Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 12
TEIL II - Die Reise
1. Zeitreise
Sommer, helle Tage, gedehnte Zeit...
Stilles, fast bewegungsloses Treibenlassen; unter den Augenlidern, halb gesenkt zum Schutz gegen die irritierend flimmernde Blendung, die die stetige Fahrt des Kahns unter dem Ajour-Lochmuster des Laubs und das immer wieder unvermittelt hindurchschießende Gleißen der Sonnenstrahlen verursacht, lässt der auf träumerische Weite gestellte Blick seidiges Flaschengrün des von den Erlen in ihrer Sommerpracht beschatteten Wassers, lässt hart am Ufer stehende Bootshäuschen aus rauen, moosigen Brettern, Angler auf kurzen Stegen, lässt schilfbestandene Flusswindungen, sogar das kurz aufschreckende feucht-kühle, tropfende Dunkel unter einer alten Steinbrücke vorübergleiten, nimmt die Bilder wahllos auf und lässt sie mit dem Weiterfahren des Schiffes ebenso widerstandslos ziehen.
Am vorderen Ende, in der Bugspitze des Lastkahns saß er, neben sich ein Buch mit den offenen Seiten nach unten auf den sonnenwarmen Holzplanken des Decks. Er kannte die Strecke gut, wusste, dass es noch eine Weile dauern würde, bis die Anforderungen der Route ihn wieder zu Tätigkeit und körperlichem Einsatz nötigen würde. So genoss er die Pause - selbst die Lektüre hatte er vorübergehend eingestellt -, den Luxus bewusster, von wohlmeinender Sommerheiterkeit umfangener und gewiegter Muße mit tiefen Atemzügen.
Er lehnte sich, den Kopf in die verschränkten Hände gebettet, gegen einen Kistenstapel zurück und schaute sich um. Wie war das nun, wie ging das also? Das hier: diese Bretter, dieser Kahn, diese Kisten und Körbe, die voll mit ländlichen Früchten in die Stadt gefahren waren, jetzt leer wieder zu dem Dorf im Obstland zurückkehrten, von wo sie demnächst erneut Kartoffeln, Rüben, frühe Pflaumen bringen würden; der alte Schiffer, der am anderen Ende beim Steuerbalken stand und die paar Stunden, während derer der Kahn fast ganz der Flussströmung überlassen werden konnte, für eine geruhsame Pfeife nutzte; dort drüben, der Reiher, der mit anmutig zurückgebogenem Hals, den Schnabel über dem langgezogenen schmalen Leib zum Himmel gereckt in der lichten Wiese stand; und er selbst, von dem er immerhin die lang ausgestreckten Beine erkennen konnte, die bloßen Füße, die aus den zerschlissenen Arbeitshosen hervorsahen, die Zehen in die Luft piekend und mit Spreizen und Wackeln den Teil von ihm spöttisch grüßend, der sie da so kritisch beäugte - all das: Hervorbringungen des Willens – aber wessen Willens? - oder der Vorstellung - seiner Vorstellung? und nur seiner, oder der aller wahrnehmenden, vorstellenden, erkennenden Wesen gleichermaßen? oder, weitergedacht, derjenigen einer übergeordneten, dies alles in sich einbegreifenden Instanz, so dass seine Vorstellungen bloße Konkretisierungen, bloße Extensionen von deren eigenen, oder von deren eigenem Willen, darstellten? Wie vertrackt das doch war, wie fesselnd aber auch, und gleichzeitig: wie irrelevant... oder doch nicht? Er hatte das deutliche Gefühl, ihm fehle so Einiges, um die Gedankengänge des großen bitteren Philosophen wirklich mitvollziehen zu können; da hatte er sich vielleicht doch noch zu viel vorgenommen; oder vielleicht würde er so was auch nie denken, nie verstehen können...
