Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 11
Fahren konnte immer nur einer, und, damit der nächste an die Reihe käme, mussten sie jeweils auf die je folgende Bahn warten. Da hier aber mehrere Linien vorbei führten, waren die Wartezeiten nicht lang. Während Rudolph und Johannes jeder schon einmal das Vergnügen gehabt hatten und jetzt Karl auf seine Gelegenheit wartete, versuchten sie, den ängstlich etwas abseits stehenden Fritz zu überreden, es doch auch einmal zu versuchen, jeder auf seine Weise: Rudolph und Karl mit herabsetzendem Spott gegen den „Feigling“, Johannes mit dem Argument, wie viel Spaß es machte und wie ungefährlich es wäre: „Du kannst ja aufhören, wann immer du willst, wenn’s dir zu schnell wird, dann springst du einfach ab.“ Zwar war auch ein inoffizieller kleiner Wettkampf im Gange, wer es am längsten aushielt und am weitesten fuhr, aber dabei brauchte Fritz bei seinem ersten Mal ja wirklich nicht mitzutun.
Nun bog der nächste Wagen klappernd und scheppernd in die Straße, war eben an der Litfaßsäule vorbei, und Karl löste sich aus der Deckung, machte ein, zwei schnelle Schritte, einen Sprung und hatte mit den Füßen auf dem Stahlnetz, das unten um den Bug des Triebwagens herum angebracht war, mit den Händen an der Griffstange neben dem ersten Einstieg Halt gefunden und sich geduckt in Stellung gebracht, um nicht aus dem Wagenfenster heraus entdeckt zu werden.
„Also los, Fritz, du als nächster!“, trieben Rudolph und ein paar der anderen Jungen ihn an. Hilflos und unsicher blickte er Johannes an, der ihm aufmunternd zunickte. Eben kam Karl von seiner Fahrt zurückgelaufen, da fuhr die nächste Bahn heran. Von ein, zwei Kindern in die Richtung geschubst und auf die Schulter geklopft, machte Fritz ein paar unentschlossene Schritte auf das bereits wieder Tempo aufnehmende Fahrzeug zu, blieb kurz stehen, lief noch einmal los, um es einzuholen, setzte zu einem Sprung an, zu dem ihm dann aber doch der Mut fehlte und der dadurch so komisch ins Leere ging und sich verstolperte, dass die ganze Kindergruppe hell auflachte.
Johannes hatte im entscheidenden Moment gar nicht hingesehen; ihm war ganz plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Mädchen ins Auge gefallen, das in diesem diffusen Zwielicht ihm einen kurzen Wiedererkennungsschrecken versetzt hatte; er versuchte, nachdem sie kurz von einem Radfahrer verdeckt worden war, sie wieder auszumachen und Gewissheit zu erlangen. In eben diesem Moment fingen die anderen an zu lachen, er sah gerade noch Fritz’ ungeschickte Bewegungen zum Abfangen des Stolperns und lachte unwillkürlich mit. Fritz schaute sich um, beschämt wie immer über seine Unsportlichkeit, da sah er, dass auch „sein“ Johannes ihn auslachte. Er erbleichte, seine Augen blickten erschrocken und verletzt, er senkte den Kopf, trat wortlos zur Gruppe zurück und lehnte sich an die Litfaßsäule. Johannes tat es nun leid wegen des Gelächters, er ging zu ihm und sagte: „Mach dir doch nichts draus, das nächste Mal klappt’s schon besser. Du musst einfach früher aufspringen, wenn sie noch langsam genug ist.“ Fritz sah ihn traurig an und nickte nur stumm. Da drehte der andere sich schon wieder nach der gegenüberliegenden Seite: gerade war das Mädchen von eben in einer längeren Lücke zwischen den Passanten wieder aufgetaucht. Fritz sah das Mädchen, sah den Blick und das enttäuschte Gesicht, verstand vollkommen, was vorgegangen war, und schaute wieder zu Boden. Ein müder Trotz kam in ihm auf, und als die anderen nicht lange danach aufbrachen, behauptete er, er habe noch etwas zu erledigen, er komme später nach.
* * *
Was für ein schöner Tag war das doch gewesen!
