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Kitabı oku: «Am Jenseits», sayfa 27

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Meine Erzählung fand einen Zuhörerkreis, der so bei der Sache war, daß ich sie sehr oft unterbrechen mußte, um den vielfältigen Ausrufungen des Beifalles, des Staunens, des Zornes und des Abscheues Raum zu lassen. Die Empörung gegen die Mörder wuchs immer mehr, und als ich geendet hatte, waren die braven Haddedihn kaum vor sofortigen Gewalttätigkeiten zurückzuhalten.

Während die Stimmen der aufgeregten Leute wirr durcheinander klangen und die Interjektionen hin und her flogen, wobei niemand auf die Umgebung achtete, geschah etwas, was so unerwartet und so außerordentlich war, daß ich es noch heut, nach Jahren, so deutlich vor mir sehe, als ob es erst vor einigen Minuten geschehen wäre. Das Stimmengewirr wurde nämlich von einem lauten, ja überlauten, schrillen Schrei unterbrochen. Hanneh hatte ihn ausgestoßen. Sie saß mit blutleeren Wangen und weit aufgerissenen Augen da und deutete mit der Hand nach der Gegend, nach welcher auch ihr vor Schreck starrer Blick gerichtet war. Wir sahen hin. Es erklangen mehrere Schreie, nicht Hannehs, sondern der Haddedihn; dann aber trat die tiefste, allertiefste Stille ein.

Das, was wir sahen, wäre uns vorher so undenkbar gewesen, daß unser jetziges Erstaunen, welches nahe an Schreck grenzte, allerdings keiner Erklärung bedurfte. Khutub Agha nämlich, der Totgeglaubte, lag nicht mehr an seiner Stelle; er war aufgestanden und kam mit sehr langsamen, taumelnden Schritten auf uns zu! Wir mußten uns ja wohl sagen, daß dies auf ganz natürliche Weise zugehe, daß sein Tod eine Täuschung gewesen sei, und doch gab es wohl wenige unter uns, die sich nicht einer Art von Grauen zu erwehren hatten! Wir dachten gar nicht daran, aufzustehen; wir blieben alle, alle sitzen, so groß war der Einfluß, den das Wiederaufleben des Erschossenen auf unsere Bewegungsnerven ausübte.

Mit blutleerem Gesichte, aber bluttriefendem Gewande kam er uns Schritt um Schritt näher, zuweilen den Kopf hebend, den Mund öffnend und mit der Hand nach dem Herzen greifend, als ob ihm das Atmen schwer werde. Dabei wankte er bei jedem Schritte wie ein Kind, welches noch nicht die Fertigkeit des Gehens besitzt. Da sprang ich denn doch auf, um ihn zu unterstützen. Er aber hob die Hand, winkte mir ab und sagte:

»Bleib – – – ! Ich – – – ! Ich will – – – neben – – – neben – – —dir sitzen!«

Das klang so dumpf, so hohl und doch so mit Gewalt herausgepreßt! Ich blieb stehen, bis er da war, bis er bei mir stand und sich bückte, um sich niederzusetzen. Er verlor dabei das Gleichgewicht und wäre vornüber gestürzt, wenn ich ihn nicht gehalten hätte. Dann kam er mit meiner Hilfe zum Sitzen, und ich setzte mich an seine Seite. Niemand hatte ein Wort gesagt, und auch jetzt schwiegen alle. Ich hatte eine ganze Menge von Worten und Fragen auf der Zunge, behielt sie aber zurück, denn ich sah ihm an, daß er nicht wünschte, jetzt angeredet zu werden. Woran ich das merkte, das weiß ich nicht mehr oder hätte es vielleicht auch schon damals nicht sagen können. Er hatte, auch ganz abgesehen von seiner blutigen Kleidung, etwas Fremdes, Geisterhaftes an sich, was keine Neugierde aufkommen ließ, sondern zum Schweigen mahnte. Wenn er sprach, bewegte er bloß die Lippen; das Mienenspiel schien erstarrt zu sein. Auch seine Augen waren nicht dieselben wie vorher; sie hatten das Aussehen, als ob ihr Blick vor Angst, vor Entsetzen gestorben sei.

Ich suchte die Stelle, wo die Kugel eingedrungen war. Das Loch befand sich genau in der Gegend des Herzens. Da mußte er doch tot sein! Und doch war zwar die Kleidung blutig, aber es schien kein Tropfen mehr zu fließen! Jetzt wendete er mir das Gesicht zu und sagte mit tonloser Stimme:

»Effendi, ich war dort!«

»Wo?« fragte ich, indem ich eine Art von Grauen fühlte.