* * *
Kinderstimmen klangen hell von irgendwo aus Zeit und Raum her an sein Ohr... Gelächter, in dem sich belustigter Spott mit Scheu gegenüber dem Fremden, dem Großstadtjungen mischt, der sich bei seinen ersten Versuchen, beim Heuen zu helfen, denkbar ungeschickt anstellt. Eine ausgedehnte Wiese voller Knechte und Mägde, voller Jungen und Mädchen jeden Alters, alle aktiv, geschäftig mit großzügig raumgreifenden Bewegungen: die weit ausholend rund und taktfest geschwungenen Sensen oder Rechen, der kraftvoll zielsichere Wurf mit der Heugabel, der hohe Bogen, in dem die Portionen auf den Wagen fliegen, volle Arme und Ärmchen, die möglichst große Bündel zusammenraffen, Stampfen, Pressen, Binden oben auf dem Wagen; regelmäßiges tiefes Atmen, rote, heiße Wangen, zerzauste Haare durchsetzt mit trockenen Halmen; das Gemurmel aus gelegentlichen Wortwechseln, Scherzen, kurzem Ausbruch von Gelächter hier und da, während die Konzentration auf das stetige, zügige Arbeiten nie abbricht; Hundekläffen, der raue, derbe Ruf über das Feld hinwegziehender Krähen, Vogelgezwitscher aus dem vor dem Menschentreiben schützenden Gebüsch, der regelmäßig wiederkehrende blecherne Stundenschlag von der Dorfkirche hinter dem Hügel; der Duft nach grünem, frischem Pflanzensaft, Blüten, trockener Erde.
Und Aufsteigen in borkige Obstbäume, die Rinde schürft an nackten Füßen, die reifen Pflaumen, Birnen, ersten Äpfel, schwer in den großen vollen Körben, die sie zu zweit schleppen müssen - da er schon mal da ist und die Rückkehr des Kahns nach der Stadt sich um ein, zwei Tage verzögert, hilft er bei der Ernte der künftigen Ware gleich mit.
Das Staunen der Bauernkinder, wenn er in den Pausen oder Abends, statt zu spielen oder vielmehr gleich einzuschlafen ein Buch hervorholt und im letzten Licht der langen Tage liest, Schullektüre oder, noch lieber, Sachen, zu denen im Unterricht behandelte kurze Lesebuchausschnitte ihm Lust auf das Ganze gemacht hatten.
Die flüchtigen Blicke nach den Mädchen, die mit jedem Sommer, seit jenem ersten, ein wenig mehr dem Kindsein sich entfernen. Mädchen, die so ganz anders sind als die, die er aus der Stadt kennt: sie sind wie die Brise, die frei und weich und nach guten Dingen duftend über die hügelige Weite weht und dabei die rundlichen weißen Wolkeninseln zügig am hellblauen Himmel entlang schiebt; während die Großstadtgören ihm dagegen vorkommen wie jene zwischen Gassen, Hofeinfahrten, Mauerwinkeln in die Enge getriebenen Böen, die einen, während man gerade noch den Tag für windstill gehalten hätte, ganz unverhofft anfallen, eine Handvoll trockener Blätter ins Gesicht streuen, die Mütze vom Kopf reißen und kichernd um die nächste Ecke wirbeln. Er mochte sie gerne ansehen, schaute ihnen bei ihren Verrichtungen zu, wenn sie umhergingen und bei den Hühnern die Eier einsammelten, Tiere fütterten, Ziegen molken, Gemüse zum Lagern vorbereiteten, oder wenn sie zusammensaßen und untereinander lachten und schwatzten, ab und zu einen scheu lächelnden Blick zu ihm hinüberwarfen; nur selten wurde das Gefühl gegenseitiger Fremdheit bei aller Sympathie und Freundlichkeit durch ein paar persönlichere Worte überwunden.
„Heh! Du, Junge! Auf mit dir! Ich lass dich doch nicht mitfahren, damit du hier sitzt und träumst!“
Erschrocken klappte Johannes sein Buch zu, sprang auf und schüttelte sich aus Schillerschen Erhabenheiten, Leidenschaften und finsteren Entschlossenheiten, von denen er sich bei aller Freude am Beobachten der vorbeiziehenden Ufer nicht ganz hatte losreißen mögen, in die Gegenwart zurück. „Ja, das stimmt, Entschuldigung! Was soll ich denn also machen?“
„Aufpassen sollst du. Bald sind wir bei der nächsten Schleuse. Nimm diese Stange - sie ist dir doch nicht zu schwer? - und stoß das Boot vom Rand weg, wenn wir zu dicht rankommen. Die Fahrrinne dort ist nur wenig breiter als wir, also heißt es, gut zielen!“
Der Mann ging wieder zurück ans Steuerruder, und Johannes hielt die unhandlich lange Holzstange bereit. Er schaute skeptisch über das große, schwerfällige Schiff hin und fragte sich, wie er allein so ein Ungetüm in irgendeine Richtung drängen sollte. Ziemlich ungemütlich war ihm bei dem Gedanken, zu versagen und vielleicht irgendeinen Schaden anzurichten, und fast wünschte er sich, er hätte sich Christian angeschlossen, wäre bei der ersten Schleuse ausgestiegen und in die Stadt zurückgelaufen, statt sich auf dieses Abenteuer einzulassen, das ihn später auch wirklich noch fast eine Freundschaft gekostet hätte. Aber ihm war plötzlich unternehmungslustig zumute gewesen, und da der Schiffer gerade jemanden brauchen konnte, der ihm bei dieser Fahrt zur Hand ging, war er geblieben. Hoffentlich hatte Christian Wort gehalten und seiner Mutter Bescheid gegeben!
