Kitabı oku: «Immanuel Kant: Der Mann und das Werk», sayfa 6
Die Erstlingsschrift
Wir sind damit zu der Erstlingsschrift unseres Philosophen gekommen, die, schon ihres bedeutenden Umfangs (sie war nicht weniger als 15 Bogen stark), noch mehr aber ihres eigenartigen Gepräges wegen weit stärker, als es bisher geschehen, für die Beurteilung dessen, was uns das Wichtigste an Kants Universitätszeit ist, der Entwicklung seiner wissenschaftlich-geistigen Persönlichkeit, in Betracht gezogen werden muß. Eingeliefert wurde sie dem Dekan der philosophischen Fakultät zur vorschriftsmäßigen Zensur im Sommersemester 1746; das Datum der Vorrede ist das seines 23. Geburtstages: des 22. April 1747, während der Druck sich infolge noch zu berührender äußerer Umstände bis in das Jahr 1749 hinzog. Sie behandelt die Streitfrage, ob die Größe der bewegenden Kraft dem Produkt der Masse mit der einfachen Geschwindigkeit (Descartes) oder deren Quadrat (Leibniz) gleich sei. Sein Lösungsversuch ist von der heutigen Naturwissenschaft als verfehlt erkannt und bedeutete auch der damaligen Forschung der großen Mathematiker Euler und d'Alembert gegenüber keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Aber nicht darauf kommt es an, sondern auf die Kenntnis des 22 jährigen Jünglings, wie er uns aus dieser mit jugendlicher Frische hingeworfenen Arbeit unmittelbar, in lebendigster Anschaulichkeit vor Augen tritt. Welche Züge gewahren wir an diesem Bilde?
Zunächst völlige Abwendung von der geistigen Welt des Fridericianums, an die höchstens einzelne Dichterzitate aus Vergil, Ovid, Horaz oder, aber nur einmal, ein biblischer Vergleich – mit den Zedern vom Libanon und dem Ysop, der an der Wand wächst – erinnert. Anderseits etwas völlig Neues: eine nur durch längere Vertiefung erreichbare nahe Vertrautheit mit den höchsten und verwickeltsten mathematisch-physikalischen Problemen. Auch mit der Literatur über dieselben. Ohne dass ein absichtliches Auskramen von Gelehrsamkeit zu bemerken wäre, werden nicht bloß deutsche, sondern auch französische, italienische, holländische und englische Gelehrte – die letztgenannten drei Nationen schrieben freilich lateinisch oder französisch – berücksichtigt; auch eine Dame ist darunter, die Übersetzerin Newtons, Voltaires Freundin, die gelehrte Marquise von Chastelet. Selbst das Neueste entgeht ihm nicht, wie die während des Abschlusses seiner Arbeit (Ostern 1747) erschienene Schrift des Holländers Musschenbroek. Ferner: er schreibt nicht die internationale Gelehrtensprache, sondern deutsch. Und zwar ein für die damalige Zeit gutes Deutsch: klare, nicht zu lange Sätze. Auch Stoffgliederung und Überschriften sind übersichtlich und deutlich; die Beweisführung allerdings zu weitläufig, wie er selbst an einigen Stellen (z. B. § 102) bekennt. Höflich gegen die Gegner, gegen die Marquise sogar galant, nennt er nach moderner, französischer Weise die Gelehrten nicht mit ihren Titeln, sondern bloß mit ihren Namen: Herr von Leibniz, Herr Hamberger usw., nur Wolff wohl auch den Baron oder Freiherrn von Wolf. Auch die äußere Ausstattung des Bandes kargte nicht und zeigte guten Geschmack. Deutschen Zeitgepflogenheiten entspricht eigentlich nur die überdevote Widmung an den als "hochedel geborener Herr, hochgelahrter und hocherfahrener Herr Doktor, insonders hochzuverehrender Gönner" angeredeten Professor Bohlius und die konventionelle Überbescheidenheit, mit der dieselbe Widmung von der "schlechten" Schrift und der "Niedrigkeit" ihres Verfassers redet. In diesen, im Vergleich mit dem Ton der Schrift selbst mehr heiter – ironisch anmutenden Wendungen hat er sich eben noch dem später von ihm selbst verspotteten und bis zu diesem Grade auch nicht mehr geübten üblen Gelehrtenbrauche gefügt.
