Kitabı oku: «Der Seelenwexler», sayfa 4
6.
«Ich muss dir etwas sagen», sagte Tina beim Abendessen.
«Ja?», machte Zangger und legte seine Gabel auf den Teller.
«Es ist nicht sicher, ob ich mit dir nach Schottland komme.»
«Wie bitte?», brachte er nur heraus.
«Es tut mir leid, Luc», sagte sie und hob entschuldigend die Hände. «Wir müssen vielleicht umdisponieren. Das kommt jetzt bestimmt unerwartet: Afrika statt Schottland.»
«Afrika?!»
Er hatte immer eine Afrikareise machen wollen, Tina hatte auf Schottland bestanden. «Ist das dein Ernst?», rief er. Sein Herz tat einen Freudensprung. «Das mit dem Umdisponieren wird aber nicht ganz einfach sein», wandte er ein. «Wir müssen die ganze Planung von vorne beginnen.»
«Nicht wir», erwiderte Tina. «Ich. Ich fliege, so wie es aussieht, nach Afrika. Nicht mit dir, tut mir leid. Allein. Und es ist keine Ferienreise», sagte sie. «Es ist ein Notfall.»
Zangger konnte es kaum fassen.
Der Tag hatte angefangen wie jeder andere. Tina hatte ihren Ausschlafmorgen und war liegen geblieben. Zangger hatte mit Tom gefrühstückt. Dann war er in seine Praxis gefahren. Vormittags hatte er Sprechstunde gehabt. Um acht war ein neuer Patient gekommen, ein Rechtsanwalt mit Panikattacken. Um neun war Frau Zindel an der Reihe gewesen.
Frau Zindel hatte sich darüber beklagt, dass man ihre Wohnung wieder durchsucht habe: Die Zahnpasta sei andersherum im Glas gestanden, das habe sie sofort gemerkt. Man sei ins Zimmer ihres verstorbenen Manns eingedrungen. Dort ständen alle Sachen seit seinem Tod, seit zwölf Jahren also, am gleichen Platz, und niemand ausser sie selber dürfe das Zimmer betreten. Aber was habe sie feststellen müssen? Auf dem Kissen auf seiner Couch hätten Haare gelegen. Frau Zindel öffnete ihre Handtasche, zog einen Briefumschlag heraus, entnahm diesem ein unsichtbares Etwas, platzierte es auf ihrer Handfläche und streckte Zangger die Hand entgegen. Er musste sich vorbeugen. Auf Frau Zindels Hand entdeckte er ein graues Haar. Frau Zindel war eine früh ergraute Witwe.
Ob das Haare seien oder nicht, wollte Frau Zindel wissen.
Zangger bestätigte, dass er ein Haar auf ihrer Hand sehe.
Eben, antworte Frau Zindel, da habe er den Beweis dafür, dass sich jemand auf die Couch gelegt habe. Aber da sei noch etwas: Jemand habe Treuemarken in ihr Markenheft eingeklebt.
Was daran schlimm sei, wollte Zangger wissen.
Verkehrt eingeklebt, ereiferte sich Frau Zindel. Coop-Marken ins Treuebüchlein der Drogerie! Und noch etwas: Die Säume ihrer Vorhänge lägen drei Zentimeter höher als zuvor. Ihre Vorhänge hätten bis zum Fenstersims gereicht, jetzt habe es zwischen Sims und Saum eine Lücke. Die sei früher nicht gewesen. Die Vorhänge seien eingegangen, wie übrigens auch ihr beiges Wolljäckchen. Jemand habe die Sachen in ihrer Abwesenheit gewaschen. Kaputtgewaschen, präzisierte sie. Aber das sei noch nicht alles: Es habe Kratzer auf dem Küchentisch.
Zangger schickte sich an, etwas zu sagen.
Nein, keine alten Kratzer, kam ihm Frau Zindel zuvor. Sie könne sie sehr wohl von den Kratzern unterscheiden, die von ihrer Arbeit am Küchentisch herrührten. Es seien frische Kratzer und sie seien absichtlich gemacht worden. Mit einer Nagelfeile oder vielleicht mit einer Nagelschere. Gestern oder vorgestern Nacht, als sie schlief. Ob er jetzt sage, sie habe Wahrnehmungsstörungen, wie ihr letzter Psychiater.