Alles hatte gestimmt: Das warme, lachende Sommerwetter, die gelockerte Schuldisziplin, die originelle, sportlich herausfordernde Aufgabe, die Bewegung im Freien in ungewöhnlich verträglichem und gutgelauntem Einvernehmen zwischen den Freunden. Zwei, drei Kinder außer Fritz (aus tiefer Not ... so müde vom Seufzen!) hatten sich abgesetzt, um noch irgendwelchen Plänen oder Verpflichtungen nachzugehen. Der größte Teil der Gruppe aber zog nun geschlossen nachhause, aufgedreht und ausgelassen lachend (Spieße und Pfeile sind ihre Zähne), schwatzend (und ihre Zungen scharfe Schwerter), mal hüpfend, mal trödelnd; und mehr als ein Passant gesetzteren Alters oder nüchternerer Stimmung blickte sich missbilligend (ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute) nach ihnen um.
Auch Johannes beteiligte sich am allgemeinen Geplauder und Palaver, am Resümieren der Erlebnisse, am Gelächter; und doch wurde er ein unterschwellig rumorendes, unbequemes Gefühl (aber nun bist du es, mein Gefährte, mein Freund...) nicht los, das all diese Aufgeräumtheit beständig unterminierte; es war, als ob er, ohne zu wissen warum, (...die wir freundlich miteinander waren) zutiefst unzufrieden mit sich selbst wäre.
Dabei hätte er doch allen Grund zum Gegenteil gehabt: Endlich wieder voll angenommen in der Gruppe, einbezogen und seinen Beitrag leistend zum Gelingen der heutigen Unternehmung (mein Herz verdorrt wie Gras); dazu die Aussicht, in ein paar Tagen mit einem ausgezeichneten Zeugnis aus der Schule auszuscheiden und sich mit neuem Elan (Asche esse ich wie Brot) der auf ihn wartenden Herausforderung stellen zu wollen und zu können - und dennoch: Wer wird bestehen?
Längst hatten die Kinder den Bereich des Stadtzentrums hinter sich gelassen, auch die bürgerlichen Wohnviertel zwischen diesem und ihrem eigenen Stadtteil durchmessen (sei nicht ferne, denn Angst ist nahe!). Der Himmel des Sommerabends, an dem immer zahlreichere Sterne das tiefer werdende Nachtblau durchbrachen, warf nun schon fast nichts mehr von seinem abnehmenden Leuchten in die dunkelnden Straßen herab. (Du gibst meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken, und stellst mich auf meine Höhen. Gelobt sei mein Schild und meine Stärke!)
Plötzlich fuhren alle mitten in ihrer fröhlichen Unbeschwertheit zu Tode erschrocken zusammen: Wie ein gellender Schrei zerriss das Warnsignal eines Vorortzuges, dessen Übergang nur noch wenige Meter vor ihnen (ich schreie, aber Hilfe ist fern) die Straße querte, die Stille, die um ihre Lebhaftigkeit herum wie um eine isolierte eigene kleine Welt eingekehrt war (deine Schrecken erleide ich, dass meine Seele vor Angst verzagt) und die mächtige schwarze Lok stampfte, ihre klappernden Waggons im Schlepptau, dröhnend und erderschütternd vorüber, schlug ihnen kohlen-, teer- und rauchgeschwängerte heiße Luft um die Ohren.
„Du meine Güte, hab ich mich erschrocken!“, ließ sich Elsas Stimme (Furcht und Zittern und Grauen hat mich überfallen) kleinlaut hören , woraufhin ihr mit „Und ich erst!“, „Mir klopft jetzt noch das Herz bis in den Hals!“, „Und mir zittern ordentlich die Knie!“ von allen Seiten beigepflichtet wurde (Aus der Tiefe schrei ich... warum hast du mich verlassen?)
Nach und nach beruhigten sie sich wieder und lachten über den unnötigen Schrecken, aber (wer so daliegt, wird nicht wieder aufstehen), als sie nun weitergingen, um den Rest des Heimwegs zurückzulegen, wollte die überschäumende Laune von vorhin nicht mehr aufkommen. Das letzte Stück gingen sie schweigsam, den Blick (o hätt ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!) auf den lange verweilenden rötlichen Schein gerichtet, mit dem sich das scheidende Licht nach Westen hin zurückzog.
Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser.
In Frieden leg ich mich nieder und schlafe ein....
12. Fritz
„Hannes!? - Hannes, wach auf!“
Ein milchiger Lichtschein, Fransen und Fusseln, die vor seinen halbgeöffneten Augen zitterten.
„Wach doch auf, Hannes!“ Die Mutter lehnte über ihm, ein Wolltuch über ihr Nachthemd geworfen, die Küchenlampe in der entfernteren Hand von ihm weg haltend, mit der anderen vorsichtig, aber nachdrücklich an seiner Schulter rüttelnd.
„Was ist denn?“ murmelte er, widerwillig zu sich kommend, „Ist denn schon Morgen?“
„Nein, Hannes. Du musst noch mal richtig aufwachen. Die Eltern von Fritz sind hier. Du musst mal rauskommen und mit ihnen sprechen.“
„Fritz? Wieso? Was ist denn mit ihm?“ Er setzte sich auf, hängte sich seine Decke um und folgte seiner Mutter nach nebenan.
In der Küche standen Herr und Frau Schabach. Johannes sah sie fragend an.
„Der Fritz ist noch nicht nachhause gekommen“, erklärte Herr Schabach den späten Besuch, „Ihr seid doch alle zusammen weggegangen heute Mittag. Weißt du vielleicht, wo er stecken könnte?“
„Aber - wie spät ist es denn?“
„Schon nach Mitternacht.“
„Oh!“, machte Johannes nur.
Eine Hälfte von ihm war noch benommen vor Schläfrigkeit, aber die andere war blitzartig hellwach geworden, mit einer Helligkeit, die in den schlafbenebelten Teil heftig hineinfuhr und ihn zittern machte. Er zog die Decke enger um die Schultern. Das ungute Gefühl, das ihn den ganzen Heimweg über begleitet hatte, wuchs an zu einer unerklärlichen Furcht.
„Also weißt du auch nichts?“ fragte Fritz’ Mutter.
„Wir dachten bloß, weil du doch anscheinend sein spezieller Freund bist“, fügte der Vater hinzu, „Er redet ja von nichts anderem - wenn er mal redet - als von Johannes hier, Johannes da. Deshalb haben wir zuerst dich gefragt.“
Er sah beschämt zu Boden - so besonders viel hatte er sich in letzter Zeit ja gar nicht um den Fritz gekümmert.
„Ich weiß nur, dass er noch was zu erledigen hatte, deshalb ist er nicht gleich mit uns zurückgegangen. Wir...“ Er hielt inne - von dem Straßenbahnfahren erzählte er vielleicht doch besser nichts - „... wir waren in der Innenstadt, für eine Schulaufgabe. Und als wir nachhause wollten, hat Fritz gesagt, er muss noch was machen, er käme dann nach. Wissen Sie denn nicht, was er noch besorgen sollte?“
„Nein, ich hab ihm nichts aufgetragen“, sagte der Vater; auch die Mutter schüttelte den Kopf.
„Wir dachten bloß... Also, wir hatten mal wieder... Streit gehabt, gestern“ - jedem der Anwesenden war klar, wofür diese beschönigende Umschreibung stehen sollte - „und da dachten wir ... vielleicht wollte er nicht mehr heimkommen - ausreißen eben.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Ich hätt ja auch noch nichts unternommen heut Nacht. Der wird schon sehen, dass er nicht klarkommt, und von alleine wieder heim kriechen. Die Mutter hier hat aber keine Ruhe geben wollen...“ Die stand da mit zusammengepressten Lippen im bleichen Gesicht, und dem Mann merkte man an, dass er mit seiner demonstrativ groben Unbekümmertheit nur überspielen wollte, wie beunruhigt er selbst doch eigentlich war.
