Kitabı oku: «Kriminologie», sayfa 4
[24]30Schaubild 1.1: Erklären und Verstehen
Kausales Erklären | Interpretatives Verstehen | |
Modell | Monistisch:erklärt „Ursachen“ menschlichen Verhaltens wie die verursachenden Faktoren eines Naturgeschehens | Dualistisch:Sinnhaftigkeit und Intentionalität der „Gründe“ des Handelns von Subjekten müssen anders als eine Naturgegebenheit bestimmt werden |
Sozialwelt als Gegenstand | Unabhängig vom Beobachter als mit ihm nicht kommunizierendes Objekt materiell vorhanden | Forscher ist mit Sozialwelt reflexiv verbunden: er hat daran Anteil, agiert mit der Forschung in ihr und diese reagiert kommunikativ auf Forschungsergebnisse |
Beobachtung | Erfolgt einseitig: Beobachter → Objekt | Verläuft interaktiv: Beobachter ↔ Objekt |
Methode | Quantitativ an statistischen Zusammenhängen interessiert | Qualitativ an der Rekonstruktion des Sinns interessiert, den der Handelnde mit seinem Handeln verbindet |
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Damit stellt sich die prekäre Frage, was die kriminologische Wahrnehmung zur wissenschaftlichen macht, also vom Laienverständnis unterscheidet. Die Antwort fiele nur leicht, wenn man mit dem Erklärungsmodell davon ausgehen könnte, dass die kriminologische Beobachtung in der streng objektiven wissenschaftlichen Wahrnehmung und Erklärung von Faktizität bestünde. Jedoch gibt es zur Beobachtung der Sozialwelt nicht den einen externen objektiven Standpunkt, sondern nur Standpunkte in ihr, die den Beobachtenden einbeziehen, die seine Wahrnehmung perspektivisch und seine Feststellungen bestreitbar machen.
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Darum kann die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, nicht mit der unbezweifelbaren Autorität einer „exakten“ Wissenschaft auftreten. Dennoch unterscheiden sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Kriminalität von unbelehrten und ungelehrigen Debatten am Stammtisch. Was die Wissenschaft auszeichnet, ist das reflexive Bewusstsein ihrer Perspektivengebundenheit, ihr Bemühen um Unbefangenheit und die diskursive Begründung ihrer Annahmen. Dies soll im folgenden Abschnitt deutlicher werden.
33 Sutherland/Cressey 1978, 21.
34 Comte 1975.
35 Der Begriff bezieht sich ursprünglich auf eine Praxis, die ohne Bezug auf Theorien sich auf wissenschaftlich erwiesene „Fakten“ stützen will, wird inzwischen aber auch für die empirische Wissenschaft selbst verwandt, die scheinbar theorieindifferent nach reinen „Fakten“ sucht.
36 Habermas 1967.
37 Sellars 1997, 117, sect. 63: „The myth of the given”.
38 Wittgenstein 1973, 8.
39 Reckwitz 2012, 15, 32.
40 Sack 1968, 469.
41 Ferell/Hayward/Young 2015, 1 ff.
42 Giddens 1984, 199.
43 Giddens 1984, 199.
44 Ferell/Hayward/Young 2015, 209 ff.
45 Diekmann 2010, 443 ff., 461 ff., 510 ff.; Flick 2012; Mayring 2016.
46 Sack 2003, 87.
47 Wittgenstein 1973, 107.
48 Kunz 2001.
[25]§ 3 Das Problem kriminologischer Unbefangenheit
Lektüreempfehlung: Kunz, Karl-Ludwig (2008): Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Ein Beitrag zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften. Wiesbaden, 35-53; Sack, Fritz (1996): Kriminalität dementieren – sonst nichts? KrimJ 28, 297-300.
