Kitabı oku: «Der Seelenwexler», sayfa 6

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Uff, dachte er. Was zum Teufel hat Zangger in unserem Büro zu suchen?

Wäre Zangger mit Seidenbast an der Theke gestanden, wäre sein Namensschwindel aufgeflogen. Aber Zangger stand nicht an der Theke, er stöberte auch nicht in den Bücher- oder Weinregalen, er sass in Seidenbasts Büro. Das konnte nur bedeuten, dass Zangger ein Bekannter oder Freund seines Chefs war, denn Kunden bat dieser nie in sein Büro. Zangger hatte in einem Sessel gesessen, ganz so, als fühle er sich in Seidenbasts Büro zuhause. Er hatte in einen Bildband auf seinen Knien geguckt, und auf dem Beistelltischchen stand ein halbvolles Weinglas. Phil war schon wieder draussen gewesen, noch ehe Zangger den Kopf wandte und sich ihre Blicke getroffen hätten.

Beim Opernhaus stieg er aus. Im Untergeschoss des Globus gab es stets irgendwelche Degustationshäppchen. Die Art, wie manche Kunden sich die angebotenen feinen Sachen im Vorbeigehen schnappten, ohne die Damen eines Blicks zu würdigen, die Häppchen wortlos in den Mund stopften und weitergingen, ohne etwas zu kaufen, empfand Phil als stillos. Da hatte er andere Manieren: Er blieb stehen, erkundigte sich freundlich, was es denn sei, hörte sich die Erklärungen der jungen oder älteren Frauen an – heute wurden Pumpernickelecken mit sämigem und mit pikantem Weichkäseaufstrich offeriert –, pries die Kostproben, bedankte sich höflich und ging erst dann weiter. Die Frauen und Mädchen dankten es ihm mit einem Lächeln. Er umgekehrt freute sich nicht nur an den kleinen Köstlichkeiten, sondern auch daran, dass man seine Aufmerksamkeit schätzte. Er mochte es, wenn die Menschen ihn mochten. Phil blieb abermals stehen, denn heute gab es weiter hinten eine neue Champagnermarke zu degustieren. Er versuchte sowohl den Brut als auch den Rosé. Doch es nützte alles nichts. Das Selbstablenkungsmanöver wollte nicht gelingen. Die Sache vertrug keinen Aufschub mehr.

Er ging zum Bahnhof Stadelhofen zurück und nahm die S-Bahn. Am Bahnhof Oerlikon stieg er aus, eilte am Neumarkthochhaus vorbei, um zwei, drei Strassenecken, und war an seiner Adresse. Im Obergeschoss der Maison Rose arbeitete seine Favoritin. Zuoberst, im Penthouse, residierten die Luxusdamen, die er sich nie und nimmer hätte leisten können.

Das war das letzte Mal mit der kleinen Brasilianerin, sagte er sich, als er wieder ging. Bald würde er eine Freundin haben: Linda Larsson. Bei seinem Türken verköstigte er sich mit einer Portion Kebab und trank im Stehen ein Bier. Es blieb ihm keine Zeit mehr, bei MacMax vorbeizuschauen, er musste sich auf die S-Bahn nach Winterthur sputen, um rechtzeitig Chez Toggweiler einzutreffen.

10.

Als Erstes entschuldigte sich Phil dafür, dass er am Vortag einfach abgehauen war. Ihm sei plötzlich übel geworden, erklärte er, er habe sich an die frische Luft begeben müssen.

«Ach ja, richtig. Sie waren gestern beim Arzt, nicht wahr?», meinte Seidenbast. «Ist es etwas Ernstes? Es sah ziemlich dramatisch aus, als Sie hinausstürmten.»

«Bloss eine allergische Reaktion. Habe ich Ihren – Ihren Kunden erschreckt?»

«Meinen Freund. Ein bisschen vielleicht. Er hörte etwas und dachte, es habe sich jemand wehgetan. Er kam aus dem Büro in den Laden, um nach Ihnen zu sehen, aber da waren Sie schon draussen. Er ist Arzt, wissen Sie.»

Ja, ich weiss, dachte Phil. «Ach so», machte er.

Dann ging er an die Arbeit. Er stieg ins Lager hinunter. Dort hatte Frau Preisig die angelieferten alten Bücher bereits ausgelegt. Phils Aufgabe war es, jeden Titel ins neue System einzuordnen. Er hatte einigermassen begriffen, was Seidenbasts Vorstellung war, aber er war sich längst nicht bei jedem Buch sicher. Bei dem, das er gerade in der Hand hielt, wusste er nicht, ob er es unter Schweizerdeutscher Literatur oder unter Griechischen Sagen einordnen solle. «Homer Bärndütsch» stand auf dem Deckel.