„Also, wenn du auch nichts weißt, dann gehen wir wieder. Vielleicht fragen wir noch bei Köhlers nach, und Gulachs, mal sehen.“
Was war nur geschehen? Was hatte Fritz angestellt? War ihm etwas zugestoßen? Oder war es tatsächlich so, dass das mit der Erledigung nur eine Ausrede gewesen war und irgendwelche Fluchtpläne hatte decken sollen? Andererseits passte das überhaupt nicht zu Fritz, viel wahrscheinlicher und typischer wäre gewesen, dass er in irgendeinen Schlamassel geraten war. Aber gleich einer, der ihn bis in die Nacht am Heimkommen gehindert hätte? Vielleicht war es ja diesmal so schlimm, dass er sich wirklich nicht mehr nachhause getraut hatte?
Unter all diesen Grübeleien konnte er ein Bild vom vergangenen Abend nicht vergessen: Er sah Fritz neben der weiterfahrenden Bahn unter dem Gelächter der Kinder sich umdrehen, ihm in sein eigenes lachendes Gesicht schauen (‚aber nun bist du es, mein Gefährte, mein Freund...‘), sah den Schrecken in seinem Blick und sah - das vor allem - sah die in Niedergeschlagenheit erlöschenden, grenzenlos müden Augen...
Dies Bild verfolgte ihn bis in die überwachen Träume des Halbschlafs, in den er schließlich fiel, und er hatte es vor Augen, es schnürte ihm den Leib zusammen und die Kehle zu, während am nächsten Morgen in der Schule - mit dem Lehrer in der Klasse, untereinander auf dem Pausenhof, oder getuschelt mit dem Pultnachbarn während des Unterrichts - aufgeregt über Fritz’ Ausbleiben debattiert wurde.
Zuerst dominierten noch Rudolphs überzeugt vorgetragene hoffnungsvolle Erklärungsversionen - es sei doch schließlich kein Wunder, er an Fritzens Stelle, mit diesem Vater, wäre sowieso schon längst ausgerissen, das lasse man sich doch nicht ewig bieten; und wenn dies nicht, so sei er bestimmt bei irgendetwas erwischt und über Nacht eingesperrt worden - sie wüssten doch alle, was für ein Unglücksrabe er sei. Wahrscheinlich habe man ausgerechnet ihn beim auch noch missglückten Straßenbahnspiel beobachtet und sich dann, weil der Rest der Bande schon weggegangen war, als die Polizei kam, an ihn gehalten... So wenig plausibel das auch klang, man wollte doch gerne glauben, dass es so oder ähnlich gewesen war...
Dann, am späteren Vormittag, das Rascheln an der Tür, das zaghafte Klopfen, das zögerliche Öffnen auf Herrn Mäuthis’ „Ja bitte!“, das Raunen durch die Schülerreihen „Da ist ja Ralph! - Das ist ja sein Bruder!“; die in festgefrorener Ungläubigkeit aufgerissenen Augen des Jungen. Die eigentliche Nachricht, die Johannes gar nicht mehr richtig hört, so klar ist es mit einem Mal, und so laut das Pfeifen und Rauschen in seinen Ohren, alles andere übertönend und die Welt zum Verstummen bringend... Die Stille in der Klasse, das Schweigen von fünfzig Kindern, die den Atem anhalten... Herr Mäuthis, der sich auf seinen Stuhl sinken lässt und den Kopf in die Hand stützt, das Gesicht in ihr birgt...
Und nun die Zeit der Eiseskälte, des schreckensstarren Frierens inmitten des Festes der Wärme und des Lichtes, mit dem die langen, hellen Tage die beginnende Hoch-Zeit des Sommers feierten, die Zeit der verstörten, der ratlosen Blicke in schnell abgewandte Augen. Er ging umher wie jemand in Trance, kroch förmlich in sich zusammen, sobald er angeredet wurde; immerzu stand ihm das unauslöschliche Bild vor Augen, kalter Schweiß brach ihm aus und ihn fröstelte. Seine Mutter sah seine Qual und fand den Mut nicht, ihn darauf anzusprechen.
Ein paar Tage später hatte er eine seiner Lernsitzungen mit Herrn Mäuthis. Verängstigt, in sich gekehrt saß er da und versuchte vergebens, seine Aufmerksamkeit auf den Text im Buch und die gestellte Aufgabe zu richten. Dann gab er auf und warf sich - „es geht nicht!“ - resigniert im Stuhl zurück.