Ganz schön blöde hatten sie ja schon dagestanden! Wie zwei erwischte blinde Passagiere, wenn sie sich auch bald entschlossen hatten, sich freiwillig zu stellen, nachdem klar gewesen war, dass sie unabänderlich festhingen. Am Kanal unten zwischen dem dort wachsenden Gestrüpp waren sie entlang gestreift, halb in ernsthaften Gesprächen, halb in spielerischen Phantasieabenteuern, auf Expeditionen durch unwegsames Gelände; und als sie den Kahn am Ufer liegen sahen, fest vertäut, als wäre es auf Dauer, hatte sie der Teufel geritten - „Das wär unser Segelschiff ‚Resolution’. Wir hätten hier Anker geworfen, um neues Land zu erforschen, frisches Wasser und Vorräte an Wild aufzunehmen. Nun wollen wir die Mannschaft zusammenrufen und wieder aufbrechen...“
Christian war zuerst nicht ganz überzeugt gewesen, hatte eingewandt, das Schiff gehöre doch jemandem, gab dann aber doch Johannes’ Argumenten nach, sie machten doch nichts Schlimmes, außerdem habe er das Boot schon seit ein paar Tagen da liegen sehen, bestimmt käme nicht ausgerechnet in den paar Minuten jemand. So sprangen sie auf das Deck, sahen sich ein wenig um, fanden die Treppe hinunter in den Bauch, auch dahin drangen sie vor, fanden allerdings nichts Spektakuläreres als ein paar Taurollen, Ölkanister, Truhen und Kisten und einen abgeteilten Bretterverschlag mit notdürftigen Wohnvorrichtungen, Tisch, Bank, Kommode, eine kleine Kombüse, wo durch schmale, schmutzige Scheiben von oben etwas Tageslicht einfiel. Hier verweilten sie, malten sich aus, sie seien die Schiffsleute, hätten ihr Zuhause auf diesen paar Quadratmetern - „aber zugleich eben auch wär man frei, hinzufahren, wo man wollte und hätte doch sein eigenes Dach immer dabei!“, meinte Johannes, dem es hier zu gefallen begann. Dann zogen sie ihre Schillerbändchen hervor und fingen an, mit verteilten Rollen in bester theatralischer Übertreibung zu lesen. Ganz vergessen hatten sie nach einer Weile, wo sie waren, bis Christian irgendwann plötzlich abbrach und flüsterte „still!“. Da hörten sie Stimmen von oben, vom Deck oder vom Ufer, oder von beidem her, Ächzen von Holz und Schleifen von Ketten und Tauen, und schon spürten sie auch eine Bewegung, ein Abstoßen, ein leichtes Schwanken - sie schauten sich erschrocken an und waren minutenlang unfähig zu reagieren. Unsinnigerweise war der erste Gedanke „man darf uns nicht erwischen, wo können wir uns verstecken?!“, der so lange vorherrschte, bis das Schiff seine Fahrt voll aufgenommen hatte. Dann erst fiel ihnen ein, dass sie doch eigentlich gar nichts verbrochen hatten - gewiss, sie hätten nicht in fremdes Eigentum eindringen dürfen, aber inzwischen war ja viel schlimmer und viel wichtiger, dass sie hier unfreiwillig mitfuhren und mit jeder Minute sich weiter von zuhause entfernten. Irgendwann fassten sie Mut und kletterten, mit kleinlaut schuldbewussten Mienen, die Treppe nach oben und zeigten sich der Besatzung. Die bestand nur aus einem älteren und einem jüngeren Mann, die nicht schlecht staunten, als sie die beiden so unverhofft auf ihrem Schiff vor sich hatten.
