Kitabı oku: «Münchhausen», sayfa 16
»Es freut mich«, rief der Diakonus, und drückte dem Jäger die Hand, »daß Sie die Sache so ansehen, über welche vielleicht ein anderer gespöttelt haben würde, daher es mir, wie ich Ihnen nun gestehen darf, im ersten Augenblicke auch gar nicht recht war, in Ihnen unvermutet einen Zeugen jener Szenen zu finden.«
»Gott bewahre mich, daß ich über etwas, was ich in diesem Lande gesehen, spöttelte!« versetzte der Jäger. »Ich freue mich jetzt, daß mich ein toller Streich zwischen diese Wälder und Felder geschleudert hat, denn sonst würde ich die Gegend wohl nicht kennengelernt haben, da sie auswärts wenig in Ruf steht, und in der Tat auch nichts Anziehendes für abgespannte und überreizte Touristen haben kann. Aber mich hat hier die Empfindung stärker, als selbst in meiner Heimat angefaßt: Das ist der Boden, den seit mehr als tausend Jahren ein unvermischter Stamm trat! Und die Idee des unsterblichen Volkes wehte mir im Rauschen dieser Eichen und des uns umwallenden Fruchtsegens fast greiflich möchte ich sagen, entgegen.«
Es ergaben sich aus dieser Äußerung Reden zwischen dem Diakonus und dem Jäger, welche beide führten, indem sie der Karre langsam folgten.
Zehntes Kapitel
Von dem Volke und von den höheren Ständen
»Das unsterbliche Volk!« rief der Diakonus. »Ja, dieser Ausdruck besagt das Richtige. Ich versichere Ihnen, mir wird allemal groß zumute, wenn ich der unabschwächbaren Erinnerungskraft, der nicht zu verwüstenden Gutmütigkeit und des geburtenreichen Vermögens denke, wodurch unser Volk sich von jeher erhalten und hergestellt hat. Rede ich aber von dem Volke in dieser Beziehung, so meine ich damit die besten unter den freien Bürgern und den ehrwürdigen, tätigen, wissenden, arbeitsamen Mittelstand. Diese also meine ich, und niemand anders vorderhand. Aus ihnen aber, und aus dieser ganzen Masse haucht es mich wie der Duft der aufgerißnen schwarzen Ackerscholle im Frühling an, und ich empfinde die Hoffnung ewigen Keimens, Wachsens, Gedeihens aus dem dunkeln, segenbrütenden Schoße. In ihm gebiert sich immer neu der wahre Ruhm, die Macht und die Herrlichkeit der Nation, die es ja nur ist durch ihre Sitte, durch den Hort ihres Gedankens und ihrer Kunst, und dann durch den sprungweise hervortretenden Heldenmut, wenn die Dinge einmal wieder an den abschüssigen Rand des Verderbens getrieben worden sind. Dieses Volk findet, wie ein Wunderkind, beständig Perlen und Edelsteine, aber es achtet ihrer nicht, sondern verbleibt bei seiner genügsamen Armut, dieses Volk ist ein Riese, welcher an dem seidenen Fädchen eines guten Wortes sich leiten läßt, es ist tiefsinnig, unschuldig, treu, tapfer, und hat alle diese Tugenden sich bewahrt unter Umständen, welche andere Völker oberflächlich, frech, treulos, feige gemacht haben.