Wichtiger ist die inhaltliche Sprache, die das Buch – man kann bei ihrer Ausdehnung kaum mehr sagen: die Abhandlung – führt, von dem uns Heutige an Nietzsche gemahnenden Motto gegen die "Herdentiere" an bis zum Schlußparagraphen. Besonders bezeichnend die ausführliche Vorrede, die erklären will, weshalb er sich mit den größten Denkern der Neuzeit (Descartes, Newton und Leibniz) und den ausgezeichnetsten Gelehrten der Gegenwart (Wolff, Bernoulli u. a.) zu messen, ja ihnen zu widersprechen wagt. Bekannt und oft zitiert sind die stolzen Sätze der Vorrede: "Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen": Worte von solcher Wucht, dass sie, wie Gerland14 mit Recht bemerkt, in der Tat nur auf einen ganz neuen wissenschaftlichen Lebensplan bezogen werden können. Aber auch andere Aussprüche verdienen unsere Aufmerksamkeit. So der: dass das Ansehen "derer Newtons und Leibnize vor nichts" zu achten sei, wenn es sich der Entdeckung der Wahrheit entgegensetze (I). Die Wissenschaft kennt kein Ansehen der Person, auch keinen beschränkten Nationalismus, dem etwa "die Ehre des Herrn von Leibniz vor die Ehre von ganz Deutschland" gilt (§ 113): obschon er sich in einein Briefe an einen Unbekannten (vom 23. August 1749) als zu seiner Schrift gerade durch die Wahrnehmung mitbestimmt bekennt, dass bezüglich des von ihm behandelten Problems "die Bemühung der Deutschen … eingeschlafen zu seyn scheint". Kein besseres Lob kann man vortrefflichen Gelehrten erteilen, als dass man auch ihre Ansichten ungescheut tadelt. Welche innere Reife, welche geistige Überlegenheit spricht ferner aus den Sätzen des 22 jährigen vom Vorurteil des großen Haufens, der nach dem Ansehen großer Leute redet und Bücher unbekannter Verfasser verurteilt, ohne sie gelesen zu haben! (III.)
Pessimistisch genug für einen Jüngling von dem Alter Kants klingt der dann folgende Ausspruch: das Vorurteil werde so lange dauern als die Eitelkeit der Menschen, d. i., es werde niemals aufhören (IV). Vor dem Richterstuhl der Wissenschaft jedoch entscheidet nicht die Zahl (III, Schluß). Darum bekennt sich der junge Gelehrte freimütig zu der "Einbildung": es sei "zuweilen nicht unnütze, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu setzen"; denn eine solche Zuversicht gebe seinen Bemühungen einen "Schwung, der der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist". Die Möglichkeit, selbst einen Herrn von Leibniz auf Fehlern zu ertappen, reize; und ein Irrweg belehrt unter Umständen mehr als das Einhalten der "Heeresstraße" (VII). Gleichwohl ist er keineswegs eingebildet: ein Zwerg an Gelehrsamkeit kann eben in diesem oder jenem Teile der Erkenntnis einen im übrigen weit hervorragenderen Denker übertreffen (V) und ein großer Mann kann seine Aufmerksamkeit nicht deich stark nach allen Seiten richten (IX). Bei allem Freimut der Polemik zeigt er deshalb Ehrerbietung gegen seine Gegner bis zum Schluß. Und, was wichtiger ist, Selbstkritik. Er weiß wohl: "das Urteil eines Menschen gilt nirgends weniger als in seiner eigenen Sache" (XIII). Auch erklärt er sich bereit, seine Gedanken "wieder zu verwerfen, sobald ein reiferes Urteil mir die Schwäche derselben aufdecken wird" (§ 11). Man muß selbst in seine vermeintlich sicherste Überzeugung ein "weises Mißtrauen" setzen (§ 113a). Er will auch nichts von Sektenoder "Parteien"-Eifer wissen (§§ 107, 163).