Nie gehört, dachte er überrascht.

Er öffnete das Buch, es war 1963 erschienen. Er schlug eine Seite auf und begann zu lesen. Fasziniert hielt er in seiner Lektüre inne. Dann ging er mit dem Buch in der Hand die Treppe hoch.

«Worunter soll ich das registrieren?», fragte er seinen Boss, der vor einem Regal stand, und hielt das Buch in die Höhe.

«Was ist es?»

Phil nannte den Titel. «Kennen Sie es?», fragte er.

«Sicher. Die Odyssee, übersetzt von einem Schullehrer aus dem Bernbiet, erzählt in Berndeutschen Hexamtern», sagte er. «Sie waren Klosterschüler. Dann sind Sie Lateiner, oder nicht? Da wissen Sie natürlich, was Hexameter sind.»

Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes, wollte Phil reflexartig rezitieren, jenen Hexameter, den jeder Lateiner kennt. Stattdessen liess er sich einen Augenblick Zeit, dann skandierte er:

«Verse sind es, obzwar ohne Reim, das konnt’ ich mir merken.» Das altertümliche obzwar flocht er ein, um Seidenbasts Ohren zu öffnen.

Seidenbast lachte auf, der Mund blieb ihm offen stehen.

«Sicherlich weiss ich das noch», doppelte Phil nach, «mir blieb das innerlich haften.» Dabei tippte er sich mit dem rechten Zeigefinger ans Ohr.

Seidenbast fiel die Kinnlade herunter.

«Das gibts doch nicht!», rief er. «Sie reden in Hexametern!?»

«Und Pentametern. Hatte ich einmal intus.»

Seidenbast sah ihn staunend an. «Wie kommt das?»

Phil holte bereitwillig ein bisschen aus.

Seine Erinnerungen ans Gymnasium waren kristallklar. An seine Kindheit im Lugnez hatte Phil bloss ein paar Erinnerungsfetzen, die mit seiner Arbeit auf dem verlotterten Hof zu tun hatten und mit Dingen, für die er sich dem alten Caduff hatte hergeben müssen, und die verdrängte er lieber. Zusammenhängende Kindheitserinnerungen hatte er keine. Er wusste bloss, dass er keine Mutter mehr hatte, als er die zweite Klasse besuchte. Dass er froh war um jede Stunde, die er in der Schule statt auf dem Hof verbringen konnte. Und dass Tante Senta eine liebe, aber überforderte Frau war, die unten im Dorf wohnte und nebenbei für den Bruder und den Neffen auf dem Hof kochte, putzte und wusch. Aber ihn, den Neffen Gion-Gieri, auch nicht vor dem alten Caduff schützen konnte. Nein, über seine Kindheit konnte und wollte er Seidenbast nichts sagen.

Die Zeit im Gymnasium war etwas anderes. Das war die beste, nein, die einzige gute Zeit in seiner Jugend gewesen. Es war sein Glück, dass Casanova, der Vormund, der nach dem Tod des alten Caduff bestellt worden war, sich dafür einsetzte, dass Gion-Gieri ins Internat der Klosterschule Disentis aufgenommen wurde. Casanova, ein blonder Hüne, hatte von den Lehrern im Tal gehört, dass Gion-Gieri ein gescheiter Junge sei und eigentlich ein guter Sekundarschüler wäre. Wenn nur der alte Caduff ihm nicht so viel aufbürden würde. Gion-Gieri fand kaum Zeit, seine Aufgaben zu machen, und in der Schulstube fielen ihm die Augen zu. Dass er die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium des Internats dennoch schaffte, hatte er seiner besonderen Begabung zu verdanken, seinem tonträgerartigen Gedächtnis. Das Schulgeld konnte zu einem Teil aus Gion-Gieris kleinem Erbe bezahlt werden, dem Erlös aus dem Verkauf des Hofs. Der Rest wurde durch ein Stipendium gedeckt, das Casanova für ihn herausgeholt hatte.