»Dort!«

Er senkte den Kopf, hob ihn nach einer Weile wieder und fügte hinzu: »Wo der Münedschi mit Ben Nur war!«

»In der Phantasie?«

»Nein, wirklich!« »Das kann doch nicht sein!«

»Es ist so, Effendi! Ich bin soeben erst von dort zurückgekommen! Da wachte ich auf und sah mich im Blute liegen. Es fiel mir ein, daß ich erschossen worden bin, und fragte mich, ob ich gestorben oder lebend sei. Ich dachte nach, und da kam ich zu der Überzeugung, daß ich nicht mehr tot sei, denn ich bin ja nur wieder ich allein und nicht mehr ich und mein Leib.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Vielleicht lernst du mich erst dann verstehen, wenn du gestorben bist. Ich weiß nicht, wie ich es deutlich machen soll. Mein Sterben war folgendermaßen —«

Er legte wieder beide Hände auf das Herz, holte tief und schmerzlich seufzend Atem und fuhr dann in der Weise fort, wie er auch bis zu Ende sprach, nämlich als ob ein schwerer Druck auf ihm, auf seinem ganzen Innern und auch auf seiner Stimme liege:

»Ich sah dich mit den Beni Khalid ringen; ich sah, daß der Ghani seine Pistole auf mich richtete und schoß; ich hörte den Schuß und fühlte die Kugel in mein Herz dringen. Doch schnell war dieser Schmerz vorüber, denn nur der Körper fühlt diese Art von Schmerz; ich aber war nicht mehr in ihm, sondern ich stand als Seele bei ihm. Ich sah ihn liegen; ich sah euch alle, dieses Tal, die beiden Höhen, den Himmel darüber, die Mekkaner, die Beni Khalid, ihre Kamele, dein Kamel und auch dich selbst, der seine Füße befreit hatte und den sie nun wieder banden.«

»Das, das hast du gesehen?« fragte ich betroffen.

»Ja.«

Was sollte ich da denken? Der Schuß, der ihn niederwarf, war ja schon längst gefallen, als ich wieder gefesselt wurde. Wie also konnte er davon wissen? Totgestellt hatte er sich doch jedenfalls nicht! Man denke, mit der Kugel im Herzen! Und nur erraten konnte er es auch nicht, denn ich war ja nicht mehr gebunden. Überhaupt war es mir, wenn ich ihn so neben mir sitzen sah und in dieser Weise sprechen hörte, ganz und gar unmöglich, anzunehmen, daß er uns auch nur mit dem geringsten Worte täuschen wolle.

»Ja«, fuhr er fort, »ich stand mitten unter euch und sah meinen Körper, meine Leiche liegen. Ich war also Seele, als Mensch gestorben, als Seele aber weiterlebend.

»Konntest du diese deine Seele, also dich selbst, sehen?«

»Ja, denn ich besaß alle meine Sinne noch, und mein Seelenkörper glich ganz genau dem irdischen, ganz genau, bis auf das einzelne Haar meines Bartes und den Nagel meines kleinen Fingers. Vor dem Tode fürchtete ich mich nicht vor ihm; ich war voller Mut und bot der Waffe des Ghani ruhig meine Brust, Kaum aber war mein Körper tot, so erfüllte mich der Gedanke, gestorben zu sein, mit Entsetzen. Ich dachte an die Mauer mit den vielen Todespforten – – – Allah w‘Allah, kaum hatte ich an sie gedacht, so war ich schon dort! Während der Mensch auf Erden nur langsam zur Einsicht kommt, gelangte ich, da ich nun Seele war, nicht nach und nach, sondern sofort zu der Erkenntnis, zu der Überzeugung, daß Gedanke und Tat, Wunsch und Wirklichkeit in jenem Leben nur eins, nicht zweierlei ist. Kaum dachte ich an Es Setschme, den Ort der Sichtung hinter jener Mauer, so war ich auch schon da. Und als mir El Mizan, die Waage der Gerechtigkeit, einfiel, stand ich auch schon vor derselben. Was Ben Nur dem Münedschi zeigte, muß ein Gesicht, eine Übertragung gewesen sein, denn in Wirklichkeit vollzieht sich alles viel, viel schneller, ja mit Gedankenschnelligkeit! Nur die Zeit vor der Waage dünkte mir eine Ewigkeit, eine ganze, ganze Ewigkeit zu sein. Mich schauert noch in diesem Augenblick vor ihr!«