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Nach dem vorherrschenden Erklärungsmodell (→ § 2 Rn 6 ff.) gilt es, „die Gesamtheit des Erfahrungswissens“49 zu sammeln und zu ordnen. Kriminologie wird so als Erfahrungswissenschaft verstanden, die sich auf die Beobachtung erhobener Fakten gründet und die gewonnenen Wahrnehmungen an theoriegeleiteten Hypothesen überprüft. Ziel ist die „Gewinnung eines festen Bestandes an gesichertem Wissen“50. Damit soll sich die Kriminologie zu einer „harten“ Wissenschaft entwickeln, die streng auf aussagekräftigen Beobachtungen beruht und damit evidence-based (→ § 2 Rn 8) verfährt.51
„Wie keine mir bekannte Einzeldisziplin zieht die Kriminologie mit dem Schwert der Empirie und der emphatischen Betonung der Erfahrung, der Tatsachen, der Beobachtung gegen theoretischen Anspruch und konzeptuelle Vorgängigkeit zu Felde, proklamiert, ja: klammert sich an einen wissenschaftlichen Induktivismus, den man in wissenschaftshistorischer Literatur wohl noch nachlesen kann, aus den aktuellen methodischen und methodologischen Anleitungen für die Werkstattarbeit gesellschaftlicher Analyse indessen vollständig verbannt findet.“52
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An sich ist es erwünscht und soweit möglich geboten, sich bei der wissenschaftlichen Annäherung an Kriminalität von der schillernden Ambiguität der Empfindungen zu lösen. Die Faszination der Kriminalität, ihr geheimnisvoller und leidenschaftlicher Gehalt, löst in uns wie kaum sonst ein Thema Empfindungen des Mitgefühls und der Abscheu, der Neugier und der Verängstigung aus, deren Widerstreit nicht zum Ende kommt, sondern sich problembezogen immer wieder neu entzündet. Kriminalität ist mit zwiespältigen Empfindungen verbunden: mit Entrüstung und heimlicher Bewunderung, Betroffenheit und Schadenfreude, mit Nachsicht und Racheverlangen. Die von der Kriminalität in uns ausgelöste Erregung (ver)leitet unsere Wahrnehmungsgabe, (ver)führt uns zu einseitigen Schlüssen, macht uns in Vorurteilen befangen. Unsere subjektiven Vorstellungen über Kriminalität sind stark durch unsere Lebensgeschichte und durch persönliche Erlebnisse in Rollen wie denen des Opfers, des mitfühlenden Angehörigen, des spitzbübisch über ein gelungenes Ganovenstück sich freuenden Zeitungslesers geprägt. Die subjektive [26]Wahrnehmung und Einstellung zur Kriminalität ist kontextabhängig. Dieser Kontext ist anderen kaum je vollständig vermittelbar, ist vielfach uns selbst gar nicht bewusst. Eigene Wahrnehmung vermischt sich in der Erinnerung mit Berichten vom Hörensagen. Unmittelbare Erfahrungen werden überlagert durch vielerlei Aufarbeitungen des Themas in Presse und Literatur, auf die wir je nach Geschmack zurückgreifen und die unser Vorstellungsbild unterschiedlich prägen. All dies erschwert einen möglichst vorurteilslosen, allgemein nachvollziehbaren Zugang zum Thema.53
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Das wusste man schon in der Zeit der Aufklärung, als das Programm einer Wissenschaft vom Verbrechen erstmals verkündet wurde (→ § 4 Rn 2). In der Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ zeigt Friedrich Schiller (1759-1805), wie die Unterdrückung des Individuums durch Gesellschaft und Justiz dieses zum Verbrecher werden lässt. Er plädiert für eine unemotionale, wissenschaftliche Analyse des Verbrechens. Anstatt das Herz des Lesers durch hinreißenden Vortrag zu bestechen und damit die republikanische Freiheit des lesenden Publikums zu beleidigen, müsse die Kriminalität mit nüchterner Sachlichkeit beschrieben werden. Die wissenschaftliche Befassung mit der Kriminalität ist für Schiller eine umfassende Menschheitswissenschaft, die über menschliches Verhalten und seine gesellschaftlichen Bedingungen am besonders aufschlussreichen Extrembeispiel der Kriminalität generelle Aussagen trifft. Dem gemäß beginnt die Erzählung in der ersten Fassung wie folgt:
