Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 10
Ob eigentlich sie selbst wohl ebenso traurig darüber war, schon wieder weggerissen worden zu sein, oder ob es ihr längst gleichgültig war, wo und unter welchen Menschen sie lebte? Ob denn überhaupt auch ihr diese Begegnung mit ihm etwas Besonderes bedeutet hatte? Aber er dachte daran, wie isoliert und auf sich gestellt sie durch ihren Alltag gehen musste, daran, welch großen Unterschied schon allein in praktischen Dingen er gemacht hätte - hatte er sie nicht im Geiste schon immer wieder zuhause am Tisch mitessen, seine Mutter ihr mit Rat und Tat bei ihren Haushaltspflichten helfen oder sie beide gemeinsam an den Schulaufgaben sitzen sehen? Er dachte aber auch an den langen Blick, den sie getauscht und gar nicht anders gekonnt hatten - nein, es war schier unmöglich, dass nicht auch sie diese beginnende Freundschaft empfunden hatte!
So wälzte er sich hellwach, die Gedankenmühle in seinem Kopf unablässig kreisend, und das Thema, das ihm in dieser Nacht ohnehin den Schlaf geraubt hätte, trat dabei ganz in den Hintergrund. Der Vorstellung von Latein- oder Griechischunterricht, höherer Mathematik, neuen Lehrern, neuen Schulkameraden stand er nun, angesichts von Nomis Verschwinden, merkwürdig distanziert, aber auch entmutigt und kraftlos gegenüber, wie wichtig es ihm auch bis vor so kurzem noch gewesen war. Ohne ihre freudige, freundschaftliche Anerkennung, ohne ihre Begleitung und Ermutigung schien ihm jede Anstrengung dafür sinnlos. Sie hatte an ihn und diesen seinen Weg geglaubt - und nun war sie nicht mehr da, und am liebsten hätte er sich in einen Winkel seines alten erwartbaren und unspektakulären Lebens verkrochen. Morgen würde er Herrn Mäuthis sagen, er habe es sich anders überlegt, er traue sich das doch nicht zu... Er seufzte tief auf und warf sich wieder auf die andere Seite - nein, bei der Vorstellung wurde er auch wieder nicht froh. Er konnte doch seinen Lehrer, der es so gut mit ihm meinte, nicht enttäuschen! Also schön, dann würde er es eben durchziehen! Aber die rechte Freude war nicht mehr dabei. - Nein, so war es wieder nicht richtig! Hatte er nicht gesagt, Nomi glaube an ihn? Und sollte er sie jetzt Lügen strafen? Ganz im Gegenteil: nun doch gerade! Auf eine nur diffus verstandene Art spürte er, dass er es für sie tun würde, egal, ob er sie je wiedersehen würde oder nicht. Mit Inbrunst schwor er sich, als Dienst an der Freundschaft, die das Licht der Welt nicht erblicken durfte, aber, das wäre ja noch schöner! im Verborgenen durchaus am Leben war und bleiben würde, werde er sich ins Zeug legen und Erfolg haben.
Nun endlich begann er auch, von seinen eigenen Wünschen, seinem eigenen Kummer absehend, sich einfach Sorgen zu machen: Wo war sie jetzt, wie ging es ihr? War sie nicht nun wieder ganz schutz- und freundlos der Willkür, der trunksüchtigen, kriminellen Brutalität ihres Vaters ausgeliefert? Unruhig und über seine Hilflosigkeit verzweifelt drehte er sich von einer Seite auf die andere.
Und doch würde er sie suchen! Er konnte doch nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen! Er musste doch bloß sich jeden Tag ein Viertel, oder wenigstens ein paar Straßenzüge vornehmen und es dabei möglichst logisch und systematisch anfangen, dann wäre er in ein paar Wochen durch - das musste doch zu schaffen sein! „Egal: Wenn sie die Stadt nicht ganz verlassen haben, dann finde ich sie auch!“
Erst mit diesen beiden festen Vorsätzen kam er endlich so weit zur Ruhe, dass er doch noch einschlafen konnte.