Er schüttelte sich, und das war nicht bloß ein Schütteln des Körpers, sondern nach innen hinein, wobei die Blässe seines Gesichtes ganz erschrecklich wurde. Was sollte ich von ihm und von dem, was er sagte, denken? War er nur betäubt gewesen, wie ich nach meinem Sturze von der Höhe? Ich hatte da das Gefühl eines unaufhörlichen Fallens gehabt. Hatte da vielleicht ein ähnliches Gefühl in ihm die jenseitigen Orte vorgegaukelt, deren Namen ihm seit unserer Szene mit Ben Nur im Gedächtnisse standen? Aber nur betäubt, das konnte ich mir gar nicht denken. Es war kein Zweifel daran zu setzen, daß ihn die Kugel getroffen hatte, und zwar in das Herz. Ich selbst sah ja das Loch in seinem Gewande! Um mir Klarheit zu verschaffen, sprach ich jetzt die Bitte aus:

»Du hast viel geblutet und blutest wohl jetzt noch. Erlaube mir, daß ich vor allen Dingen einmal nach deiner Wunde sehe!«

»Warte jetzt noch!« antwortete er. »Das Bluten hat aufgehört. Ich habe keinen Schmerz. Was ich fühle, ist nichts als ein Druck, der mir das Atmen erschwert. Wahrscheinlich verblute ich mich, sobald die Wunde wieder berührt wird; aber doch ist mir auch gesagt worden, daß ich noch länger leben muß! Mag es nun das eine oder das andere sein, so will ich zunächst meine, Seele von der Last erleichtern, welche sich an der Waage der Gerechtigkeit mit zermalmender Schwere auf sie gelegt hat!«

Er bat um Wasser, trank, als es ihm gegeben wurde, einen Schluck und sprach dann weiter:

»Der Münedschi scheint eine wirkliche Waage gesehen zu haben. Vielleicht haben bei ihm an jenem Abende die seelisch gemeinten Gegenstände eine körperliche Gestalt angenommen. Ich habe keine wirkliche Waage, kein Werkzeug zum Wiegen gesehen, aber dennoch und dennoch war diese Waage da. Hast du, Effendi, schon einmal gehört, daß in der Todesstunde das ganze, ganze Leben des Sterbenden, sogar mit allem, was er längst vergessen hat, an ihm vorüberziehe?«

»Ja. Das hat man mir schon öfters behauptet.«

»Diese Behauptung ist wahr, ganz entsetzlich wahr! Als ich an die Waage der Gerechtigkeit dachte, stand ich sofort vor ihr. Ich wußte, daß sie es war, sah sie aber nicht. Ich wußte auch, daß viele, viele Seelen sich bei mir befanden, konnte sie aber weder sehen noch hören, denn meine Seele hatte nur mit sich selbst zu tun. Ihr Denken, Fühlen und Tun war mit ihr eins, war sie selbst. Außer ihr gab es nichts, als sie selbst und ihr vergangenes Leben. Und dieses Leben war doch auch wieder nur sie selbst. Es lag nicht außerhalb von ihr, nicht in der Vergangenheit, sondern sie war das Produkt und zugleich der Inbegriff alles dessen, was sie getan, gedacht und empfunden hatte, so wie zum Beispiel das Meer das Ergebnis und zugleich die Summe all der unzähligen Tropfen ist, welche hineingeflossen sind. Ebenso war meine Seele. Die Quellen, Rinnsale, Bäche, Flüßchen, Flüsse und Ströme, das waren die Stunden, Tage, Wochen und Jahre meines Lebens. Das Wasser in ihnen, das waren die der Prüfung entgegenfließenden, zahllosen Tropfen meiner Regungen, Entschlüsse und Ausführungen, und das große Meer selbst war meine Seele, in welcher jeder einzelne dieser Tropfen lebte und sich geltend machte. Es fehlte nichts, kein einziger von ihnen allen. So war ich selbst dieses Meer, diese Seele; ich selbst bestand aus allen diesen Tropfen, für welche es kein Maß und keine Ziffer gibt, und doch erkannte ich sie alle, alle, alle! Dieses Erkennen geschah nicht mit dem Auge, dem Ohre, dem Gefühle, nicht mit irgendeinem Sinne, denn ich stand ja nicht außerhalb mir selbst, und doch wußte ich alles, und doch begriff ich alles, denn ich war ja dieses alles selbst. Ich kann euch das nicht sagen, nicht beschreiben; der Ausdruck mangelt mir, und indem ich vergeblich darnach suche, stelle ich das jetzt Gesagte mit dem Früheren in Widerspruch. Diese Unklarheit gab es vor der Waage nicht, sondern es herrschte da eine Deutlichkeit, für welche der Ausdruck »zum Erschrecken« wenig, ja viel zu wenig sagt. Ich kannte jedes, aber auch jedes Wort, welches ich in meinem Leben gesprochen habe, mochte es nun nützlich, schädlich oder gleichgültig sein. Aber diese Bezeichnung »gleichgültig« ist eine irdische; vor der Waage der Gerechtigkeit gibt es nichts Gleichgültiges, denn nichts, keine Silbe, kein Laut kann ohne Wirkung bleiben, weil er in einem Zusammenhange steht, welcher unzerreißbar ist. Ich kannte auch jede noch so leise Regung meines Innern, und das war fürchterlich! Ich kannte alles, was ich getan hatte, denn nichts, gar nichts war vergessen, weil es überhaupt kein Vergessen gibt. Das, was wir Vergessen nennen, ist nur das einstweilige Verschwinden des einzelnen im Ganzen, in der Summe; aber dann, wenn dieses Ganze im Augenblicke der Prüfung durchsichtig, klar und offenbar wird, muß das Verschwundene im Zusammenhange wieder erscheinen. Gäbe es doch eine Sprache, die wir aber alle auch sprechen und verstehen müßten, in welcher ich euch das alles begreiflich machen könnte, was zwischen dem Schusse und meinem Erwachen in mir und mit mir vorgegangen ist! Es beginnt ja schon jetzt, sich in mir selbst zu verwischen! Darum eben soll vorher gar nichts geschehen, und darum sollst du, Effendi, nicht einmal nach meiner Wunde sehen, bis ich nicht, so gut ich kann, davon gesprochen habe! Ich will es euch direkt und ohne Aufschub von dem Orte der Sichtung‘ herüberbringen. Jeder Augenblick löscht mehr davon aus!«