„Die Heilkunst und Diätetik, wenn die Ärzte aufrichtig sein wollen, haben ihre besten Entdeckungen und heilsamsten Vorschriften vor Kranken- und Sterbebetten gemacht. Leichenöffnungen, Hospitäler und Narrenhäuser haben das helleste Licht in der Physiologie angezündet. Die Seelenlehre, die Moral, die gesetzgebende Gewalt sollten billig diesem Beispiel folgen und ähnlicherweise aus Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten – den Sektions-berichten des Lasters – sich Belehrungen holen.“54
In der endgültigen Fassung heißt es nicht minder prägnant:
„In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.“55
4 Ausdruck eines solchen über ihre unmittelbaren Studienobjekte hinausweisenden Verständnisses der Kriminologie als umfassende Menschheits- und Gesellschaftswissenschaft ist die Ablösung der Bezeichnungen „Krimineller“ und „Kriminalität“ durch den Begriff des „abweichenden“ oder „devianten“ Verhaltens. Damit soll von [27] einer einseitig negativen, stigmatisierenden Wertung Abstand genommen und ein unbefangener, sich moralischer Parteinahme enthaltender Zugang erleichtert werden. Zugleich werden damit Verbindungslinien gezeichnet zu anderen, nicht strafbaren sozialen Auffälligkeiten. Mag es sich auch um eine zunächst gekünstelt wirkende Beschreibung handeln – das Verständnis der Kriminalität als sozial abweichendes Verhalten, dessen Eigenart allein in der Abweichung von gesellschaftlich herrschenden Normen besteht, ist eine tragfähigere Basis für eine Wissenschaft, die sich dem Anspruch eines möglichst vorurteilsfreien Studiums stellt.
5 In der Regel wird die gebotene wissenschaftliche Unbefangenheit sehr radikal dahin verstanden, die Wissenschaft müsse strikt „wertfrei“ und „objektiv“ vorgehen. Gefordert ist eine Trennung der emotional befrachteten lebenspraktischen Wahrnehmung von der wissenschaftlichen Untersuchung. Letztere müsse von den Trübungen dieser Wahrnehmung gereinigt, rein „wertneutral“, also gleichsam auf einer kognitiven tabula rasa erfolgen. In den Naturwissenschaften erscheint diese Auffassung noch einigermaßen plausibel, obwohl auch die modernen Naturwissenschaften ihren fragwürdigen Rigorismus nicht mehr teilen56: Der Chemiker, der eine unbekannte Reagenz auf ihre Bestandteile analysiert, mag dabei von Neugier, Wissensdurst und Streben nach Reputation geplagt sein. Solange er die Regeln der experimentellen Forschung einhält, wird er ungeachtet seines möglichen Interesses an spektakulären Ergebnissen einigermaßen „wertneutral“ zu „objektiven“ Erkenntnissen gelangen.
6 Dies gilt für die Kriminalität so nicht. Sie ist nie reines Objekt, das unabhängig vom erkennenden Subjekt existierte und – nur deshalb und nur dann – in theoretischer Distanz streng „wertneutral“ analysiert werden könnte. Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Gegenstand, an dem Forschende als gesellschaftliche Subjekte immer schon je spezifisch Anteil haben, und den sie aus ihrer je besonderen persönlichen Perspektive wahrnehmen. Eine völlige Befreiung von dieser Perspektive, die den Forscher gleichsam auf einen fremden Stern versetzen und ihm dadurch den objektiven Blick auf die Gesellschaft verschaffen würde, ist weder möglich noch zur Erlangung der gebotenen Unbefangenheit nötig. Strenge „Objektivität“ bedeutet die Illusion der Möglichkeit eines Blicks von Nirgendwo.57 Stattdessen geht es darum, angesichts der zwangsläufigen Eingebundenheit des Forschenden in eine spezifische Lebenspraxis, welche auch spezifische Vorstellungen über Kriminalität vermittelt, Unbefangenheit herzustellen: Es gilt, sich bei wissenschaftlichen Aussagen über Kriminalität die Subjektivität seiner lebenspraktischen Einstellung zu dem Thema reflexiv bewusst zu machen, sich so gut wie möglich davon im Erkenntnisvorgang zu distanzieren, sich für Deutungsmöglichkeiten zu öffnen, die von dem eigenen Vorstellungsbild abweichen, und quer zu antrainierten Mustern zu denken.