„Na, wie kommt denn ihr hierher?! Wohl beim Klauen hängengeblieben, was?“, meinte der Jüngere misstrauisch. „Nein, bestimmt nicht! Wir haben bloß gespielt und waren ein bisschen neugierig, wie’s in so einem Schiff ist.“ - „Aber“, erwiderte der andere, „ihr könnt doch nicht einfach... Das ist doch gerade so, als würd ich bei euch zuhause reinschleichen und mich umschauen, wenn niemand da ist!“
Johannes senkte beschämt den Kopf. „Das hat mein Freund auch zuerst gesagt. Aber ich hab ihn überredet. Ich dachte nicht, dass es so schlimm wäre. Tut mir wirklich leid!“
„Ja, was machen wir jetzt aber mit euch? Wie stellt ihr euch das vor?“
Sie zuckten ratlos mit den Schultern. „Nochmal zurück... oder ans Ufer...?“ schlugen sie zaghaft vor. Da lachten die beiden Männer sie lauthals aus. „Nee, mein Junge, das funktioniert nun wirklich gar nicht.“ - „Es geht nur so:“, sagte der andere „In einer Stunde etwa kommt eine Schleuse. Dort könnt ihr runter vom Schiff und von da zurücklaufen. Ne andere Möglichkeit gibt’s nicht.“
Darein mussten sie sich nun schicken, und so setzten sie sich, wo sie nicht störten. Nach und nach löste sich der Schrecken etwas, und wenigstens Johannes konnte sogar beginnen, die Fahrt zu genießen. Je näher die Ausstiegsmöglichkeit herankam, desto mehr tat es ihm leid, dass es so bald zu Ende sein würde.
„Sollen wir nicht fragen, ob wir noch weiter mitfahren können? Wir könnten doch helfen, uns irgendwie nützlich machen.“ - „Bist du verrückt? das geht doch überhaupt nicht! Die Eltern wissen doch gar nicht, wo wir stecken. Schon so wird es viel später werden als ausgemacht und wird ein Donnerwetter setzen!“ - „Man könnte doch vielleicht von irgendwo unterwegs telefonieren. Ihr habt doch Telefon, und bestimmt haben die an so einer Schleuse auch eins.“ - „Nee, also wirklich, du hast vielleicht Ideen! Für mich jedenfalls kommt das gar nicht in Frage. Und was willst du auch überhaupt hier?“ - „Weiß auch nicht. Es gefällt mir einfach. Ich bin ja noch nie weggewesen, nie aus der Stadt gekommen.“ Da meinte Christian versöhnlich: „Na, wenn du willst, frag doch die Leute. Und wenn, dann geh ich noch bei deiner Mutter vorbei und erklär ihr, was los ist.“
Es stellte sich heraus, dass der Sohn des alten Schiffers Anlass gehabt hätte, in der Stadt zu bleiben, und wollte gerne die Gelegenheit ergreifen, da sich Hilfe für den Vater anbot. So kletterten der junge Schiffer und Christian an der ersten Schleuse vom Kahn und gingen zu Fuß zurück in die Stadt, während Johannes „Schiffsjunge“ auf Zeit wurde und dem Alten half, den Kahn in der Schleusenkammer festzuzurren, danach ihn in dem Schleppzug hinter dem kleinen Dampfer zu vertäuen, der solche Lastkähne ohne eigenen Antrieb bis zum Ende des nächsten Streckenabschnitts voranbringen würde.
Es wurde daraus seine erste längere Abwesenheit von zuhause, die erste „Reise“ seines Lebens, die erste Erfahrung einer Umgebung, die nicht vorwiegend aus Stein und Mörtel bestand, wo nicht der Blick auf Schritt und Tritt verstellt war von Mauern, Zäunen und Fassaden, sondern wo er - und meist auch man selbst, wenn man wollte - in jede Himmelsrichtung frei umherschweifen, sich in Fernen verlieren oder an tausenderlei neuen Einzelheiten in der Nähe festsaugen konnte. Wo die Luft nach fruchtbarer Kreatürlichkeit roch und nicht nach menschengemachter Industrie, nach Ruß, Öl, Metall. Wo der Regen mit unbekanntem, weich beruhigendem Klang in das Laub der Wälder, in die schwarzen Wasser von Teichen und Flüssen rauschte, begleitet von unwirklich heiser aus den Nebelschleiern lachenden Entenrufen, statt nervös und ungeduldig auf Dach und Fensterscheiben, Wagendächer und Straßenpflaster zu trommeln. Wo, wenn man mit den Augen einen Weg verfolgte, der sich um den nächsten Hügel, zwischen den sanften Wellen der Wiesen oder im Unterholz eines Waldes verlor, man Lust bekam, ihn zu beschreiten, herauszufinden, wohin er führte, zu sehen, was sich dort vorfinden würde - oder auch einfach nur sich weiter und weiter, tiefer und tiefer hineinzubegeben in die schweigsame Natur, die Abstände zu den anderen Menschen größer noch werden zu lassen, als sie hier ohnehin schon waren im Vergleich zur Stadt, gerade dies Erlebnis der Einsamkeit noch zu verstärken und ganz auszukosten.