Ich werde nicht, wie Levaillant die Tugenden der Hottentotten auf Kosten der europäischen Zivilisation herausstrich, den Lobredner idyllischer Rustizität und kleinbürgerlicher Enge machen, ich fühle sehr wohl, daß uns allen durch den Umschwung der Zeiten die Neigung zu glänzenden, geschmackvollen Dingen, zu einer Art von Aristokratie des Daseins mitangeboren ist, welche außerhalb der Mittelverhältnisse liegt, und von der wir uns, ohne an der Natürlichkeit unseres Wesens Einbuße zu leiden, nicht losmachen können, aber ich muß doch folgendes aus meiner eigenen Geschichte hier anführen. Ich war, da ich jenen jungen Vornehmen zu führen hatte, während ich noch selbst der Führung gar sehr bedürftig war, unter allen den geistreichen, eleganten, schillernden und schimmernden Gestalten der Kreise, die mir durch mein damaliges Amt zugewiesen waren, ebenso geistreich, halbiert, kritisch und ironisch geworden, wie viele; genial in meinen Ansprüchen, wenn auch nicht in dem, was ich leistete, unbefriedigt von irgend etwas Vorkommendem, und immer in eine blaue Weite strebend; kurz ich war dem schlimmeren Teile meines Wesens zufolge, ein Neuer, hatte Weltschmerz, wünschte eine andere Bibel, ein anderes Christentum, einen andern Staat, eine andere Familie, und mich selbst anders mit Haut und Haar. Mit einem Worte, ich war auf dem Wege zum Tollhaus, oder zur insipidesten Philisterei; denn diese beiden Ziele liegen meistens vor den Füßen der modernen Wanderer. Und da bin ich denn doch erst hier zwischen den wunderlichen aber achtbaren Originalen meiner Mittelstadt und unter diesen ländlichen Wehrfestern wieder zu mir selbst gekommen, habe Posto gefaßt, den Schaum der Zeit von mir weichen sehen und Mut bekommen, mir ein liebes häusliches Verhältnis zu gründen. Denn in dem Volke sind die Grundbezüge der Menschheit noch wach, da ist das richtige Verhältnis der Geschlechter noch fest ausgeprägt, da gilt das Geschwätz noch nichts, sondern das Gewerbe und der Beruf, den jeder hat, da folgt der Arbeit in gemessener Ordnung die Ruhe, da ist von den Vergnügungen das Vergnügen noch nicht verbannt. Hören Sie den Jubel in der Stadt oder auf dem Lande bei sonntäglichen Tänzen, bei Hochzeiten und Scheibenschießen, und urteilen Sie, ob der Spaß sobald in der Welt aussterben wird, wie die grämlichen Jünglinge der Gegenwart meinen? Es gibt Müßiggänger, schlechte Ehen und böse Weiber auch hier in Stadt und Land, aber sie heißen bei ihren und nicht bei vornehm umgebogenen Namen. Jene Mischungen von Langeweile und Begeisterung endlich, wie sie mir einst ein Freund treffend nannte, aus denen in den sublimierten Kreisen der Gesellschaft manches Perverse hervorgeht, und aus deren einer derselbe Freund auch die blutige Tat der armen, schönen, bejammernswerten Frau ableitete, deren Unglück darin bestand, einen mittelmäßigen Dichter und großen Selbstling geheiratet zu haben, liegen dem Volke ganz fern. Das ganze potenzierte und destillierte Genre, der Hermaphroditismus des Geistes und Gemütes, welchen die Muße eines langen Friedens hie und da erzeugt hat, wird dem Stock und Stamm der Gemeinschaft immer fremd bleiben.
In dieser orthopädischen Anstalt gerader und normaler Verhältnisse legten sich denn meine etwas verbogenen Glieder auch wieder zurecht. Freilich muß man in der Stille und Abgeschiedenheit von den brausenden Strömungen der Gegenwart auf sich wachen, denn die Gefahr des Verbauerns steht auch nahe, indessen noch hange ich durch stille aber feste Fäden mit dem Weltganzen zusammen, nur mit dem Unterschiede, daß sie sich jetzt bloß um die Gegenstände schlingen, zu denen mich ein geistiges Bedürfnis hinweist, während ich mir früher manches geistige Bedürfnis, wie es so manche unserer Zeitgenossen machen, einzubilden wußte.«
Der Jäger ging nach dieser Rede des Diakonus schweigend und mit gesenktem Haupte neben ihm her. »Was ist Ihnen?« fragte sein Bekannter nach einer Pause.
