Kitabı oku: «Bittere Erdbeeren», sayfa 3

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AUẞENWELT

Die Mutter stand an der Wohnungstür. Sie erwartete Gäste. Das kam eher selten vor, nur zu besonderen Anlässen. Heute war ihr Geburtstag. Herausgeputzt und betörend schön war sie. Die Schwestern liebten sie dann besonders. Schauten verstohlen auf diese attraktive Frau, von der viele sagten, dass sie eine Mischung aus Elizabeth Taylor und Sophia Loren sei. Die Kinder kannten beide nicht.

Sie hatte ein neues Kleid an mit großen bunten Blumen darauf. Ganz eng in der Taille und glockig weit um Hüften und Beine. Es sah so hübsch aus! Ihre strahlend grünen Augen zu den schwarzen Haaren, war umwerfend. Der Papa, ebenfalls groß und schlank, hatte zwar „Geheimratsecken“, wie die Mama zu sagen pflegte, aber ebenfalls schwarze Haare und blaue Augen. Es war ein Paar, was einfach sehr schön anzusehen war. Dann die blond gelockte Kathi mit ihren strahlend dunkelblauen Augen, Britta, ebenso blauäugig, nur mit sehr dunklem, langem Haar. Es war die perfekte Vorzeigefamilie.

Kathi stand etwas hinter Mutters Rockzipfel, atmete den Duft von Fenjala ein. In diesem Cremeölbad badetet die Mutter zu nicht alltäglichen Gelegenheiten. Sie schaute bewundernd zur Mama auf und sagte ihr, wie schön sie sei und wie herrlich sie dufte. Das stimmte die Mama besonders glücklich. Freundlich sagte sie: „Kinder, geht jetzt mal in Eure Zimmer und wartet dort.“

An der Tür läutete es und nacheinander traten die Gäste ein.

Tanten und Onkel, die sogenannten Nenntanten und Nennonkels, die Freunde der Eltern. Schön war es immer, weil sie Schokolade mitbrachten. Eine Tafel, die sich die Schwestern teilen mussten. Kathi und Britta träumten davon, einmal je eine Tafel ganz für sich allein zu haben.

Cousinen und Cousins und die Kinder der Freunde kamen. Oma und Opa brachten Rittersport für die Schwestern – jede eine Schokolade für sie allein mit! Die war zwar kleiner und quadratisch, die Sorte Trauben-Nuss, mit den Rosinen darin mochten sie nicht wirklich. Aber wichtig war, dass sie süß schmeckte, das war genug zum Freuen.

Ein großes Hallo und Durcheinander herrschte auf dem Flur.

Kathi und Britta durften nacheinander alle Erwachsenen mit Knicks begrüßen. Die Tanten drückten ihre feuchten Münder auf deren kleine, sich widerstrebenden Schnuten. Kathi wischte mit dem Handrücken ungeniert den Mund ab, weil sie sich ekelte. Normalerweise fing sie sich deshalb eine Ohrfeige von der Mutter ein, aber wenn Gäste da waren, hatte sie Glück! Das wusste und erleichterte sie. Alle gingen in das Wohnzimmer, wo ein großer Tisch für die Erwachsenen und ein kleiner, so genannter „Katzentisch“ mit Kinderstühlchen und Hockern drumherum aufgebaut waren.

Die Mutter kommandierte charmant, aber sehr bestimmt, wie jedes Mal, die Kinder ins Badezimmer zum Händewaschen. So musste, wie bei einer Polonaise, das hintere Kind dem vorderen auf die Schultern fassen und warten, bis nacheinander alle die Hände gewaschen hatten. Die Kinder bekamen „Kalte Schnauze“, Kathis Lieblingskuchen, aus Schoko und Leibniz-Keksen. Die Erwachsenen aßen Torte und Windbeutel.

Alles war friedlich und in Ordnung. In den Kinderzimmern wurde weitergespielt. Höhle bauen. Unter Stühlen und Tischen machte das besonders viel Spaß. Oder Versteckspielen. Auch wenn man die laute Stimme der Mutter oft durchdringend und am häufigsten hörte, waren die Schwestern sehr stolz auf ihre Mutter und wussten, sie hatten nichts zu befürchten. Das waren die Momente, in denen sich eine kleine Entspannung, Erleichterung und eine warme Welle der Freude in Kathi ausbreiten konnte.

In der engen Nachbarschaft jedoch war es häufig anders. Wenn jemand tuschelte, die Mutter komisch anschaute oder es gar wagte zu kritisieren, zum Beispiel, dass die Waschküche nicht sauber hinterlassen wurde. Da konnte sie ganz anders werden. Dann schämte Kathi sich. „Gucken Sie nicht so! Was gibt es da zu tuscheln?“ Lautstark schleuderte die Mutter die Worte wie Giftpfeile den Nachbarn zu. Kathi wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Die Nachbarn, Radlowskis direkt über ihnen im ersten Stock, wohnten noch nicht lange dort und hatten sich beschwert über zu lautes Lachen der Mutter. Kathi ahnte nichts Gutes… Ach, was würde sie darum geben, bei einer ihrer alten Damen zu sein, Frau Voigt oder Frau Schlichting. Oder die gemütliche füllige Frau Star. Einfach still dasitzen und einen Keks essen. Kathi versuchte sich dorthin zu träumen.

Sie war gerade eingeschlafen, das stand die Mutter plötzlich mitten in der Nacht vor ihrem Bett und weckte sie lautstark: „Kommt Kinder, Ihr dürft laut sein, macht Krach!“

Voller Rachegefühl und Wut, sang sie laut: „Lalalalala“ und klopfte mit dem Besenstiel an die Zimmerdecke.

Britta wollte in ihr Bett zurück, aber da kam sogleich: „Sei nicht mimosenhaft, schau deine kleine Schwester an, die macht toll mit!“

Und so war es. Kathi fand es super! Einmal wach, kann man ja mal so richtig Remmidemmi machen. Sie sang lauthals mit und kreischte wie die Mutter. Aber es klang anders. Sie kreischte die Scham, ihre Verzweiflung und ihre Trauer laut hinaus. Das tat einfach gut.

Am nächsten Tag ging sie, zum ersten Mal ohne ersichtlichen Grund zu Frau Voigt. Diese war erstaunt. Sagte aber nichts und ließ sie einfach hinein. „Möchtest du einen Kakao?“

Oh, was tat das gut! Diese stille und vornehme Frau war nun die zuvor erträumte Wohltat für sie. Ganz still saß Kathi am Tisch, trank ihren Kakao und biss in den runden De Beukelaer mit Schokolade zwischen den zwei Kekshälften. So oft wünschte Kathi sich, dass die Mutter wie Frau Voigt sei, damit sie immer stolz sein konnte. Dabei lästerte die Mutter gemein über Frau Voigt, wenn sie sie zum Geburtstag eingeladen hatte, wie steif und vornehm sie doch sei. Kathi verstand es nicht, dass die Mama mal so schön und verführerisch sein konnte, dass alle sie anhimmelten. Dann bekam sie alles, was sie wollte. Und plötzlich, warum auch immer, war sie hysterisch, warf Teller gegen den Papa, knallte Türen oder den Telefonhörer auf, schrie herum und zeigte sich komplett überfordern. Es war schwer, sich darauf einzustellen, es zu begreifen.

„Kinder, ich habe zur Versöhnung unsere Nachbarin Frau Radlowski und ihre Söhne zum Kaffee eingeladen. Macht Euch schön!“

Die Schwestern mussten ihre Sonntagskleider anziehen und die Frau, die die Mutter wegen der Kritik so abgrundtief hasste, die sie in der Nacht zuvor terrorisiert und die Kinder mit eingebunden hatte, sollte nun mit ihnen Kaffee trinken. Das fühlte sich für Kathi nicht richtig an. Dieses oft paradoxe Verhalten der Mutter.

Es klingelte und der erwachsene Sohn Jens stand vor der Tür. „Meine Mutter kommt gleich nach, mein Bruder kommt nicht.“, sagte er nur ziemlich kühl. Kathi bat ihn in das Wohnzimmer, die Mutter brühte den Kaffee in der Küche auf. Nun saß sie da mit ihm allein in ihrem hübschen weißen Kleidchen mit grünen Stachelbeeren darauf. „Du bist ja süß.“, schmunzelte er. Sie hatte ihn vorher noch nie gesehen, vielleicht einmal von Weitem. „Komm doch mal auf meinen Schoß!“

Kathi tat es. Sehr schnell hatte Jens seine Hand in ihrem Höschen und fummelte an ihr herum.

„Was soll das? Ich will das nicht“, ging durch ihren Kopf. Herzklopfen vor Angst, dass Mama gleich reinkommen würde. Sie wusste nicht einmal, ob sie darüber froh sein sollte oder Angst haben musste. Nun, Kathi wusste vom Vater, wenn er bei ihr im Bett an ihr herumspielte, wie er das nannte, dass es niemals ein Mensch wissen durfte, auch nicht die Mama. So hatte sie jetzt einfach nur Angst. Die Mama kam mit der Kaffeekanne herein und blitzschnell zog Jens die Hand aus Kathis Hose.

„Warum sitzt meine Tochter auf Ihrem Schoß? Wo ist Ihre Mutter?“ Er setzte Kathi runter und sagte, dass die Mutter gleich kommen werde. Ein verkrampftes Kaffeetrinken, was die Wogen einfach nicht glätten wollte, folgte. Die Mutter ritt immer wieder auf ihrem Recht herum, laut sein zu können, wann sie wollte, und Frau Radlowski drang mit ihrem Wunsch nach dem Einhalten von Ruhezeiten nicht durch. Als sie gegangen waren, erzählte Kathi der Mutter, dass Jens in Ihre Hose gefasst hätte. Daraufhin trieb eine Zornesröte in das Gesicht der Mutter. Sie lief sofort die Treppen hinauf und klingelte Sturm. Kathi und Britta standen an der offenen Wohnungstür und lauschten in das Treppenhaus.

„Ihr Sohn ist ein Schwein! Nie wieder setzen Sie oder auch nur einer ihrer Söhne einen Fuß in unsere Tür! Wenn er sich noch einmal an meiner Tochter vergreift, dann sorge ich dafür, dass sie hier rausfliegen!“, schrie die Mutter lauthals, so dass das ganze Haus es mitbekam.

Britta flüsterte: „Das ist unsere Löwenmami.“

Kathi verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber sie fühlte sich stark und für den Moment geschützt. Im Herzen klang es nach: „Mama glaubt mir und scheint mich doch lieb zu haben.“

Ein besonderer Tag. Papa kam mit einem Kollegen und brachte eine Musiktruhe nach Hause. Mit Radio und dem magischen Auge. In der Truhe selbst konnte man mehrere Single Schallplatten hintereinander stapeln, die von ganz allein spielten!

Stundenlang saß Kathi davor und besah sich die Technik. Jede Platte, die anspielte, berührte sie in der Seele. Kathi hatte viel vom Papa bei den abendlichen Sperrmüllgängen gelernt, indem er mit ihr Radios, Fernseher und alles Mögliche nach Hause in seinen Bastelkeller schleppte, reparierte, probierte und schaute. Kathi war normalerweise ein hibbeliges Kind, aber in den Momenten konnte sie stundenlang ganz still etwas betrachten. Der Papa erklärte, wie es einmal funktioniert hat und wie es wieder funktionieren könnte, man muss nur lange genug schauen. Und als kleine Vierjährige fing sie bereits an, durch Zuschauen alles zu lernen, was für sie wichtig erschien. Hier entwickelte Kathi eine Engelsgeduld.

Die Mutter kannte sich mit keiner Technik aus und Kathi hatte diese Plattenkiste flugs durchschaut, deshalb durfte sie die Platten auflegen und das Gerät bedienen. Die Musik, die sie wirklich berührte, sang sie nach. In Verbindung mit der Musik, lernte Kathi blitzschnell die Texte. Eigentlich berührte sie alles, ob es Margot Eskens, Katharina Valente, Peter Kraus oder Nana Mouskouri waren. Sie sang und tanzte dazu, fühlte sich in einer anderen Welt, in der die Seele, die sich immer so hart anfühlte, ganz weich wurde, weich und leicht, wie eine Feder. Zum ersten Mal beglückte sie etwas wirklich und durchdringend: „Musik“.

Musik mit all ihren unterschiedlichen Schwingungen und Botschaften. Die Musik schaffte unsichtbare Mauern um sie herum, die sie schützten. Eine Welt mit dem Gefühl von Sicherheit, Wärme und Freude.

Kathi ging schon länger zum Ballett, war fast täglich im Turnverein, denn der Papa war ehrenamtlicher Aushilfstrainer. Hier mussten Britta und Kathi die Vorzeigemädchen spielen. Flickflack vom Kasten, Geräteturnen, Bodenturnen. Kathi fiel auf, dass der Papa die anderen Mädchen häufig mit diesem komischen Blick anschaute und wenn er Hilfestellung beim Überschlag oder vom Kasten gab, versuchte er sie zwischen den Beinen zu berühren. Das war ihr sehr unangenehm und sie konnte es gar nicht deuten. Warum machte er das? Selbst bei den Cousinen beobachtete sie seine gierigen und lüsternen Blicke. Die Angst, dass er ertappt würde, schien für sie unerträglich zu sein.

Auch beim Training trug Kathi einen Turnanzug mit Ärmeln bis zum Ellenbogen, damit wirklich niemand die durch die Mutter hinzugefügten Blessuren sehen konnte. Niemand! Der Schutz der Familie war ihr extrem wichtig und das einzige, was zählte. Sie wollte doch, dass alle glücklich sind!

Durch ihre Turnbegabung und dass die Eltern durch die Musiktruhe entdeckt hatten, wie schön ihre Tochter singen konnte, wurde Kathi dann ein wenig zum Vorzeigeäffchen. So fühlte sie sich zumindest. Egal ob Kollegen vom Papa, Freunde der Eltern oder Verwandtschaft, nun hieß es immer: „Kathi mach mal Handstand! Kathi sing doch nochmal etwas von Nana Mouskouri!“

Und sie tat es. Fühlte sich unter Druck, aber der Applaus und die Komplimente taten ihr gut. Und wenn sie sang, war sie woanders. Sie war einfach da. Ganz im Lied, getragen von der Melodie, gab sie ihre glockenklare Stimme zum Besten. Es war ein Sein und Fühlen im Hier und Jetzt, keine Schläge, keine Schreie, keine Ertränkungsgefühle, keine Wut, keine Übergriffe durch den Vater. Einfach nur Musik und ein Herz, das in diesem einen Moment bis hinauf zu den Sternen weit geöffnet war.

Nach Außen, da war diese vierköpfige Familie mit dem wunderschönen Elternpaar, entzückenden begabten Kindern, die Flöte spielten, sangen, turnten, Ballett tanzten, einfach nett. Und jedes einzelne Familienmitglied arbeitete an diesem Außenbild auf seine eigene Weise. Niemand durfte hinter die Kulissen schauen. Darin sah Kathi ihre Aufgabe, auch wenn Alpträume sie plagten. Es waren meist wiederkehrende Albträume, Einbrecher, die ihr Zuhause nahmen und die Mutter, den Papa sowie die Schwester töteten. Nur sie blieb unter dem Bett unentdeckt und wusste, dass sie verhungern und sterben musste. Und überall Blut. Dann wurde sie von ihrem eigenen Schluchzen geweckt.

Manchmal ergänzte sich der Traum, indem ein Mann kam, sie unter dem Bett hervorholte und sagte: „Vertraue mir, du bist in Sicherheit“, steckte seine Hand in ihre Hose und flüsterte: „Wenn du ganz still bist, passiert dir nichts.“ Der Mann sah mal aus wie der Jens von oben, mal wie der Organist der Kirche, der sie auch in der Realität häufig auf den Schoß nahm und besabberte und befingerte und mal sah er aus wie der Papa. Wie ihr geliebter Papa. Der sie vor der oft brutalen Mama beschützen wollte. Kathi hatte doch nur ihn! Der Preis war hoch. Aber das wusste Kathi damals nicht. Sie war ein Kind von fünf Jahren und all das war ihre Normalität. Nichts weiter.

PURE FREUDE

Ein tiefes Einatmen. Luft anhalten und spüren, wie sich die Luft im Brustraum ausbreitet, im Zwerchfell, im Bauch. Mit dem langen Ausatmen formt sie leise und doch kräftig einen hellen klaren Ton. „Mii_______“

Kathi, mit blonden, langen Korkenzieherlöckchen, den blauen Augen und einem so fröhlichen und liebenswerten Gesicht, steht eingereiht zwischen den Sopranstimmen neben ihrer Schwester. Britta sieht sehr schlank, ernst und hübsch aus mit ihren pechschwarzen, langen Haaren, die sie heute zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Stolz und zufrieden lässt Kathi den Ton klingen. Wie aus einem inneren Gefängnis schwebt er auf einer Wolke durch den kleinen, weit geöffneten Mund hinaus. Ein langer, wohlklingender, klarer Ton, der aus ihrem tiefsten Inneren kommt.

Oma und Opa waren selten zu Besuch zu Hause. Aber sie sagten schon früher, dass einmal etwas aus ihr werden würde, bei dieser wunderschönen Stimme.

Mama hatte tatsächlich nach Kathis sechstem Geburtstag im Hamburger Kinderchor der Hauptkirche St. Petri nachgefragt, ob ihre Töchter in den Chor könnten. Kathi tanzte sich inzwischen wöchentlich auf Spitzenschuhen in der Ballettschule Boter-Adam die