Er hatte sehr langsam und in wiederholten Pausen gesprochen. Jetzt ruhte er sich länger aus. Wir waren still, denn jeder von uns hatte das Gefühl, daß laute Worte auf seinen Gedankengang störend wirken müßten. Als er sich erholt und gesammelt hatte, begann er wieder:

»Es ist mir unmöglich, euch das nun Folgende in der gewünschten, richtigen Weise zu sagen. Es gab keine sichtbare Waage, denn auch diese Waage war ich selbst. Der Gewogene, die Waage und der Wägende, das war in mir vereint. Ich stand vor Gericht und war zugleich der Ankläger und der Richter. Es wurde jeder, aber auch jeder meiner Gedanken in mir laut. Über einige wenige durfte ich mich freuen; die unendliche Zahl der andern aber machte mich erzittern! Es zeigte sich, daß jeder Ton, der über meine Zunge gegangen war, von ewiger Dauer sei. Der irdische Klang ist nur die Wirkung der Luftbewegung; ist sie vorüber, so ist er nicht mehr vorhanden. Aber der seelische Teil des Menschen, der in diesen Ton gekleidet wurde, um zu wirken, der ist unvergänglich und bleibt ihm angehörig für die Ewigkeit. Was alles hatte ich da gesprochen! Die entsetzliche Erkenntnis, daß auch nicht eine einzige Silbe vernichtet sei, hätte mich zum glühenden Wunsche der Selbstvernichtung bringen können, wenn es überhaupt Vernichtung gäbe! Gegen die brausende Sündflut all dieser wieder erklingenden Worte gibt es keine andere Hilfe als den sie übertönenden Schrei nach Gnade, Gnade, Gnade! Und so wachten auch alt meine Taten auf. Es war keine von ihnen verschwunden, denn auch sie waren Teile meines Lebens, also Teile meiner selbst. Ich bestand aus ihnen; sie bildeten mein seelisches Gerippe, meine Muskeln; jeder Tropfen meines Blutes war eine Tat oder eine Folgerung meiner Taten. Ich konnte also jede von ihnen, selbst die geringste, in mir nach ihrem Wert oder Unwert empfinden. Und da war ich denn so voller Aussatz und voller Schwären, daß ich, der ich doch berufen war, ein Ebenbild Gottes zu sein, in fürchterlichster Angst mir sagen mußte, daß es besser für mich gewesen wäre, gar nicht gelebt zu haben. So sprach die Waage. Sie mußte so sprechen, weil meine Seele, also ich selbst, zwar ein Dasein, aber kein Leben gelebt hatte. Das einzige Licht der Seele ist die Liebe; die einzige Nahrung der Seele ist die Liebe; die einzige Luft, welche sie zu atmen vermag, ist die Liebe. In Liebe soll sie sich kleiden, sich mit Liebe schmücken, und wenn sie in Liebe tätig gewesen ist, soll sie auch in Liebe ruhen. Mein Dasein aber hatte nur mir gegolten; ich war liebeleer gewesen und hatte also nicht gelebt. Und was ich als Leben bezeichnet hatte, das war eine Aufeinanderfolge von Gedanken, Worten und Taten gewesen, die mich jetzt hinab in den Abgrund des Verderbens ziehen mußten. Ich brach zusammen und stöhnte in meiner Angst und Not: O hätte ich Liebe gehabt, mehr Liebe, mehr Liebe! Könnte ich noch einmal zurück, wie wollte ich lieben und leben, wie wollte ich leben und lieben!‘ Und kaum hatte ich das gesagt, so wurde es licht um mich her; eine helle Gestalt stand neben mir; sie faßte mich an der Hand und gab mir den himmlischen Trost: Dein Gebet sei erhört, denn der letzte Tag deines Erdenlebens ist Liebe gewesen, Liebe selbst für den Feind! Lebe sie weiter, diese Liebe, damit, wenn du hier wieder erscheinst, die Waage dann anders spreche, als sie jetzt gesprochen hat!‘ Beseligt von dieser Barmherzigkeit, fragte ich ihn: Bist du vielleicht Ben Nur, der am letzten Tage meines Lebens bei uns war?‘ Er lächelte gütig und sprach: Hier gibt es nur Liebe, die namenlos ist, und darum für ihre Boten auch keine Namen. Wenn einer ihrer Strahlen sich einen Namen gab, so tat er das nur für euch. Nenne mich immerhin auch Ben Nur, denn ich bringe dir das Licht, um welches du hier flehtest!‘ Während er so sprach, wurden wir von einer mir unbekannten Kraft empor und über die Mauer der Trennung hinübergetragen. Ich befand mich also an seiner Hand wieder diesseits der Sterbestunde.«