»Ach«, sagte jener, »Ihr Bild vom deutschen Volke ist wahr, und es macht mich nur traurig, daß teilweise über dieser Grundfläche ein so wenig entsprechender Gipfel steht. Dieses tüchtige Volk würde bei weitem mehr ausrichten, es würde weit entschiedener Front machen, wenn in den höheren Ständen eine gleiche Tüchtigkeit lebte! Schlimm, daß ich, ich selbst sagen muß: Dem ist nicht so.«
»Leider«, erwiderte der Diakonus, »sind unsre höheren Stände hinter dem Volke zurückgeblieben, um es kurz und deutlich auszusprechen. Daß es viele höchst ehrenwerte Ausnahmen von dieser Regel gebe, wer wollte es leugnen? Sie befestigen aber eben nur die Regel. Der Stand als Stand hat sich nicht in die Wogen der Bewegung, die mit Lessing begann und eine grenzenlose Erweiterung des gesamten deutschen Denkens, Wissens und Dichtens herbeiführte, getaucht. Statt daß vornehme Personen geboren sind, die Patrone alles Ausgezeichneten und Talentvollen zu sein, halten bei uns noch viele Große das Talent für ihren natürlichen Feind, oder doch für lästig und unbequem, gewiß aber für entbehrlich. Es gibt ganze Landstriche im deutschen Vaterlande, in welchen dem Adel, ein Buch zu lesen, noch immer für standeswidrig gilt, und er statt dessen lärmende, nichtige Tage abhetzt, wie in den Zeiten jener Bürgerschen Parforcejagd-Ballade. Das Auffallendste hiebei ist, daß selbst nach der ungeheuren Lehre, welche die Weltkriege den Privilegierten erteilt hatten, diese noch nicht eingesehen haben, es sei mit dem leeren Scheine nunmehr für immer vorbei, und der erste Stand müsse notwendig sich in sich selber gründlich fassen und restaurieren. Es war seine erste Obliegenheit, dies zu begreifen, es war die Lebensfrage für ihn, ob er sich mit dem Heiligtume deutscher Gesinnung und Gesittung nunmehr inniglich verbünden, allem wahrhaftquellenden geistigen Leben der Gegenwart Schirm und Schutz geben möchte, damit das Zauberbad dieses Lebens seine altersstarren Glieder verjünge. Er hat seine Stellung und diese Frage nicht verstanden, hat in allerhand kleinen Hausmittelchen seine Erkräftigung gesucht, und ist darüber obsolet geworden. Nie und zu keiner Zeit hat ein Stand anders als durch Ideen existiert. Auch den ersten haben Ideen geschaffen und erhalten, anfänglich die der Kampfestapferkeit und Lehnstreue, demnächst die der besondern Ehre. Gegenwärtig ist durch die Errettung des Vaterlandes, welche von allen Ständen ausging, die höchste Ehre ein Gemeingut geworden; weshalb denn die oberen Stände das Protektorat des Geistes hätten übernehmen müssen, wenn sie wieder etwas Besonderes sein und vorstellen wollten.«
»Ich habe«, sagte der Jäger kleinlaut, »in einer hohen und vornehmen Familie, die ich vor kurzem auf meinen Streifereien kennenlernte, die zwanzigjährigen Töchter auf gut schwäbisch mit der »Iphigenia« bekanntmachen müssen, welche sie noch nie gelesen hatten, weil die Eltern Goethe für einen jugendverführerischen Schriftsteller hielten.«
»Und wer weiß, ob das Haupt dieser Familie, welche ich übrigens nicht kenne, nicht eine von den Figuren ist oder sein wird, welcher man Bahnen der Kultur anvertraut?« sagte der Diakonus. »Der unbefangene Beobachter hat in dieser Hinsicht zuweilen die erschreckendsten Kontraste anzuschauen. Nun müssen Sie einräumen, daß ein französischer Marquis oder Duc, von dem eine gleiche Barbarei gegen einen Klassiker seiner Nation verlautete, in der Pariser Sozietät für Lebenszeit verloren wäre.«
»Das Beispiel von Frankreich fordert hier von selbst zur Frage auf«, sagte der Jäger. »Wie kommt es nur, daß sich dort ganz natürlich gemacht hat, was bei uns nie zustande kommen will, nämlich: ein beständiger Kontakt der Großen mit den Geistern und mit dem Geiste der Nation, eine zarte Achtung vor dem geistigen Ruhme der Nation, und eine unbedingte Anerkennung der Literatur, als der eigentlichen Habe der Nation?«
»Die französische Nation, ihr Geist und ihre Literatur haben und sind Esprit«, versetzte der Diakonus. »Der Esprit ist ein Fluidum, welches die Natur unter den zu seiner Erzeugung günstigen Voraussetzungen an ganze Länder und Völker austeilen kann. Es ist also dort in Frankreich eine natürliche Brücke von dem Volksgeiste und von der Literatur zu dem Geiste der vornehmen Klassen geschlagen, letztere ergreifen in ihrem Interesse ohne Anstrengung nur das ihnen Gleichartige. Wir haben keinen Esprit. Unsere Literatur ist ein Produkt der Spekulation, der freiwaltenden Phantasie, der Vernunft, des mystischen Punkts im Menschen. Die Gaben dieser von Grund aus gehenden Arbeit des Geistes sich anzueignen sind eben nur wieder Geister, welche die Arbeit stählte, vermögend. Mit Leichtfertigkeit ist deutscher Art nicht beizukommen. Die Vornehmen arbeiten aber nicht gern, sie ziehen es bekanntlich vor, zu ernten, wo sie nicht gesäet haben. Deshalb ist es wieder natürlich — wenn auch das Verwerfungsurteil über die Barbarei des ersten Standes bei Kräften stehenbleibt — daß er locker mit deutschem Geiste zusammenhängt; zu einem näheren Bündnisse hätte er sich über Gebühr anstrengen müssen.«