Nein, sagte Zangger, nicht Wahrnehmungsstörungen.
Gut, dann solle er das bitte der Polizei sagen. Als sie gestern nämlich Anzeige habe erstatten wollen, habe man ihr gesagt, sie solle besser einen Psychiater aufsuchen.
Zangger sagte, er nehme an, sie habe völlig zutreffende Beobachtungen gemacht. Nur glaube er, dass es dafür andere Erklärungen gebe.
Er glaube ihr also nicht, fragte Frau Zindel ärgerlich. Dann habe sie auch kein Vertrauen mehr, sagte sie, raffte ihre Sachen zusammen und stand von ihrem Sessel auf.
Zangger lud sie ein, wieder Platz zu nehmen. Er könne sich einfach nicht vorstellen, setzte er ihr auseinander, dass jemand sie auf diese Weise plagen wolle. Sie sei doch ein friedfertiger und liebenswürdiger Mensch. Das verstehe sie eben auch nicht, sagte sie kopfschüttelnd. Ihre aggressive Stimmung war nicht mehr spürbar. Dass sie sich gestresst fühle, könne er gut verstehen, sagte Zangger weiter. Diese Dinge würden ihre Nerven natürlich arg strapazieren. Allerdings, bestätigte Frau Zindel, aber er solle ihr ja nicht wieder mit seinen Medikamenten kommen. Sie habe sein Rezept zwar in der Apotheke eingelöst, aber schlucken werde sie die Pillen nicht.
Zangger war sich ziemlich sicher, dass der Frau mit dem verschriebenen Neuroleptikum zu helfen wäre. Aber für heute war sein Versuch, Frau Zindel doch noch zur Einnahme dieser Pillen zu bewegen, von der Patientin selber im Keim erstickt worden. In anderen Fällen war er auch schon resoluter vorgegangen. Doch Frau Zindel war kein Notfall, es gab keinen Grund, sie zu einer medikamentösen Behandlung zu zwingen. Was Zangger an ihren Wahnideen faszinierte, war deren Kleinkariertheit. Andere Kranke wähnten, von der Mafia verfolgt zu werden. Bildeten sich ein, von adligem Geblüt zu sein. Waren überzeugt, man bestrahle sie mit geheimen, vom CIA installierten, extra zu ihrer Vernichtung konstruierten Geräten. Oder man höre ihre Gedanken ab, um sie via CNN aller Welt bekannt zu machen. Frau Zindels Wahnideen dagegen drehten sich um Zahnpastatuben, Rabattmarken und Vorhangsäume. Ihr Wahn spiegelte ein von Bescheidenheit und Kargheit geprägtes Selbst- und Weltbild. Zangger dachte, für heute hätten sie genug über Probleme gesprochen.
«Wie gehts Ihren Vögeln?», erkundigte er sich.
Frau Zindels Augen begannen zu leuchten. Sie hielt in ihrer Wohnung zwei Nymphensittiche. Ihr Ein und Alles, denn mit Menschen pflegte sie keinen Kontakt.
Zangger liebte es, sich von Patienten über Dinge aufklären zu lassen, von denen er nichts verstand. Alles, was er über Nymphensittiche wusste, hatte er von Frau Zindel erfahren.
Um zehn war eine depressive Lehrerin an der Reihe und um elf ein Familienvater mit Alkoholproblemen. Nachmittags bereitete Zangger das Burnout-Seminar vor, das letzte, das er noch vor der Sommerpause halten würde, und um fünf schlug er sich mit dem Ehepaar Knüttl herum. Zur Erholung schaute er nach der abendlichen Sprechstunde bei Seidenbast herein, der seinen Laden bereits geschlossen hatte und zuhause war.
«Siehst du?», sagte Seidenbast ruhig, nur seine Augen blickten triumphierend. «Ich habs gewusst. Monsieur bereitet seinen Absprung vor.»
Frau Knüttl hatte in der Sitzung gesagt, ihr Mann habe ihr die Geschichte von einem Mann erzählt, der nur rasch Zigaretten holen ging, aber von seinem Gang zum Kiosk, gleich um die Ecke, nie mehr zurückkam. Mit bösem Unterton habe er gesagt, so etwas könnte ihr auch passieren. Sie habe das als Drohung aufgefasst.