So ergeben sich aus dieser Jugendschrift eine ganze Anzahl Charakterzüge, die auch dem späteren Kant eigen geblieben sind. Aber nicht bloß das. Auch seine spätere philosophische Stellung deutet sich bereits in mancherlei Keimen an. So wagt er sich schon hier an eine Kritik der zeitgenössischen Metaphysik. Er wendet sich gegen Sätze, die man "in den Hörsälen der Weltweisheit immer lehret" (§ 8) und spricht das bedeutsame Wort aus: "Unsere Metaphysik ist, wie viele andere Wissenschaften, in der Tat nur an der Schwelle einer recht gründlichen Erkenntnis; Gott weiß, wenn man sie selbige wird überschreiten sehen." Das rührt daher, dass die meisten eine "große" und "weitläuftige" Weltweisheit einer gründlichen vorziehen (§ 19). Die Metaphysik muß daher aus allen ihren Schlupfwinkeln, in die sie sich immer wieder zurückzuziehen weiß, herausgejagt werden (§ 91, vgl. 109). Trotzdem rechnet er sich augenscheinlich nicht zu den reinen Empirikern, "denen alles verdächtig ist, was nur den Schein einer Metaphysik an sich hat" (§ 127). Die letzten Voraussetzungen oder, was dasselbe heißt, "die allerersten Quellen von den Wirkungen der Natur" bleiben auch nach ihm durchaus Gegenstand der Metaphysik: das hält er dem "Geschmack der itzigen Naturlehrer" entgegen. Er sucht vielmehr, ganz wie später in seiner kritischen Zeit, eine gewisse Mittelstellung zwischen den Parteien einzunehmen, die der "Logik der Wahrscheinlichkeiten" am gemäßesten sei (§ 20), und in der das Wahre von beiden Seiten zusammenfällt" (§ 163).
Gewiß bewegt er sich, wie nicht anders zu erwarten, zum Teil noch in den Geleisen der Zeitphilosophie, so z. B., wenn er meint: was einfach sei, sei schon deshalb nicht bloß schön, sondern auch der Natur gemäß, die eben stets einfach sei, nur einen einzigen Weg gehe (§ 51). Er redet auch in naturwissenschaftlichen Dingen im Geiste von Leibniz und Wolff von Gottes Allmacht, von Gottes "Absichten" und vor allem von seiner Weisheit. Aber er erkennt doch bereits, dass die bloße Berufung auf letztere oft nur eine Ausflucht – ein Grundsatz der "faulen" Vernunft, wie er später gesagt haben würde – sei, zu der man nur greift, wenn die Waffen der Mathematik versagen (§ 98). Auch das ist ein Grundzug seines späteren Kritizismus, dass er auf reinliche Scheidung der einzelnen Wissenschaftsgebiete, so der Mathematik von der Naturwissenschaft (§§ 98, 114 f., 163), der Mathematik von der Metaphysik (§§ 78, 90 u. ö.), der Naturwissenschaft und der Metaphysik dringt. Und er betont auch hier schon die Wichtigkeit der Methode. Man muß eine Methode haben, die auf der Erwägung der Grund- oder Vordersätze und ihrer Vergleichung mit den aus ihnen gezogenen Folgerungen beruht (§§ 88, 90). Er "untersteht sich zu sagen", dass "die Tyrannei der Irrtümer über den menschlichen Verstand, die zuweilen ganze Jahrhunderte hindurch gewähret hat", vornehmlich von dem Mangel einer richtigen Methode herrührt (§ 89), die den gordischen Knoten zerhaut (§91). Auf den modus cognoscendi kommt es an (§ 50): Die von ihm gefundene Methode ist ihm "die Hauptquelle dieser ganzen Abhandlung " (§ 88, 2).
Die physikalische Streitfrage selbst will Kant durch einen Kompromiß entscheiden, indem er das Leibnizsche Kräftemaß den sogenannten "lebendigen", d. i. in "freie" Bewegung übergehenden, dasjenige des Descartes den "toten" Kräften oder "unfreien" Bewegungen zuspricht. Er glaubte damit eine neue Dynamik (§§ 106, 125, 131), ja ein neues "Lehrgebäude" (§ 130) der Naturphilosophie begründet zu haben, während der berühmte d'Alembert in seinem von Kant anscheinend übersehenen Traité de dynamique schon 1743 gezeigt hatte, dass die analytische Mechanik jenen Streit als einen Wortstreit beiseite lassen könne. Aber darauf kommt es hier nicht an. Gewiß wird der junge Philosoph auch manches von dem, was er bringt, aus seines Lehrers Knutzen Vorlesungen, Schriften, Gesprächen mit ihm empfangen haben, so vor allem wohl die Anregung zu dem Thema selbst, ferner den Hinweis auf Newton (der, um einen Irrtum Kuno Fischers, G. d. n. Ph. V, 160 f., zu berichtigen, einmal mit Namen genannt wird), auch die äußere, der mathematischen Darstellung sich angleichende Form u. a. m. Allein in der Hauptsache ist Kant ganz er selbst. Das gibt ihm jenes starke Gefühl der eigenen Kraft, das wir manchmal fast überschäumen sehen, und das doch schon weiteren Kreisen aufgefallen sein muß, wenn der junge Lessing (Juli 1751) das bekannte spöttische Epigramm gegen ihn schmieden konnte:
"Kant unternimmt ein schwer Geschäfte
Der Welt zum Unterricht.