»Zu leugnen ist doch auch nicht, daß gerade durch die Absonderung des deutschen Geistes von dem Atem der hohen Sozietät ihm manche Tugenden erhalten worden sind«, sagte der Jäger; »seine Frische, seine eigensinnige herbe Jungfräulichkeit, sein rücksichtsloses Um- und Vorgreifen. Denn jede Erfindung der schaffenden Seele, welche vor Augen haben muß, mit gewissen Forderungen der Gesellschaft zusammenzutreffen, wird notwendigerweise mechanisiert. Unsere Wissenschaft, unsere Philosophie, unsere Literatur sind Töchter Gottes und der Natur; mit welchen andern möchten sie einen Tausch solches Stammbaums eingehen?«
Hier wurden diese Gespräche von einem heftigen Schreien, ja Brüllen unterbrochen, welches sich an der Zinskarre erhob. Hinzueilend sahen sie den Küster in entsetzter Stellung, die Arme wie Wegweiser ausgebreitet, das Gesicht braun und weiß gesprenkelt, den Mund wie Laokoon aufgesperrt. Um ihn her standen die Frauenspersonen und der Kolonus, der seine Karre zum Stehen gebracht hatte. Die Küsterin klopfte dem Küster den Rücken, die Magd hatte ihm den Rock halb aufgeknöpft, aus welchem das Federkissen gefährlich hervorhing. Der Diakonus forschte nach der Ursache des Auftritts und erfuhr von seiner Magd, (denn der Küster war noch immer sprachlos) daß der Küster von der Karre abgestiegen sei, um, wie er gesagt, der lieben Verdauung wegen etwas zu gehen, da sei ein großer schwarzer Hund dicht an ihm vorbei quer über den Weg hinübergeschossen, der Küster habe aber sofort jenes Geschrei oder Gebrüll erhoben, so daß beinahe die Pferde scheu geworden seien.
In diesem Augenblicke gab die Küsterin ihrem Manne, bei dem das Klopfen nicht verfangen wollte, mit den Worten: »Wenn alles bei der Maulsperre vergebens ist, so hilft das!« aus Leibeskräften eine Ohrfeige. Alsbald flogen die Kinnbacken des entsetzten Mannes zusammen wie Torflügel, er wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte zu seiner Frau: »Ich danke dir, Gertrud, für diese Backpfeife, durch welche du mich von schweren Leiden kuriert hast.« Und zum Diakonus sich wendend: »Ja, Herr Diakonus, ein wütender, ein toller Hund! Schweif eingeklemmt, rote und dabei triefende Augen, Schaum vor der Schnauze, blaue Zunge, heraushängend, taumelnder Gang, kurz alle Kennzeichen der wasserscheuen Wut!«
»Um Gottes willen, wo hat er Euch gebissen?« rief der Diakonus erblassend.
»Nirgend, mein Herr Diakonus«, versetzte der Küster feierlich, »nirgend; dem Allmächtigen sei Dank dafür. Aber wie leichtlich hätte er mich beißen können. Ich habe das Ungeheuer, wie andere einen grimmen Wolf durch Geigenspiel in die Flucht schlugen, durch den Ton meiner Stimme, die mir Gott gegeben, verscheuchet und verjaget, als es eben im Anspringen auf mich begriffen war. Es stutzete und schwang sich seitwärts die Wallhecke hinauf. Mir aber blieben von der übermenschlichen Anstrengung jenes heilsamen Angstrufes die Kinnbacken in der Maulsperre verfangen und verfestiget, bis meine gute Ehefrau, wie Sie gesehen, mir die wirksame Backpfeife verordnete. Das ist ein Zinstag, an welchen ich gedenken werde!«
Der Diakonus und der Jäger hatten Mühe, ein Lachen zu verbeißen. Die Magd sagte, sie glaube nicht, daß der Hund toll gewesen sei, er möge wohl nur seinen Herrn verloren gehabt haben, in welchem Falle die Kreaturen sich immer sehr ungebärdig anstellten. Wirklich sah man den Hund in einiger Entfernung auf einem Feldwege ruhig und schweifwedelnd hinter einem Packenträger hergehen. Der Küster, dem diese Bemerkung mitgeteilt wurde, ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern sprach ernsthaft: »Wie leichtlich hätte der Hund toll sein können!«
Der Diakonus ließ ihn und sein Fuhrwerk sich wieder in Bewegung setzen, und trennte sich an dieser Stelle von dem Jäger, da, wie er sagte, ihr Gespräch doch gestört sei, und der Kolonus es ihm verdenken werde, wenn er dessen Gesellschaft auf dem ganzen Heimwege meide. Bei dem Abschiede mußte der junge Schwabe seinem Bekannten das Versprechen geben, ihn auf einige Tage in der Stadt zu besuchen. Darauf gingen sie nach verschiedenen Richtungen auseinander.