«Bitte sei ehrlich, Liebling», hatte Herr Knüttl gesäuselt. «Sag Herrn Zangger, wie es wirklich war. Ich hatte nämlich überhaupt keinen bösen Unterton. Und auch keine Drohung ausgesprochen. Sondern was? Sag!»
Frau Knüttl starrte ihn wortlos an. Herr Knüttl musste es selbst richtigstellen: «Ich habe dir eine lustige Geschichte erzählt, die ich in Reader’s Digest gelesen hatte. Von einem, der nur rasch Zigaretten holen ging. Ich war ganz einfach amüsiert. So war das. Und meine Bemerkung zum Schluss, das war doch nur ein Scherz gewesen.»
«Aber ein schlechter», sagte Zangger.
Herr Knüttl liess sich bloss verächtlich über das Theater aus, das seine Frau und Doktor Zangger wegen einer harmlosen Bemerkung veranstalteten. Das Paargespräch war einmal mehr ergebnislos geblieben.
«Er schüchtert seine Frau ein», meinte Seidenbast. «Und kann jederzeit behaupten, er habe es gar nicht so gemeint. Wenn er aber abhaut, soll ihm niemand vorwerfen können, er habe sie nicht gewarnt. Er ist eine ganz fiese Figur.»
Es tat Zangger gut, seinen Freund so unverfroren urteilen zu hören.
«Und was ist mit deinem famosen jungen Patienten?», fragte Seidenbast. «John, sagtest du? Der mit der schweren Kindheit.»
«Er ist ein Schwindler», sagte Zangger.
«Aber, Lukas», sagte Seidenbast, gespielt vorwurfsvoll. «So spricht ein Psychiater doch nicht über einen Patienten.»
«Hat er selbst gesagt.»
«Ach ja? Dann hatte ich also recht?»
«Ich weiss nicht, ob er mich an der Nase herumführen will», erwiderte Zangger. «Wenn, dann habe ich ihm den Spass vielleicht ein bisschen verdorben.»
«Dann ist es ja gut», meinte Seidenbast.
Zangger trank sein Gläschen aus und fuhr nach Hause. Und beim Nachtessen eröffnete ihm Tina, dass sie möglicherweise nicht mit nach Schottland komme. Sondern nach Afrika fliege. Nach Afrika! Es sei aber keine Ferienreise. Sondern ein Notfall.
«Ein Notfall?», fragte Zangger.
Tina arbeitete in einem Büro für Unternehmensberatung, dessen Klientel aus Nonprofit-Organisationen bestand. Sie war für das Worldwide Women’s Net zuständig, das unter anderem in Mosambik ein Schlupfhaus finanzierte. Im Haus für junge Mädchen in Maputo kriselte es gewaltig, und man hatte ihr Büro nach einer Expertin gefragt, die an Ort und Stelle Unterstützung bieten könne. Es sei dringend, denn es bestehe Gefahr, dass die Spendengelder versiegen würden. Ohne lange zu überlegen, hatte sich Tina selbst für die Mission angeboten. In ihrem früheren Job hatte sie schon vergleichbare Aufgaben übernommen. Krisenintervention in einer Schulklasse mit gewalttätigen Knaben oder Mädchen. Teamsupervision nach einem grösseren Krach in der Leitung eines Lehrlingsheims und solche Dinge. Abgesehen von der Studentenreise nach Marokko, auf der sie Lukas Zangger kennen gelernt hatte, war sie noch nie in Afrika gewesen, aber alles in allem traute sie sich die Sache zu.
«Hast du schon zugesagt?», wollte Zangger wissen.
«Nein. Aber ich glaube, ich sollte.» Dann sah sie ihm ins Gesicht und fragte: «Sag ehrlich, wäre das schlimm für dich?»
«Nicht, wenn du mich mitnimmst», lachte er. «Dann wären wir endlich zusammen auf Afrikareise.»
«Das geht leider nicht. Aber glaub mir, Luc, es hat nichts mit dir zu tun, wenn ich allein reise. Das ist Frauensache.»
Afrika Frauensache? Das gibts doch nicht!, dachte Zangger. Seine Stimmung sackte augenblicklich in den Keller. Das passierte ihm in der letzten Zeit öfter, als ihm lieb war.