Am nächsten Tag in der Schule kreisten viele der Pausengespräche unter den Klassenkameraden um Nomis Verschwinden. Karl war sich wohltuend wichtig vorgekommen, eine Neuigkeit als selbst Betroffener zum Erzählen zu haben, und entsprechend genussvoll verbreitete er sich auch über das Unrecht, das seiner Familie hier zugefügt worden war. Besondere Würze an Spannung erhielt das Ganze noch durch das Gerücht, der Vater habe zuvor einen Einbruch oder einen Raub begangen und sei viel eher deshalb so Hals über Kopf aufgebrochen und nicht so sehr, um Gulachs um die ausstehende Miete zu prellen. Dabei hatte Nomi selbst nur ein paar vereinzelte Fürsprecher, die sie davor in Schutz nahmen, mit ihrem Vater in einen Topf geworfen zu werden, und die sie eher dafür bedauerten, an einen solchen Schurken gekettet zu sein. Die meisten hielten sie einfach für ihres Vaters Komplizin und beteiligten sich eifrig an Karls Empörung und Rudolphs inbrünstigen Schimpftiraden. Beide hatten ein offensichtliches Vergnügen an dieser vermeintlichen Bestätigung ihrer von Anfang an vertretenen Ansicht und triumphierten lautstark.
Johannes bekam gleich noch seinen Teil ab, indem die beiden und noch eine Handvoll anderer nicht an Hohn und Spott für seine Parteilichkeit sparten.
Agnes und Elsa waren es vor allem, die auf Nomis Seite waren und den Jungs Widerworte gaben. „Mir tut sie bloß leid“, sagte Agnes, „und außerdem kann man sich auch wirklich Sorgen machen, was mit ihr wird. Jetzt hat sie ja vielleicht überhaupt niemanden mehr in der Nähe, der ihr helfen würde, wenn’s mal ganz schlimm kommt!“ - „Und ich find’s einfach schade, dass sie nicht mehr da ist“, ließ Elsa sich hören. „Sie war irgendwie... irgendwie was Besonderes, finde ich.“
Fritz hielt sich aus diesen Diskussionen ganz heraus. Er stand stumm und unglücklich dabei und schaute immer wieder verunsichert auf Johannes, besonders, als man dem eine besondere Zuneigung für das verschollene Mädchen nachsagte und sich darüber köstlich amüsierte. Er bewunderte ihn dafür, wie er sich gar nicht provozieren, aber ebenso wenig sich in seiner Meinung erschüttern ließ. Aber Fritz litt auch mehr denn je unter dem Gefühl der Eifersucht, das sich schon eine Weile in ihm breit gemacht hatte, seit er mit der Intuition des Abhängigen die Anziehungskraft bemerkt hatte, die Nomi auf den Freund ausübte. Das, zusammen mit den Gerüchten, dieser werde die Schule wechseln, ließ ihn sich auf ohnmächtige Weise verlassen fühlen und war dafür verantwortlich, dass seine eigene Einstellung zu dem fremden Mädchen sich gewandelt hatte: von einer anfänglichen Verwandtschaftlichkeit, die auf der gemeinsamen Erfahrung von Ausgrenzung und Gewalt beruhte, schlug diese um in ein hilfloses Neidgefühl. Das lag nicht nur an der Beobachtung von Johannes’ Faszination sondern auch daran, dass er an Nomi eine Souveränität und Kraft wahrnahm, ihre Leiden zu tragen, die ihm vollkommen abgingen. Und so kam es, dass er schließlich dem Menschen, mit dem ihn eine leidensgenossenschaftliche Solidarität hätte verbinden können, mit stiller Abneigung gegenüberstand und er nun nicht unglücklich über dessen Entfernung aus seiner Welt war. Nur als er sah, wie traurig Johannes deswegen war, und wie eingenommen von den Gedanken daran, kamen ihm Zweifel, ob die abwesende Nomi ihn ihm am Ende sogar noch vollständiger streitig machen würde als die anwesende.
Nach ein paar Tagen waren Herrn Mäuthis‘ Bemühungen, durch Nachfragen an anderen Schulen und bei der Polizei etwas über Nomis Verbleib herauszufinden, gescheitert. Bei der Polizei hatte man ihm glatt ins Gesicht gelacht: Ob er denn eine ungefähre Vorstellung davon habe, wie viel Tausende misshandelter Kinder, wie viele Schulschwänzer und wie viele Mietnomaden es in diesen Zeiten gebe, die, nachdem sie ihre Vermieter um ihre Mieten geprellt hätten, unauffindbar in irgendeinem anderen Winkel der zahllosen unübersichtlichen Elendsviertel verschwänden - ob er denn im Ernst von der Polizei erwarte, dass sie nach jedem einzelnen dieser Leute suche? – Daraufhin beschloss Johannes, nicht mehr länger damit zu warten, seine selbstauferlegte Sisyphusaufgabe in Angriff zu nehmen und sich auf eigene Faust auf die Suche zu begeben.