Da er eine Pause machte, fragte ich ihn:

»Das war wohl nun der Augenblick, an welchem du erwachtest?«

»Nein. Ich kehrte noch nicht in meinen Körper zurück, sondern ich wurde mit ihm durch eine Unermeßlichkeit getragen, in weicher es keine Schranken gab. Ich sah die Welten, die Sonnen und die Sterne; aber ich sah sie anders, als ich sie von der Erde aus gesehen hatte, denn mein Auge war ja dasjenige meiner Seele, nicht das irdische, welchem die Herrlichkeit, durch die wir schwebten, verborgen ist. Wir befanden uns in einem Ozeane des Lichtes, welches so rein und so klar war, daß mein Blick die fernste aller Fernen schauen konnte. Ich sah, daß alle diese Welten bewohnt waren, so wie die Erde das Geschlecht der Menschen trägt. Das kam mir so leicht begreiflich, so ganz selbstverständlich vor, daß ich mich wunderte, früher darnach gefragt und gar daran gezweifelt zu haben. Ich sah, daß alle diese Kinder des Lichtes herrlich gestaltet waren und aber doch auch wieder keine Gestalt hatten, denn sie besaßen keine sich durch den Stoffwechsel immer erneuernde und dem Tode verfallende Form, sondern sie waren – – – sie selbst! Der Mensch aber ist, solange er seinen sich stetig verwandelnden Körper trägt, in keinem Augenblicke er selbst; er ist niemals wahr; diese aber waren es; sie wohnten in Wahrheit und Klarheit, ja, sie bestanden aus ihr! Warum und auf welche Weise ich das sah und auch so mühelos begriff, das kann ich nun nicht sagen, da ich wieder in den Leib zurückgekehrt bin; mein Unsterbliches ist wieder eingehüllt in ihn und darum der Klarheit beraubt, in weicher ich mich befand. Die Augen meiner Seele sind trübe geworden und mit ihnen die Gedanken; darum ist das Licht, welches ich euch mitbringen möchte, nun nichts als ein Nebelschein, den auch ich selbst nicht mehr durchdringen kann. Dort aber gab es eine wunderbare, ununterbrochene Helligkeit, die auch mich selbst durchdrang und mir ein Gefühl des Glückes, der Seligkeit verlieh, welches ich nicht beschreiben kann. Darum sprach die Engelsgestalt an meiner Seite: Ich halte dich an meiner Hand, und darum dringt die Wonne, weiche dich durchflutet, zu mir herüber. Was dich jetzt durchdringt, was dich umleuchtet, hält und trägt, es ist nicht Licht, es ist nicht Wärme, nicht Äther und nicht Luft, denn diese Bezeichnungen gehören nur der Erde an; es ist die Liebe! Ihr kennt einstweilen fast nicht mehr als nur das Wort, noch aber nicht sie selbst in ihrer ganzen Fülle und Unendlichkeit. Ihr sprecht von Liebe und sprecht auch vom Leben, doch beides ist dasselbe; nur eure Worte sind verschieden. Und weil sie das Leben ist, wird jede Lebensform und jede neu entstehende Weit aus ihr geboren. Hat diese Welt ihren Zweck erfüllt, die ihr anvertrauten Wesen zur Liebe zu erziehen, so übergibt sie sie der Seligkeit und löst sich auf, um für dieselbe Aufgabe dann wieder zu erstehen. Dies ist der Zweck auch eurer Erdenweit. Das Dasein auf ihr soll zum Leben, soll zur Liebe werden. Und dieses Ziel wird unbedingt erreicht, denn was ist euer Sträuben gegen die Allmacht dessen, der es will! Ob ihr es leugnet oder eingesteht, es ist doch wahr, daß ihr in Liebe atmet und in Liebe lebt. Die größte Selbstsucht ist mit