«Frauensache!», sagte er ärgerlich. «Mach mir doch nichts vor, Tina. Du steckst in einer Krise, das ist es. Du rennst vor irgendetwas weg. Vor mir vielleicht?», versuchte er zu witzeln. Aber er konnte die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen.
«Du steckst in einer Krise, Luc», sagte Tina. Zangger spürte, dass sie ihm keine Retourkutsche schicken wollte. Sondern dass sie sich Sorgen machte. «Dir gehts nicht gut in letzter Zeit. Das merke ich doch. Du bist gereizt, so kenne ich dich nicht. Du reagierst verärgert oder gekränkt. So wie jetzt gerade», stellte sie fest. Dann sagte sie ruhig: «Um ganz ehrlich zu sein, Luc: Ich hatte in der letzten Zeit nicht den Eindruck, dass dir meine Gesellschaft sehr viel bedeutet. Da dachte ich, es komme dir vielleicht ganz gelegen, wenn du ohne mich nach Schottland reisen könntest. Wäre ja nicht das erste Mal, dass du allein in deinem Camper unterwegs bist.» Dann meinte sie in versöhnlichem Ton: «Aber wenn es dir gar nicht passt, Luc, dann lehne ich den Auftrag natürlich ab.»
Na, wunderbar, dachte Zangger, jetzt liegt der Ball wieder bei mir. Natürlich wollte er sich nicht vorwerfen lassen, Tina im Weg zu stehen. Er wusste genau, dass sie diese berufliche Herausforderung gern annehmen würde. Sie hatte oft genug gesagt, der Trott im Büro öde sie allmählich an. Und vielleicht hatte sie ja recht: Vielleicht täte es ihm ganz gut, wieder einmal im Alleingang zu reisen. Er schluckte seinen Groll hinunter und machte gute Miene zum bösen Spiel.
«Es stimmt nicht, Tina», stellte er halbherzig richtig, «dass ich lieber allein reisen würde. Aber mir ist klar, dass der Auftrag dich reizt. Ich finde, du solltest ihn annehmen. Nimm ihn an, Tina», doppelte er nach, um jeden Zweifel auszuräumen. «Geh nach Maputo!»
«Gut, Luc», sagte sie und strich mit dem Handrücken über seine Wange. «Ich gebe dir morgen Bescheid, ob ich nach Afrika fliege.»
Obschon er in jener Nacht nicht besonders gut schlief, fühlte sich Zangger am Morgen wieder einigermassen im Lot. Er stand kaum je schlecht gelaunt auf. Wenn seine Stimmung in letzter Zeit absackte, dann geschah es irgendwann im Verlauf des Tages. Er stand vor dem Spiegel im Badezimmer und seifte sich mit dem Dachshaarpinsel das Gesicht ein. Das morgendliche Rasierritual war ihm noch nie lästig geworden, im Gegenteil, er genoss es.
«Heute Abend reden wir weiter, ja?», sagte Tina, bevor sie das Haus verliess.
«Ist gut», sagte Zangger, die Klinge in der Hand. Und liess nonchalant die Bemerkung fallen: «Was immer du entscheidest, ich bin damit einverstanden.»
Abends kam Tina aufgeräumt nach Hause und verkündete, die Würfel seien gefallen: Sie fliege nach Maputo.
Zangger stand in der Küche. Er hatte ein kleines Abendessen zubereitet. «Dann müssen wir jetzt schauen, wie wir in den nächsten drei Wochen alles auf die Reihe kriegen», meinte er.
Tina war eben daran, den Küchentisch zu decken. «Es dauert keine drei Wochen mehr, Luc», sagte sie und drehte sich nach ihm um. «Du fährst in drei Wochen. Ich fliege am Sonntag.»
«Was?», rief Zangger.
«Ich sagte doch: Es ist ein Notfall. Die vom WWN bestehen darauf, dass sofort jemand hingeht. Ich musste zusagen oder die Sache fahren lassen.»
«Und für wie lange, wenn ich fragen darf?»
«Das weiss ich noch nicht», erwiderte Tina. «Vielleicht nur zwei, drei Wochen. Vielleicht genügt ein Coaching. Dann bin ich zurück, wenn du nach Schottland fährst.»