Inzwischen hatten die versprochenen Nachhilfestunden bei Herrn Mäuthis schon begonnen. Er hatte dafür plädiert, schon vor den großen Ferien damit anzufangen, um nur ja keine Zeit zu verlieren und so viel wie möglich von dem versäumten Stoff der ersten beiden Gymnasialjahre aufzuholen. Zum Glück hatte er, seinem eigenen Wissensdurst sei Dank, alles wahrgenommen, was einem Volksschullehrer an Aus- und Weiterbildung angeboten wurde, so dass er, in seinem Berufsstand durchaus keine Selbstverständlichkeit, unter anderem auch Latein gelernt hatte und zumindest die Anfangsgründe problemlos unterrichten konnte.
So ging Johannes denn an zwei oder drei Nachmittagen in der Woche, wenn er seine übrigen Pflichten erledigt hatte, um auf den Fersen seiner künftigen Schulkameraden neues Gebiet zu betreten und die ersten Schritte in Wissensfeldern zu tun, von denen er bislang allenfalls nur ganz entfernt gehört und sich kaum eine klare Vorstellung gemacht hatte.
Immer aber, wenn ihm zwischen all seinen alten und neuen Aktivitäten ein zusammenhängendes Stück Zeit blieb, machte er sich auf und durchstreifte nach einem vorher zurechtgelegten System verschiedene Gegenden der Stadt; lief bis in die letzten, düstersten, feucht-kühl-übelriechendsten Winkel der letzten Hinterhöfe, fragte die Leute, die er antraf, ob sie etwas von einem solchen neu aufgetauchten Vater-Tochter-Paar wüssten, wie es Nomi und Herr Beatritsch darstellten. Ab und zu kam es vor, dass er von fern eine Mädchenfigur erspähte und sich mit heftigem Hoffnungserschrecken fast sicher war, sie endlich gefunden zu haben. Immer aber stellte sich im Näherkommen bald heraus, dass sie mit Nomi, außer dass sie klein, schmächtig, dunkelhaarig und schäbig gekleidet waren, nicht auch nur die geringste Ähnlichkeit hatten.
Solche Fehlschläge ließen von Mal zu Mal mehr seine Energie für die aussichtslose Unternehmung erlahmen, bis er irgendwann bemerkte, dass er schon tagelang nicht mehr losgezogen war und sich stattdessen regelmäßig durch andere Beschäftigungen davon abhalten ließ. Da zuckte er resigniert die Achseln und fand sich mit der Schlussfolgerung ab, dass es ja sowieso zu nichts führen würde, und die gezielten Expeditionen ganz einstellte. Den auf Schritt und Tritt suchenden, prüfenden Blick allerdings, bei jedem Gang durch die Straßen der Stadt, behielt er noch lange, lange bei. Denn die Traurigkeit über den Verlust verging keineswegs zusammen mit der Motivation zur Suche, wenn sie auch mit der Zeit in tiefere Schichten seines Bewusstseins sank, wie Meeressand, der mit jedem Windstoß, jedem Regen mehr in den Lücken und Ritzen zwischen Fels und grobem Gestein verrieselt, bis er kaum noch zu sehen ist, aber doch Grund und Fundament für jeden Schritt bildet, der darüber hin geht.
Das Erlebnis jedoch der Berührung mit einem anderen Menschen, dieser andere Mensch ein Mädchen, und gerade dieses Mädchen mit genau dieser Mischung von Eigenschaften, in der Hilfsbedürftigkeit und Überlegenheit sich zu eben der einzigartigen Persönlichkeit verbanden, die wiederum etwas genauso Einzigartiges in ihm zutiefst angesprochen und zum Klingen gebracht hatte, diese Ahnung einer möglichen Menschenliebe, tief und rund, schrieb sich unmerklich, aber unauslöschlich ein in das unverwechselbare Muster seines Lebens, und blieb mit der ganz bestimmten Tönung von Licht, Klang und Aroma, die jenen Nachmittagsstunden am Wasserlauf eigen gewesen war, in ihm bewahrt. Als sie Jahre später im Religionsunterricht das Hohelied König Salomons lasen („Schön bist du, meine Freundin, ja, du bist schön. Hinter dem Schleier deine Augen...“), war es das beinahe ins Vergessen herabgesunkene Bild von Nomi am Flussufer, das ihm die Beschreibungen der schönen Shulamith vor sein inneres Auge riefen.