Er schätzet die lebend'gen Kräfte,
Nur seine schätzt er nicht".
das er indes schon in der ersten Ausgabe seiner "Sinngedichte" zwei Jahre später (1753) unterdrückt hat.
Abschluß der Universitätszeit
Wann Immanuel aus dem Verband der Universität auch formell ausgeschieden ist, und wann er die Vaterstadt verlassen hat, läßt sich bei dem Mangel zuverlässiger Nachrichten nicht feststellen; letzteres vermutlich nicht vor Mitte 1747, wo sein Vorgänger in Judtschen (s. folgendes Kapitel) aus seiner Stelle schied. Vorher hatte er noch den Schmerz, seinen Vater zu verHeren, der am Nachmittag des 24. März 1746 in seinem Beisein verschied, nachdem er schon lange schwerleidend gewesen: er starb, wie der Sohn im Hausbuch vermerkt, "an einer gänzlichen Entkräftung, die auf den Schlag, der ihn anderthalb Jahr vorher befiel, erfolgte". Da kein Vermögen vorhanden war, so wurde Riemermeister Kant am 30. März "still", d. h. ohne Leichenkondukt, und "arm", d. h. auf öffentliche Kosten begraben; wahrscheinlich von dem alten Wohnhause aus, denn im Kirchenbuche steht die gleiche Notiz wie beim Tode seiner Frau: Mstr. Kant aus der vord. Vorstadt. Gut muß es in dem Häuschen an der Sattlergasse in den letzten Jahren nicht mehr gegangen sein, denn die eigenhändige Bemerkung des Sohnes in dem "Hausbuch" lautet weiter: "Gott, der ihm in diesem Leben nicht viel Freude genießen lassen, lasse ihm davor die ewige Freude zu Teil werden."
So fesselte den nunmehr 23 jährigen auch der Gedanke an den etwa verlassen und krank zurückbleibenden Vater nicht mehr an Königsberg. Allzuviel Neues hatten ihm die Universitätsjahre nicht gebracht. Der einzige wirklich anregende Lehrer, Martin Knutzen, war ihm in der Hauptsache doch nur der Führer zu einem Größeren, zu Newton, gewesen. An seinem geselligen Leben ist bezeichnend, dass er sich nicht nach den anderen richtet, sondern dass bereits hier er seinen Kreis beherrscht. Und endlich: mag auch wenig aus seinem persönlichen und wissenschaftlichen Leben während dieser Zeit überliefert sein, das wenigstens steht doch fest, dass er anders war wie die anderen, dass er sich selbst seinen eigenen Weg gesucht hat. Seine Seele hatte einen unverrückbaren Mittelpunkt gefunden, der ihn von seiner Umgebung innerlich unabhängig machte. In dieser Beschränkung ist das Wort wahr, das einer seiner ältesten Biographen von ihm gesagt hat: "Er ward alles durch sich selbst."
Viertes Kapitel.
Hauslehrertum und Habilitation (1747—1755)
Weshalb wurde Kant Hauslehrer?
Die herkömmliche Darstellung, dass Kants Leben sich in vollkommener Regelmäßigkeit abgespielt habe, trifft mindestens für seine jüngeren Jahre keineswegs zu. Das sahen wir schon bei seiner Studienwahl; dasselbe zeigt sich jetzt bei seinem Übergang zum Hauslehrertum. Ein anderer wäre in der Heimatstadt geblieben, hätte sich die dortigen Bibliotheken für seine Studien, den Umgang mit Professoren für sein Vorwärtskommen, den geselligen Verkehr und die sonstigen Annehmlichkeiten der großen Stadt für andere Zwecke zunutze gemacht, hätte schon aus Ehrgeiz auf seine erste Schrift hin die Erlangung der Magisterwürde, des Doktorgrades und damit seine Privatdozentur erstrebt, die ihm nach Borowski die philosophische Fakultät "ganz gerne erteilt haben" würde. Aber nichts von alledem. Er ging aufs Land. Warum?