Eilftes Kapitel
Die fremde Blume und das schöne Mädchen. Die gelehrte Gesellschaft
Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und dem Jäger war es nicht gelegen, so früh in den Oberhof zurückzukehren. Er trat auf eine der höchsten Wallhecken, sah sich in der Gegend um und meinte, daß er eine Hügelgruppe, welche in geringer Entfernung ihre buschichten Häupter erhob, wohl noch durchstreifen und doch vor spät abends wieder in seinem Quartiere sein könne. Das Wiederfinden des Diakonus und sein Gespräch hatte manche Erinnerungen der früheren Zeiten in ihm aufgeweckt; er war unruhig und sehnte sich in dieser Stimmung nach Pfaden, die er noch nicht betreten, nach Bergen und Bäumen, an deren Anblick er sich noch nicht gewöhnt hatte. Tief, tief seine heiße Seele in das kühle Waldesdunkel, in den feuchten Dunst bemooster Felsen, in den begeisteten Schaum springender Quellen zu tauchen, danach lechzte er; danach schmachtete er aus der brütenden Wärme der Kornfelder.
Der Anblick des Diakonus hatte ihm wohl und wehe gemacht; ihre erste Bekanntschaft war durch die unerschrockene Gymnastik des Geistes, in welcher die Jugend ihre ersten überschwellenden Kräfte zu tummeln liebt, bezeichnet gewesen. Jener, älter, und wie erwähnt worden, schon Führer eines jungen vornehmen Schweden, hatte sich dennoch als ein immer fertiger Disputant und Opponent zu den Studenten gehalten, und manche Stunde der Mitternacht war dem Jäger mit ihm in eifrigem Kämpfen und Ringen vergangen. — »Ja«, rief er, indem er immer fürbaß den Hügeln zuschritt, »du, mein deutsches Vaterland, bleibst doch der ewig geweihte Herd, die Geburtsstätte des heiligen Feuers! Überall, auf jedem Fleckchen in dir wird dem Dienste des Unsichtbaren geopfert, und der Deutsche ist ein Abraham, der dem Herrn den Altar baut allerwege, wo er auch nur die Nacht über gerastet hat.« — Er gedachte der Reden seines Bekannten und der Situation, in welcher sie vorgefallen waren. — »Das wird auch anderwärts nicht vorkommen, daß ein armer Pastor, hinter seiner Hühnerkarre herschreitend, sich an der unsterblichen Idee der Nation begeistert«, sagte er. »Lächerlich und erhaben! Lächerlich, weil das Erhabene auch durch das Ärmlichste und Kleinste bei uns hindurchsieht und die Formen des Geringen siegreich zerbricht! Wie reich bist du, mein Vaterland!«
Sein Fuß betrat frisches, feuchtes Wiesengrün, besäumt von Büschen, unter denen ein klares Wasser rann. Dieser vollen, gesunden, jungen Seele taten noch symbolische Handlungen not, sich und ihrem Drange zu genügen. In kurzer Entfernung zeigten sich kleine Felsen, über die ein schmales, schlüpfriges Pfädchen lief. Er ging hinüber, klomm zwischen den Klippen nieder, streifte den Ärmel auf, ritzte das Fleisch seines Armes und ließ das Blut in das Wasser rinnen, indem er ein stilles, frommes Gelübde ohne Worte sprach. Er legte den Arm in das Wasser, die Flut kühlte ihm mit anmutigem Schauder das heiße Blut ab. So, halb knieend, halb sitzend an dem feuchten, dunkeln, umklippten Orte blickte er seitwärts in das Offene; da wurden seine Augen von einer prachtvollen Erscheinung gefangengenommen. Zwischen den Gräsern waren alte Baumtrümme verweset und starrten schwarz aus dem umgebenden lustigen Grün. Einer derselben war ganz ausgehöhlt, in seinem Inneren hatte sich der Moder zu brauner Erde niedergeschlagen, und aus dieser und aus dem Trumm, wie aus einem Krater, blühte die herrlichste Blume empor. Über dem Kranze sanfter runder Blätter erwuchs ein schlanker Stengel, der große Kelche von unnennbar schöner Röte trug. Tief in den Kelchen stand ein geflammtes zartes Weiß, welches in leichten grünen Äderchen nach dem Rande zu auslief. Es war offenbar keine hiesige, es war eine fremde Blume, deren Samenkorn, wer weiß, welcher? Zufall in den durch die Verwesungskräfte der Natur bereiteten Gartenboden getragen, und eine günstige Sommersonne auch hier zum Wachsen und Blühen gebracht hatte.