11. Wettkämpfe
In diesen wenigen Wochen vor den Ferien war Johannes’ bevorstehender Schulwechsel längst kein Geheimnis mehr, und schon gab es erste Anzeichen, dass Herrn Mäuthis’ Warnungen durchaus gute Gründe gehabt hatten. Es war offenkundig, dass die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung die Sache nicht als ein eher erfreuliches Detail hinnehmen und dann zur Tagesordnung übergehen konnten. Die Erwachsenen kommentierten sie verständnislos und mit Ablehnung. Die Frauen schauten kritisch nach seiner Mutter und meinten: „Eigentlich passt das gar nicht zu ihr. Das Ännchen Reiser ist doch bisher nie eingebildet gewesen!“ - „Nee, nee, glaub’ ma nur, da steckt dieser neue Lehrer dahinter, der mit dem komischen Namen. Mein Gustav ist auch bei dem, und was der so erzählt - der hat lauter so neumodischen Kram im Koppe.“ Diejenigen Männer aus dem Viertel, die schon hier gewohnt hatten, als sein Vater noch lebte, mussten an diesen und seine strebsame Unruhe denken. „Das ist ganz der alte Johann Reiser, mit seinen Plänen und Ideen. Wenn der das noch erleben könnte!“ - „Na, das glaub’ ich aber nicht, dass der sich so was hätte träumen lassen - sein Kleiner mit den Bürgerssöhnchen auf‘m Gymnasium!“ - „Eins muss denen aber klar sein: Kaufen kann der sich davon erst mal nix, von seinem Abitur oder was. Der tät besser sehen, dass er bald arbeiten geht und Geld heim trägt. Meiner dürft mir mit so gesponnenen Sachen nich kommen, dem tät ich was erzählen!“
Die Kinder aus seiner Klasse und aus der Nachbarschaft hatten nicht weniger Mühe mit der neuen Situation und mit ihrer Einstellung zu dem Jungen, der bisher zwar vielleicht immer schon ein klein wenig als Träumer oder Spinner gegolten hatte, aber doch nie ein wirklicher Außenseiter gewesen war; er war zu allem zu gebrauchen, kein Spielverderber, hatte ein gewisses Gewicht in der Clique, gar ein gewisses Gegengewicht zu Rudolph, der sonst noch unangefochtener dominiert hätte, kurz, er war einfach einer von ihnen gewesen. Nun sollte, gar wollte, er andere Wege gehen als die breit- und ausgetretenen, von denen abzuweichen keinem von ihnen in den Sinn gekommen wäre. Blicke wurden getauscht, eine betretene, verunsicherte Stimmung kehrte ein, wenn er zu einer Gruppe hinzutrat. Wie immer aber zeigten sie alle ihre je eigene typische Reaktionsweise.
Agnes war diejenige, mit der sich noch am wenigsten veränderte. Sie war so sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt, hatte so viel mit ihrem übergroßen Anteil am Zusammenhalten und Überlebenskampf ihrer vielköpfigen Familie zu tun, und so weit war die Neuerung in Johannes’ Leben von allem entfernt, was ihr eigenes Dasein bestimmte, dass es ihr gar nicht besonders schwer fiel, ihm das einfach zu gönnen und alles Glück damit zu wünschen. Auch Frieda konnte nicht viel damit anfangen, lagen doch ihre Interessen und ihr Ehrgeiz zu sehr auf ganz anderem Gebiet. Da sie aber doch ahnte, dass es irgendein, wenn auch unverstandener, Vorteil war, der dem Kameraden hier zugutekam, empfand sie doch so etwas wie Missgunst und Empörung darüber, nicht selbst in seinen Genuss zu kommen. Sie behandelte ihn daher jetzt mit einer gespielten schnippischen Hochnäsigkeit, ähnlich wie Karl, der eine brummig-maulende Jungenvariante davon abgab. Elsa ihrerseits begriff zwar nicht, wie man sich freiwillig dazu bereitfinden konnte, so viele Jahre länger zur Schule zu gehen und konnte sich nicht viel darunter vorstellen, wozu dies Opfer gut sein sollte, fand es andererseits aber wiederum spannend, interessant, eben „besonders“, und versprach sich dabei, dass auch auf ihren Alltag etwas von der abenteuerlichen Ungewöhnlichkeit abfärben würde.