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Gefordert ist etwa eine verantwortliche Haltung, die das eigene Forschungsprojekt, seine leitenden Annahmen und die methodischen Aussagemöglichkeiten skrupulös transparent macht. Zudem ist das Beurteilungsfeld über die individuelle Lebenswelt und die eigene Erfahrung hinaus zu erweitern, indem andere Wahrnehmungen aufgenommen und andere Verständnisse aufgegriffen werden. Ferner ist das der eigenen Lebenswelt entstammende Verständnis menschlicher Intentionalität zu ergänzen durch ein „systemisches“ Verständnis der Sozialwelt in ihren Vernetzungen und Interaktionen. Vor allem aber ist eine bewusste Distanzierung von vertrauten Perspektiven gefordert.
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Kriminologen gewinnen in dem Maße wissenschaftliche Unbefangenheit, wie es ihnen gelingt, die Selbstevidenz vertrauter Kriminalitätswahrnehmungen zu meiden, sich von routinemäßigen Denkhaltungen zu befreien und am gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität gleichsam wie irritierende Fremde teilzunehmen, welche Fragen stellen, auf die andere nicht kommen. So lässt sich die Wissenschaftlichkeit der Kriminologie in ähnlicher Weise bestimmen, wie Zygmunt Bauman (*1925) dies für die Soziologie tut. Damit distanziert sich dieses Verständnis wissenschaftlicher Unbefangenheit deutlich von dem Postulat des „wertfreien“ Erkennens.
„To think sociologically can render us more sensitive […]. It can sharpen our senses and open our eyes to new horizons beyond our immediate experiences in order that we can explore human conditions which, hitherto, have remained relatively invisible […] Sociological thinking, as an anti-fixating power, is therefore a power in its own right. It renders flexible what may have been the oppressive fixity of social relations and in so doing opens up a world of possibilities. The art of sociological thinking is to widen the scope and the practical effectiveness of freedom. When more of it has been learnt, the individual may well become just a little less subject to manipulating and more resilient to oppression and control. They are also likely to be more effective as social actors, for they can see the connections vetween their actions and social conditions and how those things which, by their fixity claim to be irresistible to change, are open to transformation.“58
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Der in den Sozialwissenschaften unhaltbare Rigorismus eines „wertfreien“ Erkennens vermittelt allerdings den trügenden Eindruck, die Sozialwelt sei als eine Fülle vermeintlich naturalistisch beobachtbarer „Befunde“, „Daten“ oder „Tatsachen“ vorgegeben. Diesem Eindruck entspricht die Vorstellung, die erhobenen Beobachtungen ergänzten einander und würden, Mosaiksteinchen ähnlich, sich à la longue zu dem linearen Gesamtbild eines gesicherten Wissensbestandes zusammenfügen.