Herr Mäuthis hatte dem Kampf zugesehen, unschlüssig, wie er ihm helfen sollte, nun sagte er: „Es ist wegen Fritz, oder?“
Stummes Nicken.
„Du bist sehr traurig, furchtbar erschrocken auch, nicht wahr?“
Nicken mit noch tiefer gesenktem Kopf.
„Nun sag doch was, Junge, sprich es aus!“
Er zog sich noch enger in sich zusammen, als wolle er so wenig Raum wie irgend möglich in der Welt einnehmen.
„Johannes! Rede mit mir, lass dir doch helfen. Du tust dir ja nur unnötig weh!“
Heftigeres Atmen, ein Schlucken schien anzuzeigen, dass er darum rang, endlich sein Schweigen zu brechen. Herr Mäuthis drängte ihn jetzt nicht weiter, er sah ihn nur an und wartete.
Da hob der Junge den Kopf halb an und formte Worte, fast ohne einen Laut hervorzubringen:
„Es ist meine Schuld!“
Totenstille herrschte im Raum.
„Was sagst du da? Hab ich das richtig verstanden? Woran bist du schuld?“
Die Antwort kam wieder nur flüsternd: „Dass Fritz ... dass er ... tot ist!“
Dem Lehrer graute es.
„Um Gottes willen! Was redest du dir denn da ein?! Wie kommst du denn bloß darauf, du warst doch gar nicht dabei, als es passiert ist?“
„Trotzdem. Ich wollte, es wär nicht so!“ Er schauderte.
„Aber... Das musst du mir erklären, bitte!“
„Ich hab doch gelacht.“
„Nun versteh ich gar nichts mehr. Fritz hatte doch einen Unfall, was soll denn das mit dir zu tun haben?“
Es bedurfte noch einiger Rück- und Nachfragen, bis Herr Mäuthis ein Bild von den Abläufen an jenem Abend und den Zusammenhängen hatte, wie Johannes sie sich deutete.
„Aber, soviel ich weiß, ist doch gar nicht sicher, wie es geschehen ist. Er kann doch ebenso gut beim Überqueren der Straße nicht aufgepasst haben und erfasst worden sein.“
Johannes schüttelte den Kopf. „Leute haben ihn ja gesehen. Er ist einmal kurz gefahren und gleich wieder abgesprungen. Und beim zweiten Mal ...“ Seine Augen rissen voll Entsetzen auf, er schlug die Hände vors Gesicht.
„Ich kann’s mir einfach gar nicht vorstellen von Fritz. Im Turnen ist er doch immer so ängstlich.“
„Ja, eben. Rudolph hat ja auch gesagt, es muss eine Verwechslung sein, das war niemals unser Fritz, der hat sich doch gar nicht getraut, als wir gespielt haben. Aber wenn die Leute ihn doch gesehen haben... - sie haben’s der Polizei gesagt, und die hat es seinem Vater erzählt. Er hat üben wollen, ohne dass wir dabei sind, ich weiß es ganz sicher. Und wenn wir nicht gelacht hätten...“
„Da siehst du, du sagst ja selbst, ihr habt gelacht - alle haben gelacht, nicht nur du!“
„Aber er hat doch geglaubt, ich bin sein Freund, ich steh zu ihm und nehm ihn in Schutz!“
In diesem Moment wäre Herr Mäuthis am liebsten an jedem anderen Ort der Welt gewesen, nur nicht hier, nur nicht dieser Situation, dieser Verantwortung ausgesetzt, hätte um das Vorübergehen dieses Kelches gebetet, der ihm, bei aller pädagogischen Passion, viel zu schwer für seine noch junge Unerfahrenheit schien. Was sollte er diesem Jungen nur sagen? - Zu behaupten, dass seine Vermutungen ihn nicht überzeugten, dass er sie für völlig unwahrscheinlich hielt, wäre schlicht eine Lüge gewesen. Wenn er ehrlich war, konnte er sich wirklich vorstellen, dass es sich so abgespielt hatte: Fritz, in seiner Verzweiflung, dass nun auch noch der Freund ihn auslachte, ihm vermeintlich in den Rücken fiel, von dem er sich Protektion und Solidarität gegen die vorherrschende Geringschätzung erhoffte, hatte für einmal eine Auflehnung, ein Aufbäumen empfunden und sich vorgenommen, es allen zu zeigen, heimlich das zu üben, was er auf Anhieb und unter den kritischen Blicken der Kameraden nicht hinbekam - und nur deshalb hatte es zu dem Unfall kommen können.