«Ich weiss gar nicht, ob ich nach Schottland fahre», brummte Zangger gekränkt.
«Ach, Luc. Jetzt mach kein Theater. Du fährst nach Schottland, es ist schliesslich alles vorbereitet. Der Camper steht bereit, die Fähre ist gebucht, deine Patienten sind informiert, du hast es doch selber gesagt. Du brauchst diese Auszeit. Dringend, das sehe ich doch.»
Zangger hatte einen schwierigen Tag hinter sich. Fast hätte er zu flennen begonnen, so wohl tat ihm Tinas fürsorglicher Ton. Aber die Regung war von kurzer Dauer.
«Es kann auch länger dauern», sagte Tina nämlich. «Ein, zwei Monate, wenn ich ad interim die Leitung des Hauses übernehmen muss. Oder noch länger. So oder so, auch wenn ich in drei Wochen zurück bin, muss ich mich für einen weiteren Einsatz bereithalten. Es ist ein Mandat auf drei Monate.»
«Wie bitte? Du hast dich für drei Monate verpflichtet?» Zangger konnte es nicht fassen.
«Ja, Luc. Ich musste.»
«Na, wunderbar.» Jetzt konnte er nicht mehr verhehlen, wie gekränkt er war. «Du meldest dich für ein Vierteljahr ab, ohne dich mit mir abzusprechen.»
«Entschuldige, aber du sagtest doch, du seist mit allem einverstanden, was ich entscheide. Und dass sich ein solcher Auftrag nicht im Handumdrehen erledigen lässt, das dürfte dir doch klar sein. Aber du hast trotzdem recht», räumte sie ein. «Ich hätte noch einmal mit dir reden sollen, bevor ich definitiv zusagte.»
«Schon gut», sagte Zangger. «Jetzt ist es, wie es ist.»
In den paar wenigen Tagen bis zu Tinas Abreise bemühte er sich so gut es ging, seinen heimlichen Groll zu verbergen. Da wehrt sie sich seit Jahren dagegen, mit mir auf Afrikareise zu gehen, dachte er immer und immer wieder. Und entscheidet sich dann von einem Tag auf den andern, in Mosambik ein Mandat anzunehmen, das gut und gern drei Monate dauern könnte. Drei Monate in Mosambik! Und das ohne mich. Mich lässt sie stattdessen nach Schottland reisen. Nach Schottland!
7.
Der neue Job gefiel Phil gar nicht schlecht. Er gefiel ihm sogar ausgesprochen gut. Er war bloss im Stundenlohn angestellt, und das kam ihm sehr entgegen. So konnte er vormittags nach wie vor bei MacMax aushelfen. Nachmittags arbeitete er dann ein paar Stunden im Seefeld. Was er hier zu tun hatte, war für ihn ein Kinderspiel und, da er dabei die meiste Zeit am Computer sass, ganz nach seinem Gusto. Nach ein paar Tagen hatte er gesehen, wie der Laden lief. Seine Aufgabe wäre es eigentlich gewesen, ein System für das Katalogisieren der antiquarischen Bücher zu erstellen. Er hatte bereits eine entsprechende Software heruntergeladen. Gratis, oder besser gesagt illegal. Natürlich verriet er das seinem Boss nicht, er sagte bloss, die Software sei sehr günstig zu haben. Aber das Katalogisieren musste jetzt warten.
«Wie heisst Ihre Domain?», fragte Phil den Inhaber am zweiten Tag.
«Habe ich nicht. Nur eine E-Mail-Adresse.»
«Wie bitte, Sie haben keine Website?», staunte er.
«Nein, wieso? Sollte ich?»
«Allerdings», lachte Phil und versprach, in den nächsten Wochen einen Entwurf vorzulegen.
Bald stellte sich heraus, dass in diesem Laden EDV-mässig auch sonst einiges im Argen lag: Das Rechnungs- und Zahlungssystem musste optimiert, die Logistik vereinfacht und beschleunigt, die Buchhaltung auf Vordermann gebracht werden. Die gesamte Software war ziemlich veraltet. Und in Seidenbasts Geschäft standen vier verschiedene Computer, die vernetzt werden mussten. Der Patron war heilfroh, dass er sich um diese Dinge nicht mehr kümmern musste. So kam es, dass sich Phil in Buch&Wein schon nach kürzester Zeit absolut unentbehrlich machte.