Pater Ignaz, der seine Sprachbegabung erkannte, ermutigte Gion-Gieri, das Latinum zu machen, obschon er das Kurz- und nicht das Langzeitgymnasium besuchte. Das erforderte einiges Nachbüffeln. Im Vergleich zu den neuen Sprachen, in denen er einfach so drauflosreden konnte, war das Übersetzen einer toten Sprache eine mühselige Angelegenheit. Fast wie eine mathematische Knobelei. Ganz anders war es, wenn er Latein – in Versform eben – hören konnte. Wenn Pater Ignaz mit seiner Donnerstimme Vergil oder Horaz rezitierte, dann klang das in Gion-Gieris Ohren wie Musik. Besser gesagt, wie Sprechgesang. Wie Rapping. So war es: Lateinische Verse, Hexameter vor allem, musste man rappen. Nicht der Inhalt zog ihn in seinen Bann, sondern der Rhythmus. Gerade, dass Hexameter sich nicht reimen mussten, sondern dass allein der Rhythmus den Vers ausmachte, gefiel ihm. Er fand solchen Gefallen daran, dass er sich einen Jux daraus machte, Alltagssprache in hexametrische Versform zu giessen. Nach einiger Zeit hatte er so viel Übung, dass er auch spontan selbst gebastelte Hexameter aus dem Ärmel schütteln konnte.

«Hört doch, Professor: die Glock’ ist verklungen, die Stund’ ist zu Ende», konnte er zum Gaudi der Klasse vor sich hin rappen, wenn die Unterrichtsstunde kein Ende mehr nehmen wollte.

«Die dort, die eilenden Schrittes vorbeigeht, ist sie wohl lesbisch?», alberte er, rappend, mit Klassenkameraden auf dem Dorfplatz. Er deutete mit dem Kopf auf Johanna, die vorbeihastete, ohne die Burschen eines Blicks zu würdigen.

«Guido, du Quatschkopf, du Aff, leck mich am Arsch und verschwind!», rief er, diesmal im Versmass des Pentameters, seinem Freund im Zorn hinterher, als der ihn geärgert hatte.

Einen lateinischen Hexameter selber zu fabrizieren, fiel ihm nicht ein, aber er hatte einige Originale auf Lager, die er zitieren konnte, wenn es die Situation erforderte. So, als ein Klassenkamerad dem Lateinlehrer einen frechen Streich gespielt hatte und dieser eben zu einer Standpauke ansetzte.

«Sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant», skandierte Phil laut und mit stoischer Miene – die Betonung auf sämtlichen i – und nahm damit Pater Ignaz den Wind aus dem Segel. Der lateinische Vers besagte so viel wie: Buben seien eben Buben und Buben täten nun mal Bubenzeug.

«Ita est», ja, so ist es, erwiderte der Pater bloss. Er konnte seine Befriedigung, mit einem seiner Schüler quasi lateinische Konversation zu treiben, kaum verhehlen.

Seidenbast war sprachlos. Sie hatten sich mittlerweile auf zwei Barhocker an die Holztheke gesetzt. Seidenbast hatte den Ellbogen aufgestützt, seinen Kopf in die Hand gelegt und betrachtete seinen Angestellten von der Seite. Mit einem Ausdruck, der ebenso gut Amüsement wie grenzenloses Erstaunen bedeuten konnte.

«Sie haben es ja faustdick hinter den Ohren», sagte er.

Phil nahm das als Kompliment.

«Erzählen Sie mir mehr von der Klosterschule», forderte Seidenbast ihn auf. «Das interessiert mich.»

Phil tauchte noch einmal in gymnasiale Erinnerungen ein. Seidenbast hörte aufmerksam zu, als er aus dem Internatsnähkästchen zu plaudern begann. Doch Phil wählte sorgfältig aus, welche von diesen Erinnerungen er seinem Boss erzählte und welche nicht.