Der Tod seines Vaters und die damit in Verbindung stehende Auflösung der Familie kann als Grund nicht in Betracht kommen. Denn sein Vater war schon im März 1746 gestorben, im folgenden Sommersemester aber hat Immanuel sicher noch in Königsberg gewohnt, da Studiosus Kallenberg, der ihm nach Wlömers Abgang "freie Wohnung gab", erst am 2. Mai 1746 an der Albertina immatrikuliert worden ist. Ebensowenig die Sorge für seine Geschwister, die er doch an Ort und Stelle gerade besser hätte übernehmen können. Zudem wurde der jüngere Bruder im Hause des Oheims Richter erzogen, die Schwestern aber halfen sich als Dienstmädchen fort oder verheirateten sich. Eher schon seine Dürftigkeit. Aber der hätte er doch auch in der Heimatstadt durch Privatunterricht, "Führung" von reichen oder adligen Studenten, die vielfach älteren Studierenden anvertraut wurde oder schriftstellerisches Verdienst abhelfen können; noch einfacher durch Annahme einer "Schulkollegen-", d. h. Lehrerstelle an einer der höheren Lehranstalten seiner Vaterstadt, wie sein Schulkamerad Cunde und später Herder es getan haben. Was also bewog ihn, trotz alledem Königsberg zu verlassen?
Natürlich können auch wir nur Vermutungen aufstellen. Mitwirken mochte die Auflösung des bisherigen Freundeskreises. Nachdem die nächsten Freunde, Wlömer und Heilsberg, die ihm das äußere Leben erleichtert, ihn verlassen hatten, mußte es auch den 23jährigen Jüngling einmal hinausziehen aus der Stadt, in der er sein ganzes bisheriges Leben zugebracht, zumal er kein Vaterhaus mehr besaß. Allein der Hauptgrund scheint uns doch ein anderer zu sein: die klare Erfassung der künftigen Lebensbahn, die er "sich vorgezeichnet". Er beabsichtigte, sich ganz der reinen Wissenschaft zu widmen. Das aber hieß für ihn, der zur freien Schriftstellerei, etwa in Lessings Art, sich weder geneigt noch befähigt fühlte: dem Dozentenberuf. Den Befähigungsnachweis dafür hatte er wohl durch seine naturphilosophische Schrift erbringen wollen; aber er fand, wie so mancher Anfänger, keinen Verleger dafür, und der Beitrag, mit dem ihm der wackere Oheim Richter beisprang, scheint nur einen Teil der Kosten gedeckt zu haben. Um das übrige aus eigenen Mitteln aufbringen zu können, zugleich aber überhaupt sich einen finanziellen Rückhalt für die Zukunft zu sichern, durfte er nicht mehr, wie bisher, von der Hand in den Mund leben, sondern mußte eine dauernde Stellung zu gewinnen suchen, die ihm die Möglichkeit bot, etwas zurückzulegen und gleichzeitig auch seine wissenschaftlichen Arbeiten fortzusetzen. Eine solche Aussicht aber versprach der gerade von den ärmeren Königsberger Studenten bzw. Kandidaten besonders häufig, ja fast regelmäßig ergriffene Hauslehrerberuf.
