge und deshalb hatte sie auch nicht das Recht, über Emmas Erziehungsmethoden und Einstellungen zu urteilen.

Sie breitete ihre Arme wie ein Priester bei der Einladung ‚Lasset uns beten’ aus und hob ratlos die Schultern. „Wo kann er dann diese Worte aufgeschnappt haben? Was denken Sie?“

Rosalie war klar, dass die Frau keine Ahnung hatte, wollte aber herausfinden, ob sie diesen Vorfall mit all den anderen Ereignissen in Zusammenhang brachte. Doch Emma schien all die Veränderungen rund um sie auszublenden und da schien sie nicht die Einzige zu sein. Offensichtlich wollte sich keiner mit dem Phänomen auseinandersetzen; ausgenommen sie selbst und ihr Ehemann. Das stimmte sie einerseits traurig, weil die Menschen nicht bereit waren, Änderungen zu erkennen und zu hinterfragen, andererseits war sie froh darüber, denn so wurde wenigstens keine Massenpanik und Landflucht ausgelöst. Wie immer hat alles seine Licht- und seine Schattenseite, dachte sie und hatte plötzlich auch Appetit auf Eis. Sie lud Emma ein und sie unterhielten sich vorwiegend über Kinder, obwohl sich Rosalie bei diesem Thema furchtbar langweilte. Doch sie musste die Frau so lange in Schach halten, wie Taylor mit der Befragung des Jungen beschäftigt war. Sonst lief sie Gefahr, dass Emma ihren Sohn von Taylor weg schleifte und das musste sie mit allen Mitteln verhindern. Sie betete nur inständig, dass sie bei dem sinnbefreiten Gelabere nicht einschlief.

Das mittelgrüne, mit Gänseblümchen bedruckte Kleid, das Emma bis zu den halben Waden reichte, drückte im Prinzip ihre Persönlichkeit aus. Wohl kaum ein Mann, und war er noch so scharf auf jede Frau, wäre auf die Idee gekommen, die Form ihrer Brüste erahnen oder einen lüsternen Blick auf ihren Po werfen zu wollen. Sie strahlte eine Reinheit und Naivität aus, die noch nicht einmal ein Säugling in sich trug. Diese Frau schien fragiler als Windhauch zu sein und frei von jeglichen Anzüglichkeiten. Woher sie Nathan, ihren Sohn hatte, war Rosalie ein Rätsel. Dass Emma zumindest ein Mal in ihrem Leben Sex gehabt hatte, wagte sie zu bezweifeln. Der Gedanke an eine unbefleckte Empfängnis durch eine Samenspende schien ihr schon realistischer zu sein.

„…. ist schon sonderbar, finden Sie nicht auch?“ Rosalie wurde durch diese Frage aus ihren Gedanken an Sex gerissen und schämte sich diesbezüglich ein wenig. Diese Frau hatte ihr vermutlich eine blütenreine Geschichte erzählt während sie schmutzigen Gedanken nachgehangen war; wie verwerflich!

Noch während sie nach einer unverfänglichen, so gut wie überall passenden Antwort in ihrem Kopf kramte, führte Taylor den Jungen aus dem Eissalon. Sofort sprang Emma auf, zückte ein Feuchttuch und reinigte Nathan den Mund sowie die Finger, obwohl keine Eisspuren sichtbar waren. Rosalie wettete mich sich selbst, dass in dem Tuch auch eine Spur von einer Desinfektionslösung enthalten war. Fremde Keime hatten doch nichts auf ihrem Sohn zu suchen!

Rosalie musste sich ein Schmunzeln verkneifen. „Ist euer Männergespräch beendet?“, fragte sie Nathan und er quittierte den Ausdruck ‚Mann’ mit einem lässigen ‚yep’. Aber nur so leise, dass es seine Mutter nicht hören konnte. Vermutlich hätte er für dieses Wort, das der Gosse entsprungen war, eine Woche Hausarrest aufgebrummt bekommen.

„Haben Sie verstanden, was mein Kleiner im Laden gesagt hat? Und warum er es gesagt hat?“, fragte sie Taylor besorgt und drückte ihn mit dem Rücken an ihre Beine.

„Kurz zusammengefasst hat er nach einer Kneipe gefragt, wo er Bier trinken könne und mit dem Bürgermeister wollte er auch reden. Das war’s in etwa. Aber es waren nicht seine Worte, also bestrafen Sie ihn nicht dafür. Morgen kommt ein namhafter Psychiater ins Dorf, vielleicht sollten Sie Nathan mit ihm sprechen lassen.“

Emma sah ihn völlig fassungslos an. „Bier trinken? O mein Gott! Das Kind versündigt sich schon jetzt! Wie soll das nur weiter gehen? Ja, er soll auf alle Fälle mit dem Psychiater sprechen, ich bitte sogar darum“, entgegnete sie und schob mit Tränen in den Augen ihren Jungen vor sich her.

„Ich hoffe nur, sie nimmt es ihm nicht übel“, seufzte Taylor. „Er kann sicher nichts dafür, denn er weiß gar nicht, dass er dich angesprochen hat. Ich bin mir ganz sicher, dass es mit dem Phänomen zu tun hat und es hat sich gerade um ein sehr interessantes Detail erweitert – oder vielleicht ergänzt, wer weiß.“

„Verrätst du mir, was er genau gesagt hat? Ich habe zwar der meiste davon verstanden, aber nicht alles“, erklärte Rosalie. Taylor holte ein drei Mal gefaltetes Blatt Papier aus seiner Hosentasche und reichte es ihr wortlos. Neugierig schlug sie es auf und las laut vor:

„Gott zum Gruße, edles Fräulein. Gebet mir doch Preis (erzählt mir), wo ich einen Humpen (großes Glas) des besten Gerstensafts (Bier) erstehen kann und was ich dafür berappen (bezahlen) müsste; ich hatte seit dem gestrigen Tage keinen mehr! Mein Odem (Meine Kehle) ist schon ganz trocken und mein Wanst (Bauch) ist leer!

Meine Queste (Suche) nach dem Bollemoschder (Bürgermeister) könntet Ihr, oh holde Maid, vielleicht auch beenden? Ihr glaubet wohl, ich sei ein tumber Tor? (sonderbarer Geselle) Mitnichten! Aber hier gefallet es mir nicht, ihr nidet (neidet) mir nur. Nun denn, gehabt Euch wohl!

Ihr müsset in die Herberg (Gasthaus)gehen, dort schenket der Wirt gut ein. Aber nur, wenn ihr Silberlinge (Geld) habt. Dero zwei sollten reichen für einen Humpen (für ein großes Glas). Und lasset euch nicht auf eine Disputatio (Streitgespräch) mit dem Bollemoschder ein, er ist nicht gut auf Auswärtige zu sprechen!

Es ergibt zwar Sinn, aber nicht aus dem Mund eines Sechsjährigen und auch nicht, dass er es zu mir gesagt hat. Ich denke, er wusste nicht, was er gesagt hat. Es hörte sich an, als würde Jemand oder Etwas aus ihm sprechen.“

„Diesen Eindruck hatte ich auch, deshalb sollte ihn Lionel morgen unter die Lupe nehmen. Die Sachlage hier wird immer mysteriöser“, pflichtete Taylor seiner Frau bei und schlenderte nachdenklich mit ihr Hand in Hand zurück zum Greißler Grant zurück.

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