Ein Jahr lang war er der Trottel, der Tgutg, aus dem Seitental gewesen, von fast zuhinterst. Er hatte kaum mehr als seinen Hof, sein Dorf und das Nachbardorf gesehen, in dem er zur Sekundarschule ging. Einmal im Monat hatte er den alten Caduff ins Tal oder nach Ilanz begleitet, je nachdem, wo gerade Markt oder Viehmarkt war. Er sprach Rätoromanisch – seine Muttersprache, das Holländische, hatte er vergessen –, lernte in der Primar- und Sekundarschule ohne Schwierigkeiten Deutsch und verleibte sich nebenbei den Bündner Dialekt ein. Von der weiten Welt und von den Mädchen wusste er nichts, er fürchtete beide bloss ein bisschen. Das Internat war deshalb eine Offenbarung: So also konnte das Leben sein!, das hatte er nicht gewusst. Für andere mochte es ein Albtraum sein, weit weg von zuhause, fern von Mutter und Vater, ein ungewohnt geregeltes und kontrolliertes Leben führen zu müssen. Für ihn war es ein Privileg. Dass er sein Zimmer mit Guido teilen musste, war kein Problem, sondern ein Geschenk. Denn Freunde kannte er bis anhin ebenso wenig wie Mädchen. Guido war ein unkomplizierter Kerl. Er frotzelte Gion-Gieri ständig ein bisschen, und Gion-Gieri musste rasch die Spielregeln des Frotzelns lernen. Einmal entstand daraus ein handfester Streit. Auch das war etwas Neues gewesen: dass man sich streiten konnte, ohne dreinzuschlagen oder geschlagen zu werden. Eine kleine Keilerei, ein kräftiger Schubs, das war alles gewesen. Nein, mit dem Zimmerteilen hatte er keine Mühe. Zuhause im Lugnez hatte er auch kein eigenes Zimmer gehabt. Besser gesagt, überhaupt keines, nicht einmal ein eigenes Bett. Als Mutter nicht mehr da war, in deren Bett er hatte schlafen dürfen, schlug der alte Caduff im Zorn mit der Axt ihre Bettstatt auseinander und verbrannte das Holz im Ofen. Gion-Gieri hatte, wenn der Alte ihn nicht im Suff in seinem Bett haben wollte, auf der Ofenbank oder im Heu geschlafen.

Im nächsten Schuljahr blühte Gion-Gieri auf. Seine Klassenkameraden begannen sich für ihn zu interessieren, er hatte keine Ahnung wieso. Da er keine Eltern mehr hatte – das sagte er aber keinem –, begleitete er einige von ihnen an den Wochenenden nach Hause. So lernte er andere Dörfer, aber auch Städte kennen: Chur, Bellinzona, Rapperswil und Zürich. Von Zürich hatte er nur das Schlimmste gehört, das musste ein dunkler, stinkender Moloch sein, mit Strassenschluchten, in denen man sich hoffnungslos verirrte, voll von Autos, höllischem Lärm, rauchenden Fabrikschloten und hässlichen Hochhäusern. Als er an einem wunderbaren Sommertag den See und in der Ferne die Schneeberge sah, die Kirchtürme und die vielen Bäume rundum, die Seepromenade erlebte und die Strassencafés, da wusste er, dass er hier einmal leben würde.

Im dritten Internatsjahr begann man um ihn zu buhlen. Die Mädchen, aber auch die Burschen. Und die Lehrer ebenfalls. Ein Bursche hatte als Erster Erfolg. Er war ein Jahr älter und hiess Raffi. Eine Sportskanone, die Mädchen schwärmten für ihn, aber sie blitzten alle ab. Raffi versuchte, Gion-Gieri dafür zu gewinnen, mit ihm zu trainieren. So lange, bis er schliesslich mitmachte: intensives Training, ihre Muskeln schwollen, ihre Oberkörper glänzten vor Schweiss. Gemeinsames Duschen verstand sich da von selbst. Dass Raffi sich für ihn interessierte, schmeichelte Gion-Gieri. Dass Raffi ihn auch begehrte, schmeichelte ihm noch viel mehr. Er wurde sich auf einmal bewusst, dass er gut, sogar unverschämt gut aussah. Jetzt traute er sich endlich, auf die Mädchen zuzugehen. Vorerst aber ging es mit Raffi noch eine Weile weiter: ungenierter Körperkontakt, in aller Öffentlichkeit, sie waren ja Sportler. Zärtlichkeiten, aber nur in Raffis Zimmer, ein Plaisir à deux mit jeweils spritzigem Ende. Für Gion-Gieri eine prickelnde Erfahrung, die rein nichts zu tun hatte mit den widerlichen Dingen, die er mit dem alten Caduff erlebt hatte.