Es blieb ihm nicht verborgen, dass ihn Frau Preisig, die von früh bis spät im Geschäft herumgeisterte, in der ersten Zeit argwöhnisch beobachtete. Er grüsste sie deshalb stets, wenn er zur Arbeit kam – wenn sie nicht im Laden stand, spürte er sie im Bücherlager, im Weinkeller oder in der kleinen Teeküche auf –, bedachte sie, wenn es sich ergab, mit einer Freundlichkeit und bemühte sich im Übrigen konsequent, ihr nicht in die Quere zu kommen. Nachdem sie einmal begriffen hatte, dass er ihr nicht ins Handwerk pfuschte – sie war ja ausschliesslich für die Hardware zuständig –, gab sie ihre Vorbehalte offenbar auf.
«Ein charmanter junger Mann, Herr Seidenbast», hörte er sie eines Tages flüstern.
«Wer?»
«Ihre Bürokraft.»
«Ach so. Ja, nicht wahr?»
Bürokraft ist gut, dachte Phil.
Das Vorstellungsgespräch, zu dem er auf seine telefonische Bewerbung hin eingeladen worden war, hätte in der Tat nicht besser verlaufen können.
«Sie studieren Informatik», hatte sein zukünftiger Chef konstatiert. «Gut, sehr gut. Haben Sie auch praktische Erfahrung?»
«Nun», erwiderte Phil, «nach der Matura machte ich eine Banklehre. Ich will nicht behaupten, ich sei ein IT-Experte, aber ich bin ein ziemlich sicherer Anwender.» Dass er ein ziemlich durchtriebener Anwender war, der sich in fremde Computer hackte, das behielt er wohlweislich für sich. «Und ich fabriziere Websites für Freunde und Bekannte.»
«Sehr gut. Das dürfte für meine Bedürfnisse bei weitem genügen. Aber sagen Sie, verstehen Sie auch ein bisschen etwas von Wein?»
«Nur, was man mir im Duc de Rohan beibrachte.»
«Im Duc de Rohan?», wiederholte Seidenbast verblüfft. «In Chur?»
«Ja. War aber nur ein kurzer Stage. Drei, vier Monate, in den Semesterferien.»
In Tat und Wahrheit hatte der Stage drei, vier Wochen gedauert. Und hatte in den Schul-, nicht in den Semesterferien stattgefunden. Nicht im Duc de Rohan, sondern in einem Bergrestaurant im Skigebiet von Obersaxen. Damit liess sich freilich kein Staat machen, das Weinangebot hatte aus Veltliner in der Liter- und Zweideziliterflasche bestanden. Und seine Arbeit im Pfannenwaschen.
«Und später auf dem Bürgenstock.»
«Oh lala! Als Sommelier?»
«Nein, nur als Kellner. Hilfskellner, um ehrlich zu sein. Aber ich spitzte die Ohren, wann immer ich in der Nähe des Sommeliers war», lachte Phil.
Dem Sommelier auf dem Bürgenstock hatte er tatsächlich immer gut zugehört, wenn sich Herr Zulauf zum Lunch eine Flasche Wein bestellte. Jeder einzelne seiner Kommentare war in seinem Gedächtnis eingraviert. Er war sich schon damals sicher gewesen, dass er die Weinsprache einmal werde brauchen können.
«Gut, dann darf ich Ihnen eine Quizfrage stellen», schmunzelte sein zukünftiger Chef. «Was würden Sie zu einem Tournedos Rossini empfehlen: einen Barbera, eine Assemblage aus dem Burgenland oder einen Malbec?»