Fritz war einfach nur auf unglückliche Weise mit sich selbst im Unreinen: Zwar sah er es als völlig in der Logik der Dinge an, dass sein bewunderter Held in dieser oder jeder anderen Weise ausgezeichnet wurde, blickte aber der - trotz Johannes’ anderslautenden Versprechungen - erwarteten Trennung vom Freund und Beschützer zu sehr mit eigensüchtiger Sorge und Trauer entgegen, als dass er sich einfach darüber hätte freuen können - und dafür schämte er sich dann wieder.
Rudolph schließlich legte ein latent aggressives, neidgetriebenes Überlegenheitsgehabe an den Tag, und brachte es nicht fertig, auch nur eine Begegnung mit Johannes ohne Sticheleien und Spötteleien vorübergehen zu lassen.
Der litt unter diesem Zustand, auch wenn er durch Herrn Mäuthis’ warnende Worte ja eigentlich darauf vorbereitet gewesen war. Es war ihm unbehaglich in seiner Haut und alles andere als einerlei, der Auslöser solch negativer Gefühle zu sein. Eigentlich hatte er sich selbst ganz wie immer benehmen wollen, um ihnen möglichst wenig Anlass für solche Ausgrenzungen zu bieten, aber das fiel ihm nun immer schwerer.
Eines Morgens bat die Mutter ihn, da er heute etwas später Schule hatte, sich nach dem Zeitungsaustragen für sie in die Schlange vor der Freibank zu stellen, wo man zu bestimmten Zeiten Fleisch von minderer Qualität zu geringem Preis zu verkaufen pflegte. Sie versprach, so rechtzeitig von ihrer eigenen Erledigung zurück zu sein und ihn abzulösen, dass er noch pünktlich zur Schule käme.
Eine Viertelstunde hatte er so schon gestanden, vor ihm vielleicht zehn Leute, hinter ihm eine sich zusehends verlängernde Schlange von Wartenden, die zumeist aus dem Stadtteil stammten und von denen er einige vom Sehen oder aus der Schule kannte und mit kurzem Kopfnicken grüßte. Manche unterhielten sich, tratschten, empörten sich über Teuerung und andere Unbill. Er selbst war müde und fröstelte leicht, es war ein grauer, nieselregnerischer Morgen, er zog sich unter seiner Mütze und hochgeschlagenem Jackenkragen in sich zurück und döste mit offenen Augen in die nass verschleierte Luft, auf die sich mit einem spiegelnden Film überziehenden Pflastersteine hin. Plötzlich sah er ein Paar Füße dicht neben ihn hintreten, die er gleich als Rudolphs erkannte, und blickte auf, als er in provokant beißendem Ton gegrüßt wurde: „Na, Herr Feiner-Pinkel, Herr Professor, erlauben, dass man sich zu Ihnen stellt? Oder ist man schon zu großartig, und können niederes Volk wie unsereins nicht in der Nähe dulden? Haben Euer Hochwohlgeboren etwas dagegen, dass meine Wenigkeit alleruntertänigst neben Euch wartet, um so etwas Zeit zu sparen?“ Johannes’ Stirn runzelte sich zusehends und die Augenbrauen zogen sich zusammen, während er so angeredet wurde, und, nachdem Rudolph endlich einen Punkt machte und Luft holte, schaute er ihn einen Moment lang so, kritisch, an, schüttelte dann den Kopf und gab zurück: „Oh, Mann, du bist ja echt noch blöder, als die Polizei erlaubt!“
„Was?! Sag das noch mal! Herr oberschlauer Oberschüler, glaubst du, du hast die Klugheit allein gepachtet, oder wie?!“, und Rudolph versetzte dem Rivalen wütend einen Schubs vor die Brust. „Lass das!“, schubste der zurück, und aus Püffen und Gegenpüffen wurde im Handumdrehen ein erbittertes Ringen und Kämpfen. Sie hörten nichts von den mahnenden Zurufen der Umstehenden, zu aufgebracht waren jetzt beide in ihren angestauten Ressentiments, die sich endlich entluden in diesem atavistischen Jungenskräftemessen. In Johannes gab es zwar tief drinnen die ganze Zeit über den Gedanken, das sei jetzt genau das, was er hatte vermeiden wollen. Doch der war ebenso wirkungslos gegen diesen hilflosen Zorn, den die Wand von dümmlich-arrogantem Unverständnis in ihm auslöste, auf die er bei Rudolph und seinesgleichen ständig stieß, wie es seine alltäglichen Bemühungen überhaupt waren, seine neue Situation zu einer unaufgeregt hingenommenen Normalität statt zu einem Stein des Anstoßes werden zu lassen.