Der Jäger erquickte sein Auge an diesem reizenden Anblicke, der ihn belohnte, als er das Gelübde getan hatte, mit Leib und Seele dem Vaterlande angehören und zeitlebens keine Götter haben zu wollen, als die heimischen. Trunken von der Magie der Natur lehnte er sich zurück und schloß in süßen Träumereien die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich die Szene verändert.
Ein schönes Mädchen in einfachem Gewande, den Strohhut über den Arm gehängt, kniete vor der Blume, hielt deren Stengel zärtlich, wie den Hals des Geliebten umschlungen, und blickte, die holdeste Freude der Überraschung in den Augen, tief in einen der roten Kelche. Sie mußte, während der Jäger zurückgebeugt lag, leise herbeigekommen sein. Ihn sah sie nicht; die Klippen verdeckten ihn, und er hütete sich wohl, eine Bewegung zu machen, welche ihm die Erscheinung verscheuchen konnte. Aber, als sie nach einer Weile atmend von dem Kelche emporschaute, fiel ihr Blick seitwärts in das Wasser, und sie gewahrte den Schatten eines Mannes. Nun sah er sie sich verfärben, die Blume aus ihren Händen entlassen, übrigens aber regungslos auf den Knieen bleiben. Er erhob sich mit halbem Leibe zwischen den Klippen, und vier junge, unschuldige Augen trafen einander mit feurigen Strahlen. Nur einen Augenblick! denn alsobald stand das Mädchen, Glut im Antlitz, auf, warf den Strohhut über das Haupt und war mit drei raschen Schritten hinter den Büschen verschwunden.
Er kam nun auch aus den Klippen hervor und streckte den blutigen Arm nach den Büschen aus. War der Geist der Blume lebendig geworden? Er sah diese wieder an, sie wollte ihm nicht mehr so schön bedünken, wie wenige Augenblicke zuvor. »Eine Amaryllis«, sagte er kalt, »ich erkenne sie jetzt, ich habe sie im Gewächshause.« Sollte er dem Mädchen nachfolgen? Er wollte es, eine geheime Scheu fesselte aber seinen Fuß. Er faßte an seine Stirne; geträumt hatte er nicht, das wußte er, »und das Ereignis«, rief er endlich mit einer Art von Anstrengung, »ist auch so absonderlich nicht, daß es geträumt werden müßte! Ein hübsches Mädchen, die des Weges daherkommt und sich auch an einer hübschen Blume erfreut, das ist das Ganze!«
Er strich zwischen unbekannten Bergen, Tälern, Geländen umher, solange ihn die Füße tragen wollten. Endlich mußte er an den Rückweg denken. Spät, im Dunkeln, und nur mit Hülfe eines zufällig gefundenen Führers erreichte er den Oberhof.
In diesem brummten die Kühe, der Hofschulze saß auf dem Flure mit Tochter, Knechten und Mägden zu Tische und wollte moralische Gespräche beginnen. Aber dem Jäger war es unmöglich, darauf einzugehen, es kam ihm alles verwandelt, roh und ungefüge vor. Er suchte rasch seine Stube, nicht wissend, wie er noch länger in das Ungewisse hin hier werde verweilen können. Ein Brief, den er oben von seinem Freunde Ernst aus dem Schwarzwalde fand, vermehrte noch sein Mißbehagen.
In dieser Stimmung, welche einen Teil der Nacht dem Schlummer raubte und die sich selbst am folgenden Morgen noch nicht verloren hatte, war es ihm sehr erwünscht, daß ihm der Diakonus ein kleines Wägelchen schickte, ihn nach der Stadt abzuholen.
Schon von weitem zeigten Zinnen, hohe Mauern und Bastionen, daß der Ort, einst ein mächtiges Glied im Bunde der Hansa, seine große, wehrhafte Zeit gehabt habe. Der tiefe Graben war noch vorhanden, wenngleich zu Baumpflanzungen und Küchengärten verwendet. — Sein Fuhrwerk bewegte sich, nachdem das dunkle, gotische Tor durchfahren war, etwas mühsam auf dem zerschrotenen Steinpflaster und hielt endlich vor einer freundlichen Wohnung, an deren Schwelle ihn schon der Diakonus empfing. Er trat in einen heitern, behaglichen Haushalt ein, belebt von einer munteren, hübschen Frau, und einem Paar lebhafter Knaben, die sie ihrem Eheherren geboren hatte.