Dass auch Pater Alois, der Klassenlehrer, seine Nähe suchte, blieb ihm nicht verborgen. Der Pater beugte sich etwas weiter über ihn herab als über andere, wenn er hinter ihm stand, um ihm bei einer schwierigen Aufgabe zu helfen. Manchmal hatte Gion-Gieri den Eindruck, der Pater rieche dabei an seinem Haar. Das eine oder andere Mal stützte Pater Alois sich auf seine Schulter oder legte die Hand auf seinen Rücken oder seinen nackten Unterarm. Einmal fuhr er ihm mit der Hand durch den Haarschopf, zog sie aber blitzschnell wieder zurück, als habe er sich die Finger verbrannt. Bei solchen Berührungen fuhr ein Schauer, und gar kein unangenehmer, durch Gion-Gieri hindurch. Pater Alois rief ihn mehr als andere in sein Büro, um zu erfahren, wie es ihm gehe und ob irgendwelche Schwierigkeiten bestünden. All das störte Gion-Gieri kein bisschen. Im Gegenteil, er gab oftmals dem ihm selbst nicht ganz verständlichen Bedürfnis nach, dem Pater eine Freude zu machen, indem er ihn auch dann um Hilfe bei der Lösung einer Aufgabe bat, wenn er sie gar nicht unbedingt brauchte. Oder indem er sich ohne grössere Not zu einer Unterredung in seinem Büro meldete und ihm dann, ohne es selbst voll und ganz zu merken, schöne Augen machte. Ausser Raffi, der den Blick dafür hatte, nahm niemand an diesen diskreten Vorgängen Anstoss. Sie blieben auch ohne Folgen, wenn man von den möglichen inneren Nöten eines Paters einmal absah.

Im letzten Jahr war Raffi nicht mehr da, er hatte seine Matura ein Jahr früher abgelegt. Jetzt waren es nur noch die Mädchen, die um Gion-Gieri warben. Oder besser gesagt um Pippo, wie sie ihn im letzten Schuljahr nannten. Und er um sie, soweit das überhaupt nötig war. Mit einem Mal war er, wenn auch nicht zum alleinigen Star, so doch zu einem von denen in der Abschlussklasse geworden, die im Mittelpunkt standen. Einer, den man sah und auf den man hörte. Seine Klassenkameraden mochten und respektierten ihn, sie missgönnten ihm weder seine guten Noten noch seine Erfolge bei den Mädchen. Abblitzen liess er kaum eine. Die Lehrer gaben ihm zu verstehen, dass sie ihm fast alles zutrauten und dass sie keinen Anlass sahen, sich um seine Zukunft zu sorgen.

Gion-Gieris Angewohnheit, es mit der Wahrheit nicht immer so genau zu nehmen, war niemandem aufgefallen. Das Muster, auf eine Frage mit einem Geflunker, einer Halbwahrheit oder einer faustdicken Lüge zu antworten, oder auch ungefragt eine solche aufzutischen, hatte er sich unter dem Regime des alten Caduff angewöhnt. «Wo warst du?», war eine häufige Frage des Alten gewesen. «Im Stall», Gion-Gieris stereotype Antwort, um sich vor Schlägen zu schützen, dabei war er bei der Tante gewesen. «Warst du das?» – «Nein», sagte er reflexartig, selbst wenn ein Ja gar keine Sanktionen, sondern ein Lob nach sich gezogen hätte. «Wer hat das gesagt?» – «Der Lehrer», auch wenn es der Pfarrer gewesen war. «Wo ist der Schlüssel?» – «Weiss nicht», dabei hatte er ihn im Hosensack. «Liebst du Tante Senta?» – «Es geht.» Ein Nein hätte Schläge bedeutet, ein Ja ebenfalls, denn der Alte liebte seine Schwester nicht. Er hasste sie, weil er in ihrer Schuld stand. Die Antwort setzte gleichwohl eine Tracht Prügel ab. In der Klosterschule waren es dann andere Fragen. «Hast du auf die Matheprüfung gebüffelt?» – «Nein», war die Antwort, wenn er gebüffelt, «Ja», wenn er nicht gebüffelt hatte. «Was ist dein Vater?» – «Posthalter.» Posthalter war sein Vormund, Casanova, der Vorgesetzte des mittlerweile verstorbenen Postboten Wexler. «Und deine Mutter?» – «Kunstmalerin. Sie kommt aus Russland.» Der Gemeindeschreiber des Nachbardorfs hatte eine russische Kunstmalerin im Internet kennen gelernt und dann aus ihrer Heimat zu sich ins Tal geholt; das hatte sich herumgesprochen und ihm hatte es imponiert. «Ohne Scheiss?! Dann kannst du Russisch?» – «Ähm, nein, sie ist taubstumm.» Er musste lernen, seinen Kopf rasch mit einer zweiten Lüge aus der Schlinge zu ziehen, wenn die erste aufzufliegen drohte. Das erforderte eine Portion Geistesgegenwart, die hatte er, und Unverfrorenheit, die eignete er sich an. Die Gefahr, dass er eine Antwort vergass und sich später selber entlarvte, war gering, denn auch seine eigenen Worte waren in seinem Kopf gespeichert, nachdem er sie einmal ausgesprochen und also selber gehört hatte. Oft spürte Gion-Gieri auch heraus, was der andere hören wollte, und gab genau dies zur Antwort. «Gefällt dir der Schlager, Pippo?» – «Super», dabei fand er ihn kitschig. «Du hast gestern mit Vanessa geknutscht, stimmts?» – «Nicht geknutscht, ich hab sie getröstet.» – «Liebst du mich?» – «Ja, klar.» Das war dann gar nicht unbedingt gelogen. Nur hätte eine andere die gleiche Antwort bekommen.