Die beiden balgten sich erbittert, verbissen, schnaubend, bald ohne mehr noch wütende Worte gegeneinander auszustoßen; die Mützen waren längst in den nassen Rinnstein gerollt, während sie sich am Boden wälzten, sich die Arme verdrehten, wieder aufsprangen und sich sofort erneut angingen, sie traten nacheinander, nahmen sich in den Schwitzkasten, wanden sich wieder frei. Eine Weile blieb der Kampf unentschieden, mal lag der eine, mal der andere unten, aber nie lange genug, um Sieger und Verlierer zu bestimmen. Dann jedoch hatte Rudolph Johannes wieder einmal zu Fall gebracht, drückte ihn zu Boden und hatte Arme und Beine diesmal so fest im Schraubstock, dass der, müde gekämpft, nichts ausrichten konnte, und verlangte mit vor Kraftanstrengung gepresster Stimme: „Gib dich geschlagen! Los, gib schon zu, dass ich der Stärkere bin! Nimm das zurück, dass ich blöde bin!“, und wollte gerade ausholen, um ihm zum größeren Nachdruck seiner Forderungen mit geballter Faust zu bearbeiten, da wurde er von hinten an Jackenschoß und -kragen gepackt und so heftig geschüttelt, dass er vor Schreck seinen Griff fahren ließ; dann wurde er unsanft auf die Füße gestellt und noch mal kräftig geschüttelt und fing dann sogar noch eine Ohrfeige. „Schluss jetzt! Könnt ihr euch nicht benehmen? Wenn ihr raufen wollt, geht woanders hin, jedenfalls nicht vor meinem Laden! - Und du, steh schon auf!“, herrschte er Johannes an, der sich das nicht zweimal sagen ließ, schnell nach seiner und Rudolphs Mütze suchte und sich gesenkten Kopfes wieder in die Reihe stellte. Der Metzger ging kopfschüttelnd und mit drohender Handbewegung wieder ins Haus zurück.
Rudolph, noch ganz außer Atem, trat erneut hinzu und zischte: „Aber gib zu, dass ich gewonnen hab! Wenn der Idiot nicht gekommen wär, hättest du keine Chance gehabt!“
„Ja doch, ist ja gut“, gab dieser zurück, schon in versöhnungsbereitem Ton. „Trotzdem bist du ein blöder Kerl“, fügte er nach kurzer Pause hinzu. „Was redest du auch für einen ausgemachten Müll zusammen? Wieso sollte ich denn plötzlich zu fein sein für dich, oder sonst jemanden? Bloß weil ich ein bisschen Glück hatte, oder eher, weil ich mein Glück probieren darf, jedenfalls, was mir so vorkommt? Lasst mich doch einfach machen, wozu ich Lust hab, ist doch normal, dass jedem was anderes Spaß macht. Deswegen bilde ich mir doch nicht gleich sonst was ein, und da braucht ihr mir das auch nicht nachzusagen! Mensch, ist doch wahr!!“
Das war so schnell aus ihm herausgesprudelt, dass Rudolph keine Chance zum streitenden Widerspruch geblieben war, und jetzt, als der andere geendet hatte und ihm tatsächlich Tränen in den Augen standen, war ihm auch die Lust dazu vergangen, besänftigt durch die Genugtuung, im Ringkampf der Überlegene gewesen zu sein und, wie Johannes‘ zwar trotzige, dann aber doch auch unterschwellig bittende Rede bewies, ein starkes Gefühl bei seinem Rivalen provoziert zu haben.
Nach dieser Begebenheit entspannte sich das Verhältnis zwischen Johannes und seinen Freunden merklich und normalisierte sich einigermaßen. Rudolphs Aggressivität hatte sich Luft gemacht und sich dadurch beruhigt, zumal er sich einbilden konnte, der andere habe dabei in jeder Hinsicht den Kürzeren gezogen, was ihm das Einlenken und Versöhnen wie einen großzügigen Gnadenakt seinerseits erscheinen ließ. Und so, unter Rudolphs Einfluss, schaffte es bald auch der Rest, seinen „Sonderweg“ als gegeben hinzunehmen, sie gewöhnten sich an den Gedanken und stellten fest, dass man mit ihm ja doch dem gleichen Zeitvertreib nachgehen und auf ihn in gleicher Weise zählen konnte wie bisher.