Nach dem Frühstück machten sie einen Gang durch die Stadt. Die Straßen waren ziemlich menschenleer. Zwischen alten Schwibbögen, Türmchen, Kragsteinen, Fragmenten von Steinfiguren zeigten sich nicht selten Sumpfstellen, Baumplätze, Grasflecke. Um ein altes Gebäude, mit vier zierlichen Spitzsäulen an den Ecken und einer Kränzung von Rauten und Rosen aus Sandstein sprang ein mutwilliges Wässerchen; Efeu und wilder Wein hatte sich in den Ritzen des Mauerwerks eingenistet. Ringsumher die tiefste Einsamkeit. »Ist es nicht, als ob man den Geist der Geschichte leibhaftig weben und spinnen sieht?« sagte der Jäger an dieser oder einer anderen ihr ähnlichen Stelle. »Ja«, versetzte der Diakonus, »man wird hier, wie von selbst, zum Altertume hingeführt, und eine erinnernde Stimmung bemächtigt sich der Seele. Dazu kommt, daß auch ein Teil der Bevölkerung aus menschlichen Ruinen besteht.«
»Wieso?« fragte der Jäger.
»Weil es hier sehr wohlfeil leben ist, ferner wegen der Stille des Orts und vielleicht auch wegen seiner dem menschlichen Alter ähnlichen Physiognomie ziehen sich hieher viele bejahrte Leute aus Amt und Geschäft zurück, ihre letzten Tage unter diesem verwitternden Gemäuer zuzubringen«, sagte der Diakonus. »Greiser Beamten und Offiziere, welche hier ihre Pensionen verzehren, betagter Rentner, welche das Comptoir jüngeren Händen überlassen haben, gibt es hier eine Menge. Wenn nun auch viele dieser Ausruhenden nur langweilige alte Tröpfe sind, so stößt man doch auch auf manchen, der sich umgetan hat, einen reichen Schatz von Erfahrung bewahrt und von dem man Dinge zu hören bekommt, die nicht so allgemein bekannt sind. So erzählen gewissermaßen die steinernen Trümmer Geschichte und die Menschentrümmer, welche darunter umherwanken, Memoiren. Hier sollen Sie gleich ein solches Fragment kennenlernen, einen alten Hauptmann; nur bitte ich Sie, widersprechen Sie ihm in nichts, denn Widerspruch kann er nicht ertragen.«
Er klingelte an der Türe eines ziemlich gut aussehenden Hauses, welches hinter Kastanien beschattet lag, ein Diener öffnete und führte mit steifer militärischer Haltung den Besuch in ein Zimmer, welches von Sauberkeit glänzte. Dann ging er den Herrn zu rufen, welcher, wie er sagte, die Hühner füttere. Der Diakonus blickte sich flüchtig im Zimmer um und sagte dann rasch zum Jäger: »Der Hauptmann ist heute französisch, also um Gottes willen keine patriotische deutsche Aufwallung, er mag vorbringen, was er will!« Der Jäger hatte sich gleichfalls im Zimmer umgesehen. Alles atmete darin das Andenken an die Taten des Empire. Napoleon stand als ganze Figur im bekannten Oberrocke, die Arme gekreuzt, auf dem Schreibschranke, außerdem war er mehrmals in Büsten und Medaillons vorhanden. Da hing Murat in dem bekannten Theaterkostüme zu Roß, Eugen, Ney, Rapp. Es fehlte nicht der General bei dem Besuche der Pestkranken zu Jaffa, der erste Konsul zu St. Cloud und der Kaiser bei dem Abschiede von den Garden zu Fontainebleau. Viele, diesen gemäße Darstellungen reihten sich ihnen an. In einer Ecke des Zimmers sah der Jäger ein Bücherbrett mit den Werken von Ségur, Gourgaud, Fain, LasCases und andern, welche zu dieser Autorenreihe gehörten.