allen Regungen, die ihr entspringen, doch nichts und nichts als Liebe, wenn auch nur Liebe zu dem eigenen Ich. Daß dieses Ich ohne die andern Ichs unmöglich wäre, das ist der große, unwiderstehlich zwingende Grund, der im Verlaufe dessen, was ihr als Zeit bezeichnet, die Liebe zu sich selbst zur Bruder und zur Menschenliebe macht. Dieser Mangel an Erkenntnis, dieses Sträuben des Ich gegen das Wir, umhüllt die Erde mit dem Dunkel, welches das auf ihr ruhende Auge der Seligen betrübt, obgleich wir wissen, daß es sich in Licht verwandeln wird und muß. Sobald wir diesem Dunkel nahen, scheide ich von dir, doch höre vorher meine Bitte: Laß es wenigstens in dir und auch um dich hell werden! Streu Liebe aus! Je mehr die Zahl der Menschen wächst, die dieses tun, desto mächtiger wirkt das Licht auch auf die andern, und desto eher erreicht das Geschlecht der Sterblichen das Ziel die Seligkeit!‘ Nachdem er das gesprochen hatte, war es, als vermindere sich die Helle um mich her; wir kamen durch ein immer mehr sich dämpfendes Licht; die unermeßliche Ferne, in weiche ich vorher zu schauen vermochte, trat mir immer näher und näher, und in demselben Maße ging mir auch die Gabe verloren, die Worte des Engels und alles, was ich gesehen hatte, ohne Mühe zu verstehn und zu begreifen. Das ist die Erdennähe!‘ lächelte er wehmütig. Du hast die Furchtbarkeit der Waage empfunden; vergiß sie nicht! Laß alle die wiedergeschenkten Tage so sein, wie dein letzter war, dem du die Rückkehr zu verdanken hast, weil er der Liebe zu dem Feind gewidmet war! Du wirst erfahren, daß es die Liebe war, die dich beschützte; sei ihr dankbar dadurch, daß du in ihr die einzige Regentin deines weiteren Lebens anerkennst!‘ Ich weiß nicht, sah ich ihn schwinden, oder war ich es, der sich von ihm entfernte. Es wurde dunkler, immer dunkler um mich her und auch in mir selbst; ich sah nichts mehr; ich hörte nichts mehr und fühlte einen drückenden Schmerz auf meinem Herzen. Dann, als ich angstvoll lauschte, hörte ich eure Stimmen und öffnete die Augen. Ich lag neben einer Blutlache und besann mich auf alles wieder, an was ich nicht mehr gedacht hatte. Ich versuchte aufzustehn, und es gelang mir trotz des Druckes auf meiner Brust, der mich nicht emporlassen wollte. Jetzt hat er sich vermindert; es ist mir wohler geworden. Und nun ich euch erzählt habe, was ich nicht aufschieben wollte, weil ich es zu vergessen befürchtete, bitte ich dich, Effendi, nach meiner Wunde zu sehen!«

Ich hatte ihm mit so gespannter Aufmerksamkeit zugehört, daß ich mich erst besinnen mußte, um seiner Aufforderung nachzukommen. Er mußte sich legen; dann knöpfte ich ihm die Nimtaneh (Jacke) und das Qämihs (Hemd) auf und – – – konnte mich eines lauten Ausrufes des Staunens nicht erwehren. Es gab keine Wunde; seine Brust war unverletzt. Ich sah nur eine dunkelgefärbte, unregelmäßig verlaufende Stelle, welche auf einen vorhanden gewesenen Druck schließen ließ. Welch ein Wunder! Es war gar nicht anders möglich, als daß sich auf der Brust ein Gegenstand befunden hatte, von weichem die Kugel aufgehalten worden war! Ich griff an die geöffnete Nimtaneh und fühlte in der Tasche einen viereckigen Gegenstand. Ich nahm ihn heraus.