Die letzte Schulwoche rückte näher, die letzten Klassenarbeiten waren geschrieben, das eigentliche Pensum des Schuljahres erfüllt, und ein kleiner Vorgeschmack auf Ferienstimmung stellte sich auch in den Schulstunden bereits ein. Die Anforderungen entspannten sich, es wurden auch mal einfach Geschichten vorgelesen, Ratespiele gemacht, statt Turnunterricht ging man in den fast waldähnlichen großen Stadtpark und machte dort Wett- und Ballspiele. Der alte Lehrer Schultze wäre entsetzt gewesen und hätte den allgemeinen Zerfall von Zucht und Ordnung, den Untergang des Abend-, mindestens aber des Vaterlandes prophezeit, hätte er das mitbekommen. Herr Mäuthis aber war der Auffassung, am Ende eines so zufriedenstellend verlaufenen Schuljahres hätten sich die Kinder eine kleine Auflockerung und fröhliche Belohnung verdient, und das werde auf lange Sicht überhaupt nichts schaden.
An einem Tag hatte er eine besondere „Haus“aufgabe mitgebracht: In Gruppen von je ungefähr zehn Kindern sollten sie bestimmte verschlüsselt bezeichnete Gebäude oder Denkmäler in der Stadt ausfindig machen und mithilfe von Wandgemälden, In- und Aufschriften, Plaketten und Ähnlichem, die mehr oder weniger versteckt an Mauern, Eingängen, Fassaden angebracht waren, eine Liste von Fragen beantworten, um ihre Ergebnisse am nächsten Tag ihm und dem Rest der Klasse zu präsentieren.
Das war doch mal was anderes als die üblichen Rechenpäckchen, Aufsätze und Auswendiglernereien, an denen manche mit brennend müden Augen noch bis spät in die Nacht saßen - wenn sie sie denn überhaupt erledigten und nicht hofften, am nächsten Tag Glück zu haben und einfach nicht aufgerufen zu werden.
Die „Paradies“-Kinder hatten gebeten, eine der Gruppen bilden zu dürfen, noch ein paar andere Nachbarskinder hatten sich ihnen angeschlossen, und so zogen sie am späteren Nachmittag zusammen los. Rudolph trug die Liste und las die Beschreibungen der Gebäude vor, die es zu identifizieren und aufzusuchen galt, die anderen steckten die Köpfe zusammen und lasen über seine Schultern hinweg mit. Zwischen gemeinsamem Kopfzerbrechen, halb lachendem Streit, dem Wetteifern, wer als erster die gemeinte Aufschrift fände, dem Hallo, wenn sie es schließlich richtig trafen, hatten sie zwei Stunden lang einen Heidenspaß. Endlich hatten sie alle Lösungen beisammen und waren sehr stolz auf sich.
„Ob die anderen auch so schnell fertig waren?“
„Und ob sie überhaupt alles herausgefunden haben?“
„So was könnten wir ruhig öfter mal aufhaben, finde ich.“
„Dem alten Schultze wäre so was nie im Leben eingefallen.“
„Ach was, wenn der das wüsste, der dreht sich noch nachträglich in seinem Grab um, wenn er da mal drin liegt und dann an diesen Nachmittag denkt“, feixte Rudolph. Alle lachten - aus der sicheren Entfernung - bei der Vorstellung des gefürchteten alten Paukers in seinem hilflosen Zorn gegen die Neuerungen, die der junge Kollege da einführte.
„Na, Johannes, tut’s dir denn nicht doch ein bisschen leid um den Herrn Mäuthis, wenn du jetzt weggehst?“
„Doch, klar tut es das!“, gab der zu.
Ihre Erkundungsgänge hatten sie zu einem der zentralen Plätze der Innenstadt geführt, wo noch reges Treiben herrschte. Damen mit Hutschachteln und an Bändern und Schleifen hängend balancierten Konditoreikartons, Hausfrauen und Dienstmägde mit Körben voll später Einkäufe, Ladenbesitzer, die ihre Läden absperrten und zum Abendbrot nachhause eilten, Geschäftsleute, die, eine Zigarre an den Mund führend, den Zylinderhut lupfend, entspannt schlendernd von ihren letzten Terminen kamen; dazwischen fliegende Händler, Erwachsene oder Kinder, barfuß oder in Holzpantinen, ihre Bauchläden mit Streichholzschachteln, Kurzwaren und ähnlichem Kleinzeug umgehängt; abgerissene Bettler, die versuchten, der Aufmerksamkeit des Verkehrspolizisten zu entgehen, und halbwüchsige Pennäler, die, den Blick verstohlen in der gleichen Richtung, Zigaretten tauschend und rauchend beisammen standen. All dies Fußvolk kreuz und quer über den Platz strebend und sich einen sicheren Weg zwischen den Verkehrsteilnehmern auf Rädern suchend, zwischen Automobilen, Pferdefuhrwerken, Handkarren, Straßenbahnen, von denen die Gleise mehrerer Linien hier aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu und wieder auseinander führten.