Ist schon im übrigen Deutschland dies oft auf eine längere Reihe von Jahren sich ausdehnende Hauslehrertum nach Abschluß des Universitätsstudiums für unbemittelte Kandidaten noch lange Zeit beinahe typisch geblieben – wir erinnern allein aus dem Kreise der Philosophen an so bekannte Beispiele wie Fichte und Herbart, Schelling und Hegel —, so wurde in Königsberg diese Gewohnheit durch die wirtschaftlichen, sozialen und Verkehrsverhältnisse der Provinz und des benachbarten Kurland noch befördert. Bei dem Mangel an öffentlichen, namentlich höheren, Schulen in Verbindung mit der Rückständigkeit der Verkehrsmittel, fühlten sich die adligen Gutsbesitzer, oft aber auch die wohlhabenderen Landpfarrer und Domänenpächter auf einen gewöhnlich mit dem vornehmer klingenden Namen "Hofmeister" oder "Informator" beehrten Hauslehrer geradezu angewiesen; und dutzendweise finden sich in Kants eigenem späteren Briefwechsel die Bitten an ihn, solche zu empfehlen. Weshalb er verhältnismäßig weit weg von Königsberg auf das platte Land ging, wissen wir nicht. Vielleicht war es bloßer Zufall, vielleicht aber war ihm auch ländliche Einsamkeit für die erstrebte innere Sammlung, im Gegensatz zu der hauptstädtischen Zerstreuung, ganz willkommen. Völlig ausgeschlossen wäre es auch nicht, dass die Kants, die durch das Kirchenbuch in Judtschen um 1730 bezeugt sind, entfernte Verwandte Immanuels waren und ihm durch sie die dortige Stelle vermittelt worden ist. Denn in das Haus des reformierten Pfarrers Andersch in dem litauischen Kirchdorf Judtschen trat der 23jährige im Jahre 1747 als Hauslehrer ein.15
Bei Pfarrer Andersch in Judtschen
Unter der verheerenden Pest von 1709/10 hatte Litauen besonders gelitten, ganze Dörfer waren verödet, die verwaisten Rittergüter vielfach in königliche Domänen oder mittlere Bauerngüter umgewandelt worden. Um neue Bevölkerung ins Land zu ziehen, verlieh Friedrich Wilhelm I. den vorzugsweise aus der französischen Schweiz, vereinzelt auch aus Nordfrankreich und den Niederlanden einwandernden protestantischen Ansiedlern allerlei Vorrechte. Eins dieser neuen, rasch aufblühenden Kolonistendörfer war das in der Mitte zwischen Insterburg und Gumbinnen gelegene Judtschen, von der reißenden Angerap mit ihren steilen Ufern umflossen und so nicht ohne landschaftlichen Reiz. Infolge seiner zentralen Lage inmitten der übrigen war gerade Judtschen ihr Vorort geworden und hatte einen besonderen, französisch sprechenden Pfarrer und Richter. Die tüchtigen Schweizer Bauern wahrten ihre Eigenart sowohl in politischer als religiöser Beziehung: sie blieben ihrem reformierten Bekenntnis treu, und sie ließen sich nicht in die Stellung litauischer Schar-werker herabdrücken, sondern zahlten lieber höhere Abgaben, als dass sie die ihnen gewährten Freiheiten aufgegeben hätten. Gegen Übergriffe der Beamten riefen sie freimütig das Urteil der Domänenkammern oder gar des Königs an. "Sie sind die Pioniere eines freieren Bauernstandes in Ostpreußen gewesen" (Haagen). Zur Zeit von Kants Aufenthalt zählte das Dorf etwa 20—25 selbständige Bauernstellen, die ganze Gegend ungefähr 100; dazu kamen noch eine Anzahl sogenannter Köllmer, Handwerker und Instleute. Der junge Hauslehrer hat sich offenbar keineswegs vornehm von ihnen zurückgehalten, nahm er doch zweimal – am 27. Oktober und am 8. Dezember 1748 – eine Patenschaft bei Kolonistenkindern an. Vielleicht hat er, der schon früh zu geographischen und anthropologischen Beobachtungen neigte, hier mancherlei Studien an dem bunt gemischten Volkstum der Gegend gemacht. Denn in der Nachbarschaft gab es auch deutsche Schweizer, Pfälzer, Nassauer, Hessen, Salzburger und vor allem die damals noch auf ziemlich niedriger Kulturstufe stehenden Litauer. Bis in sein Greisenalter hat er ein besonderes Interesse für den letztgenannten "uralten, jetzt in einem engen Bezirk eingeschränkten und gleichsam isolierten Völkerstamm" beibehalten, dem auch seine besten Universitätsfreunde angehörten. Eine seiner letzten literarischen Äußerungen, die aus dem Jahre 1800 stammende 'Nachschrift' zu Mielckes Litauisch-Deutschem Wörterbuch, galt diesem Volksscblag, den er wegen seiner Freimütigkeit, Offenherzigkeit und Neigung zur Satire liebte. Und wenn er später so energisch für die Aufhebung der bäuerlichen Erbuntertänigkeit eingetreten ist, so hat viel leicht eine Jugenderinnerung an die freien Judtschener Bauern mitgespielt.