«Ich glaube, ich wäre auch gern in ein Internat gegangen», sagte Seidenbast, als Phil mit seiner Erzählung zu Ende war. «Wenn ich Sie so erzählen höre, werde ich fast melancholisch.» Er sah Phil lange an. Dann gab er sich einen Ruck und schickte seinen Mitarbeiter in den Feierabend.

11.

«Was ist bloss los mit dir? So kenne ich dich nicht», meinte Zangger. Er lächelte schwach. Er war selber auch nicht in der besten Verfassung.

Seidenbast hatte ihn für den Abend zu einem Imbiss eingeladen, um ihn über Tinas überstürzte Abreise hinwegzutrösten und ihm in seinem Strohwitwerdasein beizustehen. Ein Imbiss, das war in aller Regel ein ausgewachsener Fünfgänger mit kalter und warmer Vorspeise, gefolgt von einer Pièce de Résistance, einem Käseplättchen und einem Zangger zuliebe extra süssen Dessert. Jeder einzelne Gang begleitet von einem passenden Wein. Zum heutigen Abend hatte Seidenbast aus dem Laden sechs angebrochene Flaschen mitgebracht, die von der Österreich-Degustation am Nachmittag übrig geblieben waren. Der Wein war denn auch wie immer hervorragend. Das Essen aber war eine Enttäuschung oder, laut Seidenbast, eine Katastrophe. Selbst Zangger musste zugeben, dass das kalte Paradeisersüppchen nach gar nichts schmeckte, dass der gebratene Zander zwar in Ordnung, das Gemüsebett, auf dem er angerichtet war, aber verkocht und der Tafelspitz rot und trocken und somit missraten war. Selbst der Apfelkren, den Seidenbast als klassische Beilage reichte, war nicht nach seinem Geschmack: zu süss, zu wenig pikant. Den Weichkäse hatte er im Kühlschrank vergessen, sodass er ihn unmöglich schon auftischen konnte. Und für die Füllung des Palatschinkens, auf den sich Zangger am allermeisten gefreut hatte, hatte er sage und schreibe ins Salz- statt ins Zuckerfass gegriffen. Seidenbast schmiss die ungeniessbare Nachspeise vor Zanggers Augen in den Müll. Das hatte es noch nie gegeben.

«Schwamm drüber», sagte Seidenbast. «Schluss mit Österreich! Ich backe eine schöne Baguette auf, und wenn der Käse so weit ist, öffnen wir eine Flasche Veuve Clicquot.» Er schnitt eine Grimasse und hob entschuldigend die Hände.

«Nun sag schon, Marius, was ist los mit dir?», wiederholte Zangger.

«Sag du, Lukas. Was ist mit dir los? Mit Tina und dir?»

«Nein, sag du», insistierte Zangger.

«Du zuerst», beharrte Seidenbast. «Das ist schliesslich der Zweck des Abends.»

Zangger gab nach und packte aus.