Als die Kinder von der Ostseite her auf dem Platz eingetroffen waren, hatte die tiefstehende Sonne noch eine scharfe Trennung zwischen dem Schlagschatten, in den die eine Seite bereits getaucht war, und diesem noch immer in hellem Licht badenden Teil gezogen. Während sie hier beieinander standen, schwatzend und verhandelnd, was sie noch unternehmen sollten, wuchs der schattige Teil zusehends, und die Grenzlinie zur Helligkeit wanderte allmählich über Pflaster, Schienen und Trottoir hinweg, auf dem sie standen, und schließlich Etage für Etage die Fassaden hinauf. Einzelne Fenster entflammten für Minuten heftig und verloschen dann wieder, Dachrinnen schnitten gleißende Streifen darüber, das Rot der Dächer intensivierte sich und leuchtete wie aus eigener Kraft vor dem makellos klaren Abendhimmel am Ausklang eines strahlenden Frühsommertages. Es war einer jener Momente, wo das Himmelsblau ganz deutlich nicht eine farbige Fläche zu sein vorgab, keine Grenze bot, an die das Auge stieß, sondern es im Gegenteil in eine Unendlichkeit aus Transparenzen hinauf- und hineinsog, so dass man den Halt, den Stand auf dem Boden und sich selbst in ihnen zu verlieren schien. Details und individuelle Unterscheidbarkeiten all der Gestalten und Objekte, die den weiten, offenen Platz und die Trottoirs umher belebten, traten zurück hinter den scharf umrissenen Konturen, womit sie sich seltsam rätselhaft und bedeutungsvoll vor dieser hellen Unermesslichkeit abzeichneten, und jede dahingesagte Nichtigkeit nahm den Klang einer gewichtigen Aussage vor der Ewigkeit an.
Unter dieser unbestimmt spannungsgeladenen Atmosphäre ließ Johannes, während er sich gleichzeitig am Gespräch mit den anderen beteiligte, seinen Blick unruhig über den Platz schweifen, immer in der schon zur Routine gewordenen Hoffnung, zwischen all dem Passantengewimmel doch einmal Nomi zu entdecken, und schaute prüfend in die geheimnisvoll überhöhten schemenhaften Gesichter unter Hüten, Hauben, Kopftüchern oder offenen Haaren.
Erst als die Sonne wirklich hinter die gegenüberliegenden Gebäude gesunken, der Himmel mit ersten zart-durchsichtigen Nachtschleiern überzogen und alles in eine gleichmäßig verteilte, verhalten nachleuchtende Dämmerung getaucht war, fielen Dinge, Menschen und Worte in ihre nüchterne Alltäglichkeit zurück.
Nach einigem Hin und Her hatten die Kinder einen von den mit lautem Quietschen in den Platz einfahrenden Straßenbahnen inspirierten Vorschlag, wie sie sich noch eine Weile amüsieren wollten, begeistert angenommen. Sie wollten endlich wieder einmal „Straßenbahnfahren“ spielen. Wenn die Mädchen auch erst etwas nörgelten, weil sie mal wieder nicht mitmachen konnten, ließen sie sich schließlich doch gnädig dazu herab, den Jungen ihren Spaß zu gönnen, und so zogen alle zusammen zu einer günstigen Stelle. Die lag in einer Seitenstraße hinter einer Litfaßsäule kurz nach der Ecke zum Platz hin, so dass die Bahnen mit verlangsamter Fahrt hier einbiegen mussten und die Kinder hinter der Säule versteckt auf den richtigen Moment zum Aufspringen warten konnten. Die Mädchen setzten sich auf eine niedrige Mauer in der Nähe, plauderten und hatten derweil ein wachsames Auge auf die Umgebung, damit die Jungs möglichst nicht ertappt würden und Ärger bekämen.