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Diese Vorstellung eines schrittweisen Erkenntnisfortschritts durch quantitatives Wissenswachstum wäre nur in dem Maße zutreffend, wie homogene Erkenntnisraster verwandt und Beurteilungen getroffen würden, über die in der Forschergemeinschaft Konsens bestehen. Indessen ist – abgesehen davon, dass schon im Allgemeinen das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teile – jede Erhebung von Daten theoriegeleitet. Die jeweils gewählten methodischen Instrumente bestimmen die Untersuchungsanordnung, die sich notwendig auf die Prüfung bestimmter Aspekte des zu untersuchenden Phänomens beschränkt. Jede empirisch gestützte Aussage über Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen enthält implizit eine aus den Beobachtungen nicht mehr ableitbare Behauptung darüber, dass die Aussage einstweilen durch Erfahrung hinreichend gestützt und als gültig anzusehen sei. Die theoriegeleitete Wahl des Untersuchungsfeldes und die Entscheidung, gewonnene Ergebnisse als vorläufig verbindlich zu akzeptieren, verlangen wertende Entschlüsse, die nicht erfahrungswissenschaftlich begründbar sind, sondern nur in dem Masse Gültigkeit beanspruchen, wie sie diskursiv begründet, argumentativ belastbar und von der Gemeinschaft der Forschenden akzeptiert sind. Ein solcher Konsens besteht allenfalls innerhalb einer der verschiedenen Strömungen der kriminologischen Forschergemeinschaft.
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Die Vorstellung eines einheitlichen, sich zu einem geschlossenen zweidimensionalen Gesamtbild formenden kriminologischen Datenbestandes wird nicht zuletzt durch die dissonante Entwicklungsgeschichte des Fachs im Zielkonflikt zwischen akademischem Anspruch und Wissenszulieferung für den institutionellen Umgang mit Kriminalität widerlegt. Der Mangel an einer konsistenten „Disziplinarität“ und das Fehlen einer selbstbewusst in sich ruhenden Geschlossenheit zeigen sich in hitzigen Richtungsstreitigkeiten und der Anfälligkeit für die Übernahme intellektueller Modetrends.59 Das Verständnis eines einheitlichen kriminologischen Wissensbestandes ist nicht wissenschaftlich begründet, sondern entspringt dem Streben nach Reputation bei den Agenten der Kriminalpolitik. Nur als Produktionsstätte eines bedarfsgerecht einheitlich zu präsentierenden „Erfahrungswissens“ (→ § 1 Rn 10) kann die Kriminologie die Rolle als neutraler Lieferant wertfreier Informationen zur Vorbereitung von Entscheiden der praktischen Kriminalpolitik spielen. Der von der kriminologischen Bedarfsforschung erweckte falsche Anschein der strikt wertneutralen Politikberatung verbirgt nach Foucault eine „geschwätzige und aufdringliche“ Anbiederung an die offizielle staatlich dominierte Kriminalpolitik:
„Haben Sie schon Texte von Kriminologen gelesen? Da haut es Sie um. Ich sage das nicht aggressiv, sondern erstaunt, weil ich nicht verstehen kann, wie dieser Diskurs der Kriminologen auf diesem Niveau bleiben konnte. Er scheint für das System so nützlich und notwendig [30] zu sein, dass er auf theoretische Rechtfertigung oder methodische Konsistenz verzichten zu können glaubt. Er ist einfach ein Gebrauchsartikel.“60
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Im Bemühen um eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis wurde um die Jahrhundertwende von Anhängern des sogenannten Logischen Empirismus die Auffassung vertreten, werturteilsbehaftete moralische Aussagen seien schlechthin unzulässig. Diese Auffassung kommt im Frühwerk von Wittgenstein, der sich von seinen eigenen grundlegenden Annahmen später weitgehend distanziert hat, in nicht zu überbietender Prägnanz zum Ausdruck:
„Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“61