Aber - einmal abgesehen davon, dass dies mit Sicherheit nur einer von vielen Faktoren gewesen war, die alle zusammen den fatalen Ausgang verursacht hatten, und es schon von daher monströs, völlig überspannt war, dass dieses Kind sich die Schuld ganz allein aufbürdete - er konnte ihn doch unmöglich diesem schon fast kranken Zustand überlassen, ihn darin womöglich noch bestärken!
Hier war ein Dilemma! Ganz deutlich empfand er, dass Johannes’ zutiefst wahre, eigentliche Unschuld gerade in diesem unverstellten Schuldempfinden, in dieser starken, echten, unbefragt angenommenen Zerknirschung, diesen untröstlich fließenden Tränen lag; jeder Versuch, ihm zu helfen - der aber andererseits unbedingt notwendig war, damit er aus der selbstzerstörerischen Reue heraus zurück ins Leben finden konnte -, jedes Ausreden, Relativieren, Kleinreden würde im selben Moment, wo es die Wunde heilen hülfe, dieses Kostbare zerstören, ein und derselbe Akt nähme ihm die Schuld und die Unschuld zugleich. Er konnte sich nur mit dem Gedanken trösten, dass kein Mensch durchs Leben komme, ohne früher oder später, in größerem oder kleinerem Umfang, offenen Auges oder aus Unachtsamkeit, schuldig zu werden, und dass ohne die irgendwann zu erwerbende Fähigkeit, sich damit zu arrangieren, kein Weiterleben möglich wäre, und machte sich seufzend an die unvermeidliche Operation.
„Aber Junge!“, sagte er, „Du verrennst dich da in einen schrecklichen Irrtum! Du kannst doch nicht wirklich denken, dass dein bisschen Mit-Lachen die Ursache für diesen schlimmen Unfall war! Wenn du dich schon schuldig fühlst - wie müssen sich dann erst alle anderen fühlen? Die Kameraden, die ihn ständig ausgelacht, gehänselt, kleingemacht haben? Und hat nicht der Vater, der ihn zu so einem kleinmütigen Angsthasen geprügelt hat, die Mutter, der große Bruder, die ihn nicht besser in Schutz genommen haben, sind nicht die Passanten, die ihn gesehen, aber nicht von seinem Treiben abgehalten haben, mindestens ebenso schuld? Schau, selbst wenn es stimmen sollte und er wirklich aus Trotz und Auftrumpfen hat üben wollen - es hätte doch deswegen nicht gleich etwas passieren müssen? Sein Jackenschoß oder was es war hätte doch nicht hängenbleiben müssen, der Trambahnfahrer hätte vielleicht besser aufpassen, schneller bremsen können, und wieso gibt es an den Bahnen überhaupt eine Vorrichtung, die solch gefährliche Spiele möglich macht? Und wenn man es zu Ende denkt...“ - Herr Mäuthis, dem dieser Aspekt gerade erst beim Sprechen in den Sinn gekommen war, musste schlucken - „Hätte ich euch nicht zu diesem Fragespiel in die Stadt geschickt, dann wäre es überhaupt erst gar nicht so weit gekommen!“
Während sein Lehrer immer weitere Argumente aufzählte, immer mehr Schultern suchte, auf die die Last der Verantwortung für die Tragödie verteilt werden konnte, hatte das unkontrollierbare Schluchzen und Zittern, in das Johannes geraten war, allmählich nachgelassen, er hatte langsam aufgeblickt und sein Gegenüber, zwar skeptisch, zweifelnd, aber auch eine Spur erleichtert angesehen. Und als der ihn schließlich fragte, ob diese Gedanken ihm denn nicht einleuchteten und helfen könnten, ob er das nicht wenigstens versuchen wolle, nickte er, mit Tränen in den Augen zwar, aber offensichtlich dankbar, wenn auch im Moment vielleicht mehr für die Anteilnahme, die Mühe, die sich Herr Mäuthis gab, ihn zu trösten, als aus Überzeugung.