»Was suchst du da?« fragte er verwundert. »Das ist mein Beschair el arba (Die vier Evangelien), welches stets in der Satteltasche steckte. Heute aber, als ich die Stelle von der Liebe zu den Feinden gelesen hatte, tat ich es in die Brusttasche der Nimtaneh. Warum ich das tat, das weiß ich nicht; es fiel mir grad so ein.«

»Aber ich weiß es! Dein Schutzengel war es, der dir diesen Gedanken eingegeben hat. Das Buch hat dir das Leben gerettet!«

»Wie? – Das Leben gerettet?«

»Ja; steh auf und betrachte es! Du brauchst nicht liegen zu bleiben, denn du bist gar nicht verwundet. Der Schmerz, den du auf der Brust fühlst, ist alles, was der Schuß dir hinterlassen hat.«

Das gab nun eine allgemeine Verwunderung und eine noch viel, viel größere Freude. Dschafar Mirza, dem das kleine Evangelienbuch von mir geschenkt worden war, hatte es in Metall binden und ein silbernes Lesezeichen dazu fertigen lassen. Es hatte verkehrt, ich meine mit der Anfangsseite nach innen, nach dem Körper zu, in der Tasche des Basch Nazyr gesteckt und war von dem Geschosse also auf die hintere Platte des Einbandes getroffen worden. Da diese Platte dünn war, hatte sie der Kugel nicht genug Widerstand geleistet; diese war hindurchgeschlagen und auch so weit durch die Blätter gegangen, bis das Lesezeichen sie aufgehalten hatte. Dort steckte sie noch jetzt, nicht breitgeschlagen, sondern ein wenig abgeplattet. Der Schuß hatte also keine große Kraft gehabt. Es war ja, wie sich dann herausstellte, eine Pistole alter Konstruktion, und wahrscheinlich hatte auch das Pulver nicht viel getaugt. So war der durch das Buch verminderte Prall nicht einmal stark genug gewesen, eine Rippe zu verletzen. Schmerzhaft freilich war die Quetschung; der Perser laborierte längere Zeit daran.

Das Buch ging natürlich aus einer Hand in die andere, denn jeder wollte es nicht nur sehen, sondern auch genau betrachten. Als dies geschehen war, ließ ich es mir wieder geben und sah nach der Seite, in welcher das Zeichen gesteckt hatte. Welch eine Fügung! Ja, eine Fügung war es, denn Zufall gibt es nicht für mich! Die Kugel war fast durch das ganze Buch gedrungen, denn das Lesezeichen hatte fast ganz vorn, nämlich in der Bergpredigt, im fünften Kapitel des Matthäus, gesteckt, wo durch den verbogenen Rand des Zeichens ein kleiner Einschnitt entstanden war, weicher die letzte im Buche sichtbare Wirkung des Schusses bildete. Und wo befand sich diese Stelle? Ich hielt sie dem Perser hin und bat ihn:

»Lies!«

»Warum?« fragte er.

»Das nachher! Jetzt aber lies!«

»Es ist dasselbe, was ich heute früh gelesen habe: Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters, der im Himmel ist, der seine Sonne aufgehen läßt über die Guten und die Bösen und läßt regnen über die Gerechten und die Ungerechten! Hierher habe ich das Zeichen gelegt.«

»Und was siehst du hier, grad neben diesen beiden Versen?«

»Ein kleines Loch, wahrscheinlich von dem verbogenen Zeichen!«

»Ja, aber für mich ist es noch mehr, und auch für dich soll und muß es noch mehr sein!«

»Was?«

»Du hast mir gesagt, dir sei heut früh der Gedanke gekommen, daß wir viel zu gütig gegen unsere Feinde gewesen seien; um dieser deiner Schwachheit Kraft zu verleihen. habest du hier diese Stelle aufgeschlagen und gelesen. Das ist doch so?«

»Ja, so ist es.«

»Nun, hier steht der Befehl: Liebet eure Feinde! Vorhin erzähltest du, der Engel wünsche, daß dein ganzes noch folgendes Leben so sei wie der letzte hier vergangene Tag. Und hat er nicht auch ausdrücklich gesagt, daß es die Liebe sei, welche dich beschützt habe?«