Tina war vor zehn Tagen nach Maputo abgeflogen. Er hatte vier, fünf Tage Zeit gehabt, sich darauf einzustellen. Kein Vergleich mit dem, was Tina in derselben Zeit zu regeln und zu organisieren hatte: Sie brachte Haus und Garten in Ordnung, sorgte dafür, dass alle, die es anging, von ihrer bevorstehenden Abwesenheit erfuhren, erkundigte sich bei den erwachsenen Kindern, ob sie von ihr noch etwas brauchten, beschaffte Reisedokumente und Visa, liess sich vom Tropenarzt untersuchen und impfen, holte ihre Reisesachen hervor und kaufte, begleitet von Fabian und Tom, im Snow-n-Sand ein, was ihr noch fehlte, erstellte eine Liste mit allen wichtigen Daten und Adressen, die sie oder die Zuhausebleibenden im Notfall benötigten, regelte ihre Stellvertretung am Arbeitsplatz, erkundigte sich bei Zangger, ob er für seine Schottlandreise gerüstet sei, und drang darauf, dass er auch wirklich gehe, packte schliesslich ihre Siebensachen, verabschiedete sich von den Nachbarn und liess sich von Zangger und den Kindern zum Flughafen fahren. Am Flughafen herrschte eine befangene Stimmung. Zangger spürte genau, dass er der Befangene war, nicht Tina. Er brachte es einfach nicht fertig, ihr ohne Groll Adieu zu sagen. Er nahm es sich selbst übel, dass er nicht souveräner reagieren konnte. Dass sie ihn mehrere Wochen allein liess, ihn allein auf Schottlandreise schickte, störte ihn nicht. Allein zu sein oder allein zu reisen, war für ihn noch nie ein Problem gewesen. Nein, ihn störte bloss der kleinliche Gedanke, dass Tina ihn mit einer Afrikareise, auch wenn es eine berufliche war, im Grunde genommen ein bisschen betrog.

Sie umarmten sich, scheinbar wie immer. Aber etwas war anders. Tina drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Nach einigen Augenblicken löste sie sich von ihm und sagte abrupt: «Nun gut, ich muss. Machs gut.» Vor der Passkontrolle drehte sie sich noch einmal um. Zangger war es, sie warte auf etwas. Ihre Augen flogen von ihm zu den vier erwachsenen Kindern, dann noch einmal zu ihm. «Pass auf dich auf», flüsterte sie. Zangger kamen die Tränen. «Du auch», sagte er. Aber mehr brachte er nicht hervor.

Was bin ich für ein Klotz, warf er sich später vor.

«Ein Schmock bist du, jawohl!», sagte Seidenbast. «Du hast sie mit schlechtem Gewissen abfliegen lassen. Wie konntest du nur! Das musst du wieder gutmachen. Aber sag, wie gehts jetzt weiter? Hast du Nachrichten von ihr?»

«Nein, nichts», sagte Zangger. «Nur ein SMS an Tom, nach der Landung in Maputo. Und seither zwei, drei weitere, dass alles in Ordnung sei.»

«An Tom?», Seidenbast runzelte die Stirn.

«Ich habe kein Handy, das solltest du doch wissen.»

«Ach ja, stimmt, du lebst ja noch weiter hinter dem Mond als ich. Dann habt ihr also keinen Kontakt?», fragte er besorgt. «Und wenn etwas passiert?»

Tina hatte ein Blatt mit allen Kontakten ausgedruckt, unter denen sie zu erreichen war. Das Schweizer Konsulat in Pretoria und die E-Mail-Adresse von Worldwide Women’s Net in Johannesburg standen darauf. Tina hatte aber nicht gewusst, ob sie in Maputo Internetanschluss hatte, und Tom hatte sie darauf vorbereitet, dass sie in Mosambik möglicherweise nur am Flughafen oder überhaupt keinen Handyempfang habe. Sie hatte versprochen, sich zu melden und wenigstens ihre Telefon- und Faxnummer zu übermitteln, sobald sie eingerichtet sei. Als Kontaktnummer in der Schweiz hatte Tina Seidenbasts Geschäft vorgeschlagen, da weder zuhause noch in Zanggers Praxis ein Faxgerät stand.

«Ist noch kein Fax gekommen?», fragte Zangger.

«Nein», sagte Seidenbast. «Sonst hätte ich dir das gleich gesagt. Aber ich melde mich sofort, wenn einer eintrifft.»

«Gut, danke. Und jetzt bist du an der Reihe», sagte Zangger. «Wie geht’s dir? Stimmt etwas nicht?»

«Warte, ich will noch etwas wissen», wich Seidenbast aus. «Fährst du jetzt nach Schottland oder nicht?»

Er fahre, gab Zangger zur Antwort. Grosse Lust verspüre er zwar nicht, aber er habe es Tina versprochen. Nur reise er nicht schon am kommenden Wochenende, wie ursprünglich vorgesehen, sondern etwas später. Den Laden, und damit meinte er seine Praxis samt der Schule für Psychotherapie im Götterquartier, mache er ab sofort dicht. Patienten und Studenten seien über die geplante Sommerpause informiert, das wolle er nicht widerrufen.

«Also vorerst mal zuhause entspannen, ja?»