Dennoch hatte er die Mahnung seines Begleiters nicht ganz verstanden und wollte ihn eben um nähere Erläuterung bitten, als der Hauptmann das Zimmer betrat. Es war ein ältlicher Herr in blauem Oberrock, das rote Band im Knopfloch. Durch das hagere Gesicht zogen sich unzählige Runzeln und auch einige Schmarren. Er begrüßte seine Gäste mit trockener Höflichkeit, lud sie zum Sitzen und ließ sich den Namen des Jägers nennen, den der Diakonus ohne Arg aussprach, ehe sein Träger es verhindern konnte. »Ich habe«, sagte der Hauptmann, indem er nachsann, »einen dieses Namens bei den Württembergern in Rußland gekannt. Der Zufall führte uns mehrmals zusammen, bei Smolensk gerieten wir beide in Gefangenschaft, halfen uns aber bald wieder heraus.«
»Das war mein Oheim«, erwiderte der Jäger. — Diese Entdeckung gab ihm sogleich einen näheren Bezug zu dem Hauptmann, dessen ganzes Gesicht sich erheiterte. Er drückte dem Neffen seines alten Kameraden die Hand und ließ sich nun in seinen Kriegeserinnerungen bis zur Schlacht von Leipzig ungemessen gehen. Dort aber bekamen sie einen Halt und stockten, sozusagen, hinter einem Schlagbaume, über den sie nicht hinwegsprangen. Am Schlusse seiner Erzählungen sagte er: »Es ist um einen großen Mann eine eigene Sache, und die Menschheit schaufelt sein Bild aus dem Schutte hervor, mag das Unglück diesen noch so hoch über ihm aufgetürmt haben. Was haben alle die Siege, die zweimal nach Paris führten, den Siegern in betreff des Nachruhmes geholfen? Nichts. Es sind Tatsachen geblieben, die alle Welt kalt anhört und weitererzählt, aber der Kaiser, der Kaiser bleibt die einzige Gestalt jener Tage. Er hat die Menschen gequält, und dennoch vergöttern sie ihn, ei, ein wenig Qual ist dem Menschengeschlechte nützer als allzu schlaffes Wohlleben! Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch: An den gußeisernen Monumenten mit den spitzigen Kirchendächern werden die Invaliden wachen und die Gegitter den reisenden Engländern aufschließen, aber nur an der Vendômesäule werden jeden fünften Mai frische Immortellen liegen.«
Der Diakonus erhob sich; der Hauptmann fragte, ob er den Fremden nicht noch anderweit zu sehen bekomme, was der Diakonus bejahte, da, wie er hinzufügte, sein junger Freund ihm das Vergnügen machen werde, an der Gelehrten Gesellschaft teilzunehmen. »In ihr hoffen wir diesmal stark auf Sie, liebster Hauptmann«, sagte er. — »Ich werde Euch aus den Papieren meines seligen Freundes einen Beitrag liefern, welcher Euch zeigen soll, welche Jüngelchen den großen Kaiser geschlagen haben wollen«, versetzte der Hauptmann ironisch.
»Das ist ja ein wütender Bonapartist«, sagte der Jäger draußen zum Diakonus. »Tageweise«, versetzte dieser. »Johann, können Sie uns nicht das preußische Zimmer zeigen?« mit diesen Worten wandte er sich an den begleitenden Diener. Der Mensch sah sich ängstlich um, nach einigem Schweigen antwortete er: »Der Herr wird wohl gleich ausgehen; treten Sie nur sacht hinein, ich will hier auf Posten bleiben.« — Der Diakonus ging mit seinem Gaste über den Flur nach der andern Seite des Hauses und tat ihm ein Zimmer auf, vor dessen Fenstern Weinranken einen grünen Schimmer verbreiteten und welches eine anmutige Aussicht auf blühende Gartenbeete hatte. Das erste, was dem Jäger auffiel, weil es der Türe gerade gegenüberstand, war ein Tropäon auf hohem Postamente, zusammengefügt aus Kanonen, Waffen, Fahnen, Kriegesgerät. An dem Postamente glänzten in goldenen Ziffern die Jahreszahlen 1813, 1814, 1815 und über dem Tropäon an der Wand prangten in einer Einfassung von goldenen Sternen die Namen der Befreiungsschlachten auf weißem Grunde. Die Wände dieses Zimmers waren von den Büsten der verbündeten Herrscher und ihrer Feldherrn geschmückt. Da sah man den Abschied der Freiwilligen, Blücher und Gneisenau in ihren Regenmänteln nach der Schlacht an der Katzbach über die Heide reitend, den Einzug in Paris, die Plane von Leipzig und Belle-Alliance. Und um den symmetrischen Gegensatz zu dem französischen Zimmer zu vollenden, so fehlte auch hier eine kleine Sammlung von Kriegsbüchern nicht, von Deutschen in deutschem Sinne geschrieben.