13 Diese rigoros metaphysikfeindliche These wurde im Kritischen Rationalismus von Karl Popper (1902-1994) abgeschwächt. Aus der Einsicht, dass der Forscher als Mensch zu einem gesellschaftlichen Forschungsgegenstand ein je spezifisches Verhältnis hat, das auch sein Forschungsverhalten bestimmt, wurde abgeleitet, werturteilsbehaftete Aussagen seien dem Forscher wie jedermann sonst im politisch-moralischen Diskurs unbenommen, im Forschungsprozess habe er sich ihrer aber zu enthalten. Das Problem, wie dies möglich sei, sucht Popper mit der Analogie zum Kaffeetrinken zu lösen: Die notwendig auf eine subjektive Stellungnahme hinauslaufende Anteilnahme des Forschers an seinem gesellschaftlichen Forschungsgegenstand entfalte eine bloß anregende Wirkung wie der Kaffee, den der Chemiker vor Erstellen des Experiments genieße. Sofern nur die Forschung selbst nach dem Modell eines naturwissenschaftlichen Experiments durchgeführt werde, seien deren Befunde objektiv gültig. Erst die Tilgung, oder besser: die Verleugnung der subjektiven Komponente macht die erfahrungswissenschaftliche Versuchsanordnung möglich:
„Jeder empirisch-wissenschaftliche Satz (muss) durch Angabe der Versuchsanordnung u. dgl. in einer Form vorgelegt werden, dass jeder, der die Technik des betreffenden Gebiets beherrscht, imstande ist, ihn nachzuprüfen.“62
14 Nach dem von Poppers Kritischem Rationalismus geprägten Wissenschaftsverständnis der objektivierenden empirischen Forschung muss man sich als Kriminologe von seiner persönlich-moralischen Werthaltung zur Kriminalität dispensieren, muss sich auf die Aufstellung solcher Behauptungen („Hypothesen“) beschränken, die experimentell überprüfbar sind, d.h. an Erfahrungen scheitern können.
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Die Wahl eines bestimmten Wirklichkeitsausschnitts der Kriminalität – etwa Kriminalität als mögliches Ergebnis einer bestimmten biologischen Veranlagung oder einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur – ist im Kritischen Rationalismus Teil des unverbindlichen Entstehungszusammenhanges, in dem der Forscher nach seinen persönlichen Neigungen ein ihm anregend erscheinendes Thema wählt. Die Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens ergibt sich hingegen allein aus dem Begründungs- oder Rechtfertigungszusammenhang, in welchem die Beobachtungen und Schlussfolgerungen ohne subjektive Beimengung rein objektiv empirisch getestet und systematisch geprüft werden.
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Aber wie sollen ausgerechnet Kriminalität und Bestrafungsvorgänge, die doch eminente Leiden schaffen und heftiges Mitfühlen auslösen, völlig leidenschaftslos studiert werden können?
„Schon die heute häufig zu hörende Forderung, man solle das Verbrechen emotionslos betrachten, ist unpolitischer Irrealismus.“63
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Die kriminologischen Untersuchungsgegenstände sind jedenfalls keine rein wertneutral zugänglichen Präparate unter dem Mikroskop des Forschers, sondern Produkte menschlicher Handlung und Deutung, die der Forscher interpretativ erschließt und auf die er mit seiner Forschung verändernd einwirkt. Bereits die Wahrnehmung als erster Filter der empirischen Beschäftigung mit sinnlich erfassbaren Aspekten von Kriminalität ist vom Menschen als einem empathisch empfindenden Sozialwesen geprägt. Davor vermag auch das Bemühen um scheinbar „objektivierende“, menschliches Verhalten quasi naturwissenschaftlich erschließende Zugangswege nicht zu schützen. Zudem fließen bei der Wahl eines dem Forscher unter den Nägeln brennenden Themas interindividuell unterschiedliche Empfindungen und Assoziationen zum Kriminalitätsthema, das zwangsläufig mit spezifischen Emotionen verbunden ist, unvermeidlich mit ein (→ § 2 Rn 11).