Seine Sprachimitationsspielchen hatten den Klosterschüler gelehrt, dass er über eine besondere Art von Gedächtnis verfügte. Er wusste, dass es Leute mit fotografischem Gedächtnis gab. Er hatte kein fotografisches, er hatte ein tonträgerartiges Gedächtnis: Was er einmal gehört hatte, das konnte er – vorausgesetzt, es interessierte oder beeindruckte ihn – jederzeit eins zu eins wiedergeben. Als Schüler hatte er jede Menge Bücher verschlungen, aber Gelesenes blieb ihm nicht besser in Erinnerung als andern. Gehörtes jedoch konnte er mit fast untrüglicher Sicherheit abrufen. Seine guten Noten verdankte der Klosterschüler Gion-Gieri Caduff weniger einem besonders tiefen Verständnis der Dinge als dem Umstand, dass es den meisten Lehrern gefiel, wenn sie zitiert wurden. Und Lehrer zitieren, das konnte er. Es hatte damit begonnen, dass er der Kindergartentante ein rätoromanisches Verschen nachplapperte oder als Erstklässler ein Lied trällerte, kaum hatte er es ein-, zweimal gehört. Gedichte, Reden und andere gehörte Texte konnte er auswendig hersagen wie kein anderer. Und zwar in allen möglichen Sprachen, von Deutsch über Latein bis zu Englisch und Spanisch. Mathematische, physikalische und chemische Formeln brauchte er nicht zu verstehen oder herzuleiten, er konnte sie, einmal gehört, einem Lied gleich rezitieren und mit etwas Glück meistens richtig anwenden. Den Sechser in der Geografie-Matura holte er sich, weil beim Stichwort Eiszeit in seinem inneren Ohr «Günz-Mindel-Riss-und-Würm» erklang, wie ein alter Schlager, mit allen zeitlichen und örtlichen Attributen.
«Weder Barbera noch Malbec», antwortete der innere Sommelier. «Zu viel Frucht. Den Barbera würde ich zu einem Primo empfehlen, einer feinen Pasta vielleicht, wieso nicht mit einem Hauch von weissem Trüffel. Albatrüffel, natürlich. Der Malbec passt gut zu einer Grillade, aber nicht unbedingt zu einem klassischen Tournedos Rossini. Die Foie gras braucht einen Widerpart. Dann schon lieber den Roten aus dem Burgenland, wenns kein Bordeaux sein soll.»
«Alle Achtung», staunte der Weinhändler und Feinschmecker. «Und was können Sie mit Büchern anfangen?», fragte er beiläufig. «Lesen Sie?»
Phil ahnte, dass das der entscheidende Test war.
«Belletristik, zum Beispiel. Notfalls müssten Sie vielleicht auch mal im Buchladen aushelfen.»
«Da bin ich leider etwas einseitig gebildet.»
«In welcher Richtung?»
«Ehemaliger Klosterschüler, wissen Sie», sagte Phil. Der Buchhändler hob überrascht den Blick und musterte ihn aufmerksam. «Etwas gar vergangenheitsorientiert. Klassische Literatur eben. Frisch war in etwa der Modernste. Und sonst: Goethe, den Faust natürlich, Werther, Wahlverwandtschaften. Keller. Meyer, Jürg Jenatsch. Thomas Mann, der Zauberberg. Der hatte für uns ja fast Lokalkolorit.» Den Zauberberg hatte er natürlich gelesen. Noch viel besser gefallen hatten ihm freilich die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. «Tod in Venedig, und und und», fuhr er fort, um noch etwas Zeit zu schinden. Er hatte plötzlich ein Gespür dafür, welche Autoren er erwähnen musste. «Musil. Oder meinen Sie englische und französische Literatur? Rimbaud. Proust. Byron. Oscar Wilde war natürlich verboten. Der stand bei uns auf dem Index. Den musste ich mir heimlich zu Gemüte führen.» Das hatte er nicht einmal erfinden müssen, es stimmte Wort für Wort. Ein Mitschüler hatte ihm gesteckt, dass die Bücher von Oscar Wilde obszön seien, da hatte er natürlich eines lesen müssen. Phil deutete zum Schaufenster hinüber. Dort lag, auf einem kleinen Podest aus der Fülle der übrigen Bücher hervorgehoben, ein abgegriffener, in Leder gebundener Dorian Gray. Er hatte sich am Vortag die Auslagen des Antiquariats angesehen und zur Sicherheit auf Wikipedia sein Wissen etwas aufgefrischt. «Wunderschönes Exemplar», murmelte er respektvoll. «Neunzehnhundertzehn? Oder fünfzehn?»
«Neunzehnhundertzwanzig», hatte Seidenbast geantwortet und ihn nachdenklich angesehen. «Wann können Sie denn anfangen, Herr Wexler?»