»Ja; das war eines seiner Abschiedsworte!«

»Nun, der Drang nach dem Gebote der Feindesliebe gab dir dieses Buch in die Hand. Aus Gehorsam für dieses Gebot schlugst du diese Stelle auf und legtest das Zeichen hinein. Grad bis hierher ist die Kugel gedrungen. Hier an dem Worte der Liebe hat sie ihre Macht verloren. Ist das ein Zufall?«

»Allah, Allah! Nein, gewiß nicht!«

»Ich denke das auch! Und jetzt fallen mir meine Worte ein, welche ich dir über das Evangelium sagte, kurz, ehe du erschossen werden solltest. Kannst du dich besinnen?«

»Nein.«

»Ich versicherte dir, daß Gott, welcher von dir die Liebe zu den Feinden fordere, auch die Macht habe, dich grad durch diese Liebe zu retten. Ich sagte, sein Evangelium sei ein starker Schutz und Schirm selbst in der größten Todesgefahr, und vielleicht stehe dir die Hilfe näher, als du denkest!«

»Ja, das ist sonderbar, Effendi!«

»Nicht nur sonderbar! Ich sprach von dem Schutze des Evangeliums, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß dieses Buch der vier Evangelien in deiner Brusttasche steckte! Und dazu kommt noch mehr. Besinne dich nur! Als du davon sprachst, daß du mich im Jenseits um Verzeihung bitten werdest, sagte ich dir, daß ich dir schon verziehen habe, und fügte hinzu, daß Gottes Hand dich noch im letzten Augenblicke retten und sogar die Kugeln lenken könne!«

»Ich besinne mich. Ja, so sagtest du wirklich!«

»Und noch etwas! Der Scheik sagte: Meiner Hand entkommt ihr nicht, so wahr euer Es Setschme, der Ort der Sichtung, nichts als Schwindel ist!‘ Du behauptest, auf Es Setschme und an der Waage der Gerechtigkeit gewesen zu sein; dieser Ort ist also für dich kein Schwindel. Und schau: Wir sind ihm entkommen, wir sind frei, während aber nun er unser Gefangener ist und uns ohne unsern Willen sicher und wahrlich nicht entkommen wird. Ist dieses wiederholte und erstaunliche Zusammenstimmen der gesprochenen Worte mit den späteren Ereignissen Zufall?«

»Nein, nein!« sagte der Perser.

Und »Nein, nein!« riefen auch Halef, Hanneh, Kara und alle, alle Haddedihn.

»Entweder müssen wir uns für Propheten halten«, fuhr ich fort, »oder wir sind der Überzeugung, daß wir unter einer alliebenden und allweisen Führung stehen, welche für uns das Unheil in Heil, das Unglück in Glück verwandelt. Da wir aber nicht den Wahnsinn haben, zu behaupten, daß wir mit der Gabe der Weissagung ausgerüstet seien, so ist für uns nur die zweite Annahme möglich. Ich habe stets an Gottes Führung geglaubt; ich werde an sie glauben und mich ihr mit herzlicher Zuversicht anvertrauen, solange ich lebe, und ich bitte euch alle, dies auch zu tun! Wir stehen hier an einem Orte, den wir wohl nie vergessen werden, an der Stelle eines Ereignisses, weiches nicht bloß für Khutub Agha, unsern Freund, sondern auch für uns alle von der größten Wichtigkeit ist. Wir haben hier abermals eine Kijahma, eine Auferstehung von den Toten, erlebt. Sie mag uns nicht nur auf unsere einstige Auferstehung von dem leiblichen Tode hinweisen, sondern uns zu einer Auferstehung schon jetzt erwecken, zu einem Erwachen alles dessen, was noch tot und fruchtlos in uns liegt, zu einem Lebendigwerden besonders der Liebe, die uns gegeben ist, nicht, daß wir sie in uns vergraben, sondern daß wir sie von uns hinausstrahlen lassen auf jedermann, auf Freund und Feind, der mit uns in Berührung kommt. Ihr habt durch den Mund des Basch Nazyr die Worte seines Engels gehört, welcher sagte, daß dies der Weg sei zum klaren Lichte, zum wirklichen Leben und zur Seligkeit. Und in diesem Sinne wollen wir uns jetzt zusammensetzen, um Gericht zu halten, über die, welche sich so schwer gegen uns vergangen haben, daß sie nach dem Gesetze der Wüste nur den Tod erwarten dürfen!«

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
590 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain

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