„Der Unterschied zwischen Gesellschaft und Natur besteht darin, dass Natur nicht vom Menschen gemacht ist, nicht durch den Menschen erzeugt wurde. […] Die Gesellschaft […] ist nicht von einer einzelnen Person geschaffen worden, sie wird vielmehr (wenn auch nicht ex nihilo) durch die Teilnehmer eines jeden gesellschaftlichen Kontakts geschaffen und aufrechterhalten. Die Produktion der Gesellschaft ist eine auf Fertigkeiten beruhende, vom Menschen getragene und ‚geschehen gemachte’ Leistung. Sie ist nur möglich, weil jedes (kompetente) Gesellschaftsmitglied ein praktischer Gesellschaftstheoretiker ist; bei jeder Art von Kontakt, den es unterhält, greift es normalerweise ungezwungen und routinemäßig auf sein Wissen und seine Theorien zurück, und der Gebrauch dieser praktischen Ressourcen ist genau die Bedingung für die Herstellung gesellschaftlicher Kontakte überhaupt. [32]Solche Ressourcen … sind als solche vom theoretischen Standpunkt der Sozialwissenschaftler nicht zu verbessern, sondern werden von diesen im Laufe jeder Untersuchung, die sie durchführen, selbst in Anspruch genommen. D. h., die Beherrschung der Ressourcen, die Gesellschaftsmitglieder zur sozialen Interaktion befähigt, ist ebenso eine Voraussetzung für das Verstehen dieses Verhaltens durch den Sozialwissenschaftler wie sie es für jene Mitglieder selbst ist.“64
18 Die quantifizierende empirische Erfassung und Erklärung von „Sozialdaten“ bildet die soziale Welt nicht ab, sondern simuliert diese in einem Artefakt, dessen Struktur durch die empirische Recherchetechnik vorgegeben ist. Der dem naturwissenschaftlichen Experiment nachgebildete empirische Erfahrungstest reproduziert durch Verwendung von standardisierten Fragebögen und statistischen Auswertungsverfahren Individuen und ihr Handeln so, als ob es sich dabei um mikroskopische Präparate handelte, deren Merkmale objektiv messbar seien. Ausgeblendet bleiben dabei die nur verstehend erschließbaren Intentionen der Akteure kriminalisierter und kriminalisierender Handlungen, die intersubjektiven Wirkungszusammenhänge, die mitmenschlich nachfühlbare Leidensgeschichte von Opfern und Bestraften, kurz: die spezifisch menschliche Subjektivität von Kriminalität und Kriminalisierung. Die Umformung dieser Subjektivität in empirisch erfassbare Eigenschaften von Subjekten muss deren Handlungen als durch solche Eigenschaften im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeit determiniert verstehen. Das Subjekt wird zum „Merkmalsträger“ und somit austauschbar gemacht, wobei die Summe der Merkmale das Verhalten der Subjekte zureichend und erschöpfend erklärt.65 Auch dies hat bereits Wittgenstein erkannt, indem er als Konsequenz der empirisch erklärenden Erkenntnishaltung festhält:
„Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht.“66
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Objektivierende quasi naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen in der Kriminologie tragen dazu bei, den „Kriminellen“ als autonome Person zu vernichten.
„Par la connaissance scientifique, la société prend d’elle même une conscience réflexive: elle se voit, elle se décrit, elle voit dans le voleur un de ses innombrables produits; elle l’explique par des facteurs généraux. Quand elle a fini son travail, il ne reste plus rien de lui.“ 67
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Aus diesem Befund lassen sich mehrere Konsequenzen ziehen. Erstens besteht Bedarf für eine alternative verstehende kriminologische Erkenntnismethode, die
■ die Unvoreingenommenheit des Erkennens anders als durch das uneinlösbare Postulat strikter Wertfreiheit erstrebt;
■ die zu beobachtenden Subjekte als intentional handelnde Akteure und nicht als in ihrem Verhalten determinierte Objekte versteht;
■ die sich auf die Komplexität der zu erschließenden Wirklichkeit einlässt, anstatt die Wirklichkeit auf die mit standardisierten Erhebungsverfahren sichtbar zu machenden Merkmale zu reduzieren.