Mit den Jahren - denn von dieser ersten, halb aus Versehen angetretenen Fahrt kam er nach fast zwei Wochen zurück mit einer großzügigen Entlohnung in Form von Naturalien: Obst, Gemüse, Mehl, Honig, Eiern, von denen sie eine ganze Weile zehren konnten, und dazu der Einladung, auch in den nächsten großen Ferien wieder mitzufahren und zu helfen, und so von Mal zu Mal wurde seine spezifische Form der nützlichen „Sommerfrische“ zur festen Institution - mit den Jahren entwickelte er die von den Angehörigen des Bauernhofs schulterzuckend und augenzwinkernd zur Kenntnis genommene Gewohnheit, während der mehrtägigen Aufenthalte des Lastkahns zwischen Ankunft und Rückfahrt wenigstens dann und wann für ein paar Stunden umherzustreifen, dem Lauf von Bächen zu folgen, an stillen Seeufern oder Waldrändern zu verweilen, Vögeln zuzuhören und Insekten zu beobachten, während er immer wieder seine derzeitige Lektüre zückte, ein wenig las und erneut in Gedanken abschweifte, eigenwilligen Symbiosen aus Beobachtungen der Welt um ihn her und derjenigen, die das Buch in seinem Kopf entstehen ließ.
Christian, sein Schulfreund, mit dem zusammen das Abenteuer damals begann, war, als er zurückkehrte, mit seiner Familie in deren alljährlicher Sommerfrische am Meer, und als sie sich nach den Ferien in der Schule wiedersahen, eröffnete er Johannes, seine Eltern hätten ihm verboten, weiter Umgang mit ihm zu pflegen. Die hatten bis zu jenem Tag gar nicht gewusst und auch nicht weiter nachgefragt, mit wem ihr Sohn seine freien Stunden verbrachte, aber durch die große Verspätung, ihre Besorgnis über sein Ausbleiben, seine Erklärungen dazu und ihr eigenes insistierendes Nachforschen wurde ihnen jetzt klar, dass er sich mit einem regelrechten „Schmuddelkind“ – ihre Worte - angefreundet hatte. Alle Verteidigungs- und Rettungsversuche halfen nichts - gestrichen waren fortan die Nachmittage, die sie altersgemäß mit einer Mischung aus noch kindischer Spiellust, gemeinsamer Erledigung der Hausaufgaben, an mancher Schullektüre sich entzündenden schwärmerischen Begeisterungen und erstem sich Üben an intellektuellen Herausforderungen in endlosen freundschaftlichen Streitgesprächen verbracht hatten. Obwohl das Kontaktverbot eigentlich auch in der Schule galt, standen sie in der ersten Zeit wenigstens noch in den Pausen zusammen und gingen auch oft die erste kurze Strecke des Heimwegs miteinander. Das genügte allerdings dann doch nicht, um zu verhindern, dass ihre Verbundenheit, ohne je ganz zu reißen, sich über die restlichen Schuljahre hin allmählich ein gutes Stück weit auseinanderlebte.
In der Luft der Aula schwammen unsichtbare warme Wolken aus geschmolzenem Kerzenwachs mit Einsprengseln von Tannengezweig, Orangenschale, Zimt und Nelken um die Köpfe der Anwesenden. Vorn in der Ecke neben der Bühne stand ein riesiger Christbaum voller leuchtender Kerzen, deren Flammen im Luftzug von offenen Türen, umhergehenden Menschen und hundertfachen Atemzügen wehten. Vielstimmiges Gemurmel, festlich im Zaum gehaltene Freudigkeit erfüllten den Saal.
Die Begrüßungsrede des Schuldirektors hatte man schon zu hören bekommen; darin waren Stolz auf die Schule, die bisherigen Leistungen des Schuljahres, Treue und gute Wünsche für den Kaiser und seine Familie fast stärker betont worden als die Botschaft der bevorstehenden Weihnacht oder das Anliegen, dass seine Schüler und deren Familien das Fest in Gesundheit und Frieden würden begehen können. Der Chor, eine nicht immer sehr harmonische Vereinigung von mehr oder minder engelreinem Knabensopran, sich reibenden, spröde kippenden Stimmbruchtönen und dem noch über sich selbst erstaunten Bariton der Sekundaner, hatte Adäquates gesungen, Lesungen aus dem Weihnachtsevangelium und Gedichtrezitationen waren vorgetragen worden. Mit Lampenfieber und unendlicher Verlegenheit vor den Augen all der Mitschüler und ihrer respektabler Eltern hatte auch Johannes seinen Auftritt hinter sich gebracht und Richard Zoozmanns „Christnacht“ deklamiert - nicht gerade sein Lieblingsgedicht, es hatte so martialische Stellen, und eigentlich wäre ihm der schlichtere, innigere Eichendorff lieber gewesen. Erleichtert saß er wieder unter den Zuschauern; nur noch einmal würde er auf die Bühne müssen, dann aber als einer unter vielen, wenn zum Ausklang der Feier alle zusammen „Stille Nacht“ anstimmen sollten.
Nun aber stieg ein Junge in festlich dunkelblauem Anzug ganz allein aufs Podium, verbeugte sich etwas linkisch, und während er sich an den großen Flügel setzte und Johannes ihn heftig für seinen Mut bewunderte - wo doch während seiner eigenen eben gemachten ersten Auftrittserfahrung sein Herz nicht einen Moment hatte zu rasen aufhören wollen und er nicht gewusst hatte, wohin mit den zittrigen und verschwitzten Händen -, musste er feststellen, dass er über ihn praktisch gar nichts wusste; es war, als nehme er ihn, obwohl er in seine eigene Klasse ging, gerade jetzt zum ersten Mal bewusst wahr. Andere Mitschüler hatten seine Aufmerksamkeit stärker beansprucht: da waren die, welche sich durch ihre Leistungen im Unterricht oder bei sportlichen Wettkämpfen und den unvermeidlichen Ring- und Boxkämpfen auf dem Pausenhof hervortaten. Da waren aber auch diejenigen, an denen er nun gar nicht vorbeisehen konnte, hatten sie ihn doch geradezu in ihr Visier genommen - kleine Rudolphe gab es eben auch hier - als Zielscheibe für ihre Ausgrenzungsversuche, ihre Anfeindungen und Demütigungen gegen ihn, den Proletensohn, das Armeleutekind, den Almosenempfänger. Diese Fraktion kannte er wahrhaftig gut genug, wenn er auch von Anfang an bemüht gewesen war, auf ihre Provokationen nicht einzugehen und Abstand zu halten.
Dieser Junge nun, Christian Kuberka, der sich da gerade zu seinem solistischen Beitrag anschickte, gehörte zu keiner dieser Gruppen. Mit ein, zwei ähnlich veranlagten Jungen gab er sich freundlich, jedoch nicht mehr, nicht geradezu freundschaftlich, ab, wurde in Ruhe gelassen, wie er auch selbst andere in Ruhe ließ; ein wenig verträumt, ein wenig verschusselt manchmal, doch auch dies nicht in übertriebenem Maße, zurückhaltend, unscheinbar, noch dazu gerade an der Schwelle des Alters, in dem manchen Jungen ihre eigene Existenz, ihre eigene Sicht- und Hörbarkeit geradezu peinlich zu sein scheint.
Dennoch, in dem Moment, als der Klavierstuhl die richtige Höhe, er selbst darauf Platz genommen und seine Hände über der Tastatur in Position gebracht hatte, ging eine Wandlung mit ihm vor, wie sie Johannes nicht zum ersten Mal an einem Menschen beobachtete. Sein Gesicht, obwohl es womöglich noch unzugänglicher wirkte als gewöhnlich, verlor alles Unfertige, Defensive und strahlte nur mehr eine auf sich gestellte Souveränität aus, als wollte es sagen: hier bin ich, hier ist mein Reich, wer will, mag dazukommen!
Ein kurzer Moment der Sammlung, des konzentrierten In-Sich-Hineinhorchens, und dann begann er sein Spiel.
Unter seinen Händen entspann sich ein Gewebe aus Klängen, ein Auf und Ab in gemessener Folge und doch weich ineinanderschwebend, aufblühend und wieder zurück sich nehmend in jederzeit genau dem richtigen Maße, um die je gewünschte Stimmung zu schaffen; daraus entwand sich, allmählich, verhalten und doch drängend, dringlich, eine Melodie, spielte um und in die Wellen der begleitenden Stimme, spielte mit ihnen in Harmonie, rieb sich mit ihnen und löste sich wieder, kam zurück und holte sie ab zu gemeinsam sich aufschwingender Leidenschaftlichkeit, und das alles mit einer innigen, nicht zerstörerischen, nicht verzweifelten, nur berückenden, von sanftem Leuchten gemilderten Wehmut.
Bei alledem wirkte der Junge dort am Flügel vollkommen abgekehrt von allem, was ihn umgab, und nur noch mit unbestechlichem Ernst dem Tun seiner Hände zugewandt, wie sie mit mal schweren, nachdrücklichen, mal leichten, zärtlichen Bewegungen all dieses aus dem Instrument hervorlockten, schien ein Zwiegespräch in einer geheimen Sprache mit diesem seinem Tun zu führen. Johannes schaute und horchte gebannt, längst waren Saal und Publikum um ihn her versunken, und es existierte nur noch sein Lauschen, mit allen Sinnen, auf diese geheimnisvolle Zwiesprache des Jungen mit seiner Musik. Und mit einem Mal war es, als fielen trennende Mauern lautlos in sich zusammen, als würde genau in diesem Augenblick aus dem Zusammentreffen zwischen dem fremdsprachigen Dialog dort auf der Bühne und seinem sich nach Verständnis sehnenden Zuhören, eine neue, dritte, nie gehörte Sprache gezeugt, in der die Musik unvermittelt zu ihm redete und deren Botschaft er plötzlich einfach so und unbezweifelbar begriff. Die Klänge und ihre Bewegungen, die Harmonien und ihre Entwicklungen sprachen einen Teil seiner selbst an, in den bisher noch nie - oder doch nur einmal einen kurzen Moment lang - Licht geschienen hatte, von dessen Vorhandensein er keine Ahnung gehabt hatte, und weckten dort Assoziationen ohne gegenständliche Bilder, Emotionen ohne beschreibbaren Inhalt, Sehnsucht, Hingabe und hochgespannte Begeisterung ohne benennbare Richtung.
Die Verzauberung, die hier mit ihm vor sich gegangen war, ließ ihn nicht mehr los, und alles, was jetzt noch kam - eine weitere Gedichtdeklamation, ein paar letzte Worte des Direktors und schließlich das gemeinsame Singen mit allen Schülern, Lehrern und Gästen - irritierten ihn ganz ungemein, und er war froh, als er sich endlich nach hastigem Abschied von seinen Nachbarn auf den weiten Heimweg durch die winterdunklen Straßen machen konnte. Ihm war, als ginge er mit verändertem Blick durch die Welt, als sähe er sie an mithilfe eines ganz neu entstandenen Organs und wie aus einem Panzer heraus, der ihn umfangen und den hochgestimmten Zustand im Zaume hielt, der ihn aber auch vor der Umwelt auf eine unbekannte Art in Schutz nahm, als bilde er eine sanft isolierte Insel inmitten der Alltagswelt. Es wurde ihm sogar schwer, auf die Fragen seiner Mutter nach dem Fest einzugehen, ohne schroff und abweisend zu wirken. Er hatte nur das Bedürfnis, allein zu sein und dieses Leuchten und Nachklingen in seinem Inneren geschehen zu lassen, es hin und herwendend zu betrachten, ihm so lange wie möglich nachzuhorchen.
In der Schule am nächsten Tag musste er immer wieder zu Kuberka hinübersehen. Seit gestern war dieser Junge für ihn von einer ehrfurchtgebietenden Aura umgeben, und er konnte nicht begreifen, wieso der wie alle anderen und wie alle Tage hier sitzen und über lateinischer Grammatik stammeln musste.
Am Unterrichtsende fasste er sich ein Herz, beeilte sich mit dem Einräumen seiner Sachen und ging dann zu Christian, um ihn anzusprechen und auszudrücken, wie sehr er ihn bewundert und wie „toll“ er es gefunden hatte.
„Ja? hat es dir gefallen? Freut mich!“ erwiderte der darauf schlicht, ohne von seiner Mappe aufzuschauen, in die er gerade seine Hefte schob; aber auch so merkte man seinem aufstrahlenden Gesicht an, dass er es auch wirklich meinte.
„Nein, nein, das ist es nicht. Das war viel mehr als nur Gefallen. Ich kann’s bloß nicht besser sagen!“
Darauf hob Christian den Kopf und sah Johannes mit neu gewecktem Interesse in die Augen.
So waren sie Freunde geworden.
„Eins kann ich euch jedenfalls versprechen: Rumkommandieren lass ich mich mal nicht! Irgendwann werd ich mein eigener Herr sein, und dann hat mir keiner was zu sagen!“ So hörte man Rudolph mit fast empörter, trotziger Stimme verkünden; dabei hatte bis jetzt gar niemand versucht, ihm was zu befehlen oder ihn in Dienst zu nehmen. Er stand einfach wieder einmal mit seinen Freunden zusammen auf dem Unkrautterrain am Ende ihrer Straße. Es war ein freier Tag im Frühjahr, in wenigen Wochen würde Herr Mäuthis sie mit ihren Abschlusszeugnissen aus ihrem Schülerleben entlassen. Und nun - während Johannes sich in tote und lebendige Fremdsprachen einarbeiten, sich mit komplexer werdenden mathematischen Problemstellungen herumschlagen oder Jahreszahlen der älteren und neueren Geschichte pauken durfte - musste also ihre größte Sorge sein, nicht dass sie überhaupt als Kinder, die sie doch mit ihren vierzehn, fünfzehn Jahren eigentlich noch waren, bereits die volle Last des Broterwerbs mit sechs Wochentagen anstrengender Arbeit sollten auf sich nehmen, sondern vielmehr, ob sie denn so glücklich sein würden, solche Arbeit überhaupt zu finden; ob sie ungelernt in irgendeiner der Fabriken aufgenommen und gleich richtig, wenn auch wenig, verdienen würden; ob sie einen Beruf erlernen sollten, mit dem Nachteil, noch einmal mehrere Jahre ohne nennenswertes Einkommen vor sich zu haben, oder ob ihnen gar weder das eine noch das andere gelingen würde und sie dann, ohne den Schonraum der Schule zwischendurch, auf der Straße lungern und sich mit solchen Gelegenheitsarbeiten durchschlagen würden, wie sie sie jetzt schon nebenher betrieben hatten. Ob sie eher mit Zuversicht oder Unbehagen in die Zukunft blickten, mit Neugier oder Schicksalsergebenheit, mit Freude darüber, die Plagen der Schule endlich los zu sein oder mit Ängsten, das Vertraute zu verlieren, hing dabei natürlich vom Temperament des einzelnen Kindes ab.
Unverabredet hatten sie sich, schlendernd und das bisschen sonntäglicher Muße auskostend, zusammengefunden; sogar Johannes hatte für einmal Bücher Bücher sein lassen und war herausgekommen, gar zu verlockend hatte eine blasse und von den vergangenen Regentagen noch etwas verheulte Frühjahrssonne zwischen rasch dahinziehenden Wolken hindurchgeblinkt. Sie sahen einer Bande jüngerer Straßenkinder dabei zu, wie sie einen Ball gegen ein unbewachsenes glattes Stück der großen Mauer warfen und dabei wetteiferten, wer am höchsten träfe.
„Und wenn er mal oben drüber fliegt?“, rief eins der Kinder.
„Dann ist der Ball weg, den kriegen wir nicht wieder“, antwortete ein anderes.
„Kommt man denn gar nicht dort hinter?“
„Nein, geht nicht, ist zu von allen Seiten. - Aber das schafft sowieso keiner: Guck doch mal hin, so hoch kann doch keiner werfen!“
„Ich schon, guck her!“ protestierte ein Knirps und warf mit Leibeskräften, dass er selbst beinahe hintüber fiel. Natürlich traf der Ball höchstens irgendwo im unteren Drittel.
„Na, sag ich doch: das schafft keiner. Eher wächst die Mauer schnell noch ein Stück, als dass jemand oder etwas drüber käme. Aber für deinen Wurf hat es das nun wirklich nicht gebraucht, Maxe!“
Rudolph und die anderen wechselten lächelnde Blicke: Sie selbst kamen langsam aus dem Alter heraus, wo sie ihre Spitzfindigkeit mit Attacken auf die Mauer erprobt hatten, und sahen jetzt mit fast väter- oder mütterlichem Amüsement auf das Rätseln der „nachwachsenden Generation“.
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