An der Spitze der dortigen reformierten Gemeinde, der größten Ostpreußens, stand nun als ihr Prediger seit 1728 der Schlesier Daniel Andersch. Wider den Willen der französischen Mehrheit hatte auf die Beschwerde des deutschen Teils der eigenwillige Friedrich Wilhelm I. den damals erst 27jährigen Waffenschmiedssohn als Pfarrer eingesetzt und, der widerstrebenden Gemeinde wie der sie unterstützenden ostpreußischen Regierung zum Trotz, ihn, der anfangs kein Wort Französisch verstand, gehalten. "Soll der teusche (= Deutsche) in Jutzche bleib", lautet seine eigenhändige Entscheidung auf die Beschwerde von 118 französisch redenden Familienvätern. Im Laufe seiner langen, bis 1771 dauernden Amtstätigkeit hat der "Deutsche" dann doch verstanden, sich mit seinen Gemeindegliedern besser zu stellen. Nach den Eintragungen seiner freilich nur die ersten sechs Jahre hindurch geführten Chronik zu schließen, war Andersch eine nüchterne, wesentlich praktisch gerichtete Natur. Er legt sich einen Baumgarten an, bewirtschaftet das Pfarrland selbst und hält sich ein eigenes Gespann. Er verkehrt mit den Amtspächtern der benachbarten königlichen Domänen – adlige Familien gab es in der Nähe nicht —, während er mit den lutherischen Kollegen der Nachbarschaft infolge des konfessionellen Gegensatzes auf gespanntem Fuße steht. Zu wissenschaftlichen Interessen fehlten ihm augenscheinlich sowohl Neigung wie Anregung. Dagegen war er bemüht, seinen fünf Söhnen eine gute Schulbildung zu geben, und, da er ein gutes, im Vergleich mit den meisten seiner Amtsbrüder auf dem Lande sogar glänzendes Einkommen bezog, so konnte er ihnen, wenigstens während ihrer jüngeren Jahre, Hofmeister halten.
Unserem Kant war als Lehrer der beiden älteren Söhne schon ein cand. theol. Rochholz (Rocholl?) vorausgegangen, dessen ausgezeichneter Unterricht der zweite, 1732 geborene Sohn später in seiner vita gerühmt hat. Da beide erst im Juli 1747, aus Rochholz' Unterricht entlassen, in das Joachimstaische Gymnasium bei Berlin aufgenommen wurden, so kann Kant frühestens Sommer 1747 die Stelle in Judtschen angetreten haben und nur als Lehrer der drei jüngeren Söhne, die damals im Alter von 13, 11 und 8 Jahren standen, in Betracht kommen. Der jüngste von ihnen scheint früh gestorben zu sein; von den beiden anderen war der ältere, Paul Benjamin (geb. 1734), am 8. Dezember 1748 zusammen mit Kant Taufzeuge, kam Juli 1750 ebenfalls nach Joachimstal und soll später erst Offizier, dann Kaufmann in England geworden sein. Der andere, Timotheus (geb. 1736), besaß in späteren Jahren ein angesehenes Manufakturwarengeschäft in der Kneiphöfschen Langgasse zu Königsberg und starb dort als Kommerzienrat 1818; vermutlich rührt von ihm ein in Kants Nachlaß gefundener Briefzettel vom 13. April 1800 her, der dem greisen einstigen Lehrer Auskunft gibt, in welcher Apotheke "sehr gute Pfropfen" zu erhalten seien. Da im Dezember 1751 in den Judtschener Kirchenregistern schon ein anderer Studiosus – diesmal der Theologie – neben der Frau Pastor als Taufpate erscheint, darf man wohl als sicher annehmen, dass Kant damals seinen Hauslehrerposten bereits verlassen hatte. Möglicherweise geschah dies doch schon Juli 1750, als der ältere Zögling nach Berlin kam. Er würde also (und das müßte zu den überlieferten drei Jahren stimmen) entweder von 1747—175c oder 1748—1751 als Hofmeister in dem reformierten Pfarrhause amtiert haben.16