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Zweitens sind neben der dem Verstehensmodell folgenden qualitativen Forschung andere Zugangswege zu den Phänomenen von Kriminalität und Kriminalisierung von Interesse: Etwa die Strafrechtsgeschichte, die bildhaft und hautnah Kontrast- und Analogieerlebnisse zur aktuellen Situation zu vermitteln weiß.68 Die Romanliteratur, welche die menschlichen Aspekte von Kriminalität und Strafverfolgung veranschaulicht69 und uns in die Abgründe der Psyche von Tätern, Opfern und Verfolgern blicken lässt70. Die Poesie von Baudelaire, welche die „Blumen des Bösen“ zum Erblühen bringt.71 Die Gerichtsreportagen von Sling, dem Klassiker des Genres.72 Die Briefe aus dem Gefängnis von Vaclav Havel und Antonio Gramsci.73 Filme wie Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ und Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“. Oder nicht zuletzt ganz unvermittelt das Gespräch mit Inhaftierten, Opfern und deren hinterbliebenen Angehörigen.
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Angesichts der eminenten gesellschaftlichen Bedeutung des sich auf Kriminalität richtenden Erkenntnisinteresses (→ § 1 Rn 5) bleiben indessen Zweifel, ob die objektivierende quantitative Kriminologie restlos durch interpretativ verstehende Forschung ersetzbar ist. Der Anspruch wertfreier Erkenntnis ist Ausdruck der die Aufklärung und die Moderne beherrschenden Vorstellung von vernunftgemäßer Wissensproduktion zur Gestaltung der Gesellschaft. Von der Vorstellung scheinbar makellos wertfrei gewonnener Befunde geht eine Faszination aus, der die praktische Kriminalpolitik bereitwillig erliegt. Die Magie scheinbar eindeutiger „Fakten“ verleiht dem kriminalpolitischen Argument, das sich darauf bezieht, etwas vermeintlich Objektives und Definitives. Eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, die im kriminalpolitischen Diskurs ähnliches Gewicht hätte, ist nicht vorhanden. Nüchtern betrachtet muss man sich deshalb wohl damit abfinden, dass die objektivierende [34] quantitative Kriminologie wegen ihrer Funktionalität für Verwertungsbedürfnisse der praktischen Kriminalpolitik dominant ist. Die sich interpretativ verstehende Forschung gewinnt gleichwohl gerade bei einem kritischen, für unkonventionelle Perspektiven aufgeschlossenen Publikum immer stärkere Bedeutung.
49 Kaiser 1997, 1.
50 Kaiser 1997, 9.
51 Killias 2007, 315, 329.
52 Sack 2003, 76.
53 Sack 1996, 297 ff.
54 Schiller o. J., 192.
55 Schiller o. J., 243.
56 Feyerabend 1986.
57 Nagel 1986.
58 Bauman/May 2001, 11.
59 Kaum sind etwa in der Hirnforschung bildgebende Verfahren entwickelt, wird über die Kriminogenese im „Tatort Gehirn“ spekuliert (→ § 7 Rn 23 f.).
60 Foucault 1976b, 41.
61 Wittgenstein 1969, Vorwort, vgl. auch Thesen 1, 1.1, 4.023, 7.
62 Popper 1971, 257.
63 Naucke 2002, 41.
64 Giddens 1984, 16 f.
65 Kunz 1990, 92.
66 Wittgenstein 1969, These 5.631.
67 Sartre 1952, 545: „Durch ihre wissenschaftliche Wahrnehmung gewinnt die Gesellschaft von selbst ein reflexives Bewusstsein: sie beobachtet sich, sie beschreibt sich, sie erkennt im Dieb eines ihrer unzähligen Werke; sie erklärt sich durch generelle Umstände. Wenn sie ihre Arbeit beendet hat, bleibt von ihm nichts mehr übrig.“ Diese brillante Analyse aus dem Standpunkt eines „Zuchthäuslers“ war ursprünglich als Einführung zu den gesammelten Werken des wegen Raubes und Päderastie mehrfach inhaftierten Dichters Jean Genet gedacht.
68 Vgl. den Bildband Schild 1985.
69 Dazu Ruggiero 2003.
70 Dostojewskij 1994; Genet 1982.
71 Baudelaire 1979.
72 Sling (alias Paul Schlesinger) 1929.
73 Havel 1984; Gramsci 1988.