Zangger nickte. Aber jetzt wollte er wissen, wie es seinem Freund ging. Dieser stand auf, holte die duftende Baguette, tischte den mittlerweile weich gewordenen Käse auf und entkorkte den Veuve Clicquot. Er füllte die Gläser.

«Prosit», sagte Zangger. «Also?»

«Ahh!», machte Seidenbast und setzte sein Glas ab. «Nicht viel Neues», sagte er dann. «Mir geht’s gut.»

Nicht viel Neues?, dachte Zangger. Das klingt nach etwas Neuem.

«Und was ist das Neue?», hakte er nach.

«Ein Angestellter. IT-Fachmann, cleverer junger Typ. Der möbelt mir mein Geschäft auf. Computermässig, weisst du», berichtete Seidenbast leichthin.

Cleverer junger Typ? Zangger wurde hellhörig. Habe ich dem den versalzenen Palatschinken zu verdanken?

«Was ist es für einer?», fragte er arglos.

«Wie gesagt, ein cleverer Typ. In Sachen Computer Spitze, soweit ich das beurteilen kann. Mit einer kreativen Ader, das passt mir natürlich. Er wird mir eine Website aufbauen …», und wie Zangger es geahnt hatte, geriet Seidenbast ins Schwärmen. So kannte er seinen Freund von früher: ein hemmungsloser Schwärmer, wenn es um einen jungen Mann ging, der ihm gefiel. Um einen potenziellen Lover. Zangger machte die Probe aufs Exempel. Er stellte seine Schlüsselfragen, wie er und Tina es früher jeweils getan hatten, wenn sie herausfinden wollten, wie weit Seidenbasts Begeisterung ging. Nur wenn Seidenbast alle Fragen bejahte, hatte ein junger Mann bei ihm eine Chance. Wenn er aber alle bejahte, dann war es um ihn, um Seidenbast, früher oder später geschehen.

Dass er ein cleverer Typ war, wisse er schon. Ob er auch gebildet sei, wollte Zangger wissen. – Und ob!, schwärmte Seidenbast. Ehemaliger Klosterschüler. Und zwar einer, der nicht nur Mann und Musil lese, sondern auch Rimbaud, Proust und Byron. Einer, der heimlich Oscar Wilde verschlinge. – Donnerwetter. Und wie es sonst mit Sprachen stehe? – Latein. Er rezitiere Hexameter, dichte sogar selber welche, schüttle sie auf Deutsch aus dem Ärmel, es sei unglaublich. Englisch könne er sowieso, Französisch auch, Italienisch, Spanisch und, und, und, alles fliessend. – Beeindruckend, fand Zangger. Ob er denn auch Charme habe? – Das könne man wohl sagen, meinte Seidenbast. Einer, der sogar Frau Preisig um den Finger wickle. – Das wolle etwas heissen, meinte Zangger. Jung? – Nun ja, das sei relativ. Noch keine dreissig. – Aha. Gut aussehend? – Umwerfend sehe er aus! – Zangger kannte den Code: Umwerfend, das hiess ein eher männlicher Typ. Einem androgynen Schönen attestierte Seidenbast gewöhnlich, bildhübsch oder ein Adonis zu sein.

Zangger wusste genug. Es war nach seiner Einschätzung nur noch eine Frage der Zeit, bis Seidenbast vollends Feuer fing. Das freute ihn, er hatte schon lange darauf gehofft. Nun musste er bloss noch die Zusatzfrage stellen.

«Ist er schwul?»

«Was soll das? Er ist mein Mitarbeiter. Das hat doch …»

«Ich weiss, ich weiss. Ich frag ja nur. Sag schon», drängte Zangger mit gespielter Neugier, «ist er schwul? Tu nicht, als ob es dich nicht interessieren würde.»

«Hätte ich ihn fragen sollen? Etwa im Bewerbungsgespräch?», lachte Seidenbast. Dann, als ob er darüber nachdenken würde: «Ach. Ich weiss nicht. Vielleicht. Das heisst nein. Eher nicht.»

Das könnte schwierig werden, dachte Zangger.

«Schade, nicht wahr?», grinste er.

«Wieso? Ich bin doch kein Chauvinist. Homo oder hetero, Hauptsache, er macht seinen Job gut. Und er macht ihn sehr gut, sage ich dir. Ich kann es mir schon gar nicht mehr ohne ihn vorstellen.»

Eben, dachte Zangger. Es gab ihm einen Stich, denn für einen Augenblick verspürte er den Wunsch, nach Hause zu fahren und Tina die Neuigkeiten brühwarm aufzutischen. So wie früher.

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