„Komm, jetzt wollen wir versuchen, doch noch etwas zu arbeiten, das wird vielleicht auch etwas guttun.“
Am Freitagnachmittag - vormittags hatte es die Zeugnisse gegeben, und beim Austeilen hatte Herr Mäuthis einmal innegehalten und mit erbleichendem Gesicht eines der Hefte still zur Seite gelegt - am frühen Nachmittag waren auf die eindringliche Bitte ihres Lehrers hin fast alle Kinder der Klasse und dazu noch einige Nachbarskinder aus der Straße auf dem Stadtteilfriedhof um ein neues Grab herum versammelt, in das soeben unter rasch absolviertem Zeremoniell der Sarg aus unlackierten, einen harzigen Duft nach frischem, lebendigem Holz verbreitenden Kiefernbrettern versenkt worden war.
Viel Aufhebens machten Pfarrer und Küster nicht, zu alltäglich und unbedeutend war für sie der Anlass; sicher wartete in der Kirche, aus der sie gerade gekommen waren, schon die nächste Trauergemeinde aus diesem bevölkerungsreichen Bezirk, wo unablässig gezeugt und geheiratet, geboren und getauft, gestorben und begraben wurde. Nachdem der Geistliche das Totengebet gesprochen und die erforderlichen rituellen Gesten ausgeführt hatte, wollte er knapp grüßend die Versammlung auflösen und gehen; da trat Herr Mäuthis auf ihn zu und sprach kurz leise mit ihm. Er nickte, zuckte die Schultern und stellte sich mit ergebener Haltung, die Hände übereinandergelegt vor sich hängen lassend, den Kopf leicht geneigt, zur Seite.
Der junge Lehrer blickte einmal kurz in die Runde, schaute die vorne am Grab stehenden Angehörigen des Jungen an, räusperte sich und senkte dann wieder leicht den Kopf, während er zu sprechen begann.
„Der Herr Pfarrer war so freundlich, mir zu erlauben, dass ich noch ein paar Worte sagen darf. Das ist mir ein Bedürfnis, aus zwei Gründen: Zum einen möchte ich im Namen der ganzen Schulklasse der Familie Schabach unser aufrichtiges Beileid aussprechen und unser mitfühlendes Entsetzen über das schlimme Unglück, das ihnen das Kind, den Bruder aus ihrer Mitte gerissen hat.
Zum anderen aber möchte ich mit ein paar wenigen Worten ein kleines, kurzes, aber bewusstes Innehalten schaffen, möchte ihm vielleicht einen Grabstein aus Worten in unsere Erinnerung setzen; und möchte damit zu verhindern suchen, dass er fast so unbemerkt und nebenher von uns geht, wie er durch sein kurzes Leben ging. Denn Fritz war einer, der unter dem halben Hundert Kindern, aus dem unsere Klasse besteht, eher durch sein Nicht-Auffallen auffiel, einer, den man vielleicht besser durch das charakterisieren kann, was er nicht war: Er war nicht stark, nicht mutig, nicht frech oder vorlaut, nicht schlagfertig und wusste sich nicht zu wehren, und war insofern denkbar schlecht gerüstet für diese unsere Welt, hatte ihrer Härte, ihren Grausamkeiten, ihren Herabwürdigungen nichts entgegenzusetzen. Was er aber war: ein Dulder, ein Harmloser, einer, der für sich nichts forderte, der niemandem etwas zuleide tat und tun wollte. Dennoch: auch wenn man seine Anwesenheit deshalb leicht übersehen mochte, so hatte er doch seinen Platz in unserer Gemeinschaft und lässt diesen Platz nun leer zurück - er lässt eine Lücke, und er fehlt.
Kann sein, dass er zum Schluss, der immer Ängstliche, für einmal Mut beweisen wollte - wir werden das nie mit Sicherheit erfahren können -, und es ist ihm schlecht bekommen. Wollen wir hoffen, dass er es dort, wo er jetzt ist - wenn stimmt, was man uns von klein auf darüber erzählt hat -, dass er es dort besser, vor allem leichter hat, als er es hier je hatte und gehabt hätte.
Mir ist auf jeden Fall, als könnte es uns allen nicht schaden, wenn wir uns im Laufe unseres Lebens hin und wieder einmal an Fritz erinnerten, uns ihn, den Schwachen, den Gutmütigen, den Duldsamen und Bescheidenen ins Gedächtnis riefen.“
Die Schüler hörten ihrem Lehrer bei aller Gerührtheit fast ein wenig stolz zu. Frieda heulte und schluchzte dabei hemmungslos; Agnes und Elsa standen eng nebeneinander und sahen jede auf eine Blume herab, die sie verlegen in den Händen drehten: sie hatten gedacht, zu einer Beerdigung gehörten doch Blumen, und hatten auf dem Trümmergrundstück jede eine von Nomis Rosen, eine weiße und eine rote, geholt, die sie später mit ins Grab werfen wollten; Rudolph trat von einem Bein auf das andere und blickte mit zusammengezogenen Brauen zu Boden; Johannes stand etwas abseits für sich und nahm sich stark zusammen, denn Herrn Mäuthis’ Versuche, ihm das auszureden, hatten das quälende Gefühl, eine besondere Rolle bei dem Unglück gespielt zu haben, nicht beseitigen, nur den unerträglichen Schmerz etwas mildern können.
Später, nach der Rückkehr vom Friedhof, blieben die Kinder noch alle beisammen, keiner brachte es fertig, schon nachhause zu gehen. Eher schweigsam und wortkarg zunächst standen sie am Ende der Straße im Schatten der Mauer. Dann fingen einzelne an, sich gegenseitig an Erlebnisse mit Fritz zu erinnern, und einer fragte in die Runde: „Wisst ihr noch, wie der Fritz an der Mauer hochgeklettert ist?“ - „Ja, klar, und was er uns für einen Schrecken eingejagt hat, als er mit dem ganzen Gestrüpp da runtergefallen ist!“ - „Aber ohne das hätten wir auch diese Tür da nicht entdeckt.“ - „Ja, und dass sie dann doch nicht aufgehen wollte, dafür kann er ja nichts.“ - „Und wer weiß, irgendwann bringen wir’s ja vielleicht doch noch fertig.“ -
„Ob er jetzt wohl da auf der anderen Seite ist bei seiner toten kleinen Schwester? Das hat er sich doch so vorgestellt, wisst ihr noch, dass dort das Paradies sein müsste“, erinnerte Elsa nachdenklich.
Johannes stand immer noch bedrückt in der Nähe und sagte nichts. Da trat mit einem Mal Rudolph neben ihn, zupfte ihn am Ärmel und sagte: „Komm, Hannes, nimm’s nicht so schwer! - Alles gut und schön, was der Mäuthis da über Fritz gesagt hat. Aber er war doch auch wirklich ein ausgemachter Tollpatsch und Pechvogel, der hat das Unglück ja förmlich angezogen. Ich glaube fest, dem wäre früher oder später sowieso was passiert!“ Und er sagte das in einem ungewohnt zurückgenommenen, gar nicht zynischen Ton, sondern wirklich, als wolle er den anderen trösten, und vielleicht auch sich selbst von einer Gewissenslast freisprechen.
Johannes schaute überrascht auf. Tatsächlich stand dem anderen ein ganz untypischer, angelegentlich besorgter Ausdruck im Gesicht. „Kann schon sein“, erwiderte er, „es ist nur...“ Er konnte nicht weitersprechen und schaute zur Seite, zur Mauer und an ihr hinauf, bis sein Blick an den paar Schönwetterwolken hängen blieb, die darüber hinsegelten.
„Ja, ich weiß“, gab Rudolph leise zurück, „Trotzdem...“
Nochmals zog er ihn am Arm, und da gesellte Johannes sich mit ihm zusammen zu den anderen Kindern, bis wenig später der Kreis - nach Spielen und lärmendem Zeitvertreib war ihnen heute wirklich nicht zumute - sich auflöste und einer nach dem anderen nachhause ging.
Und so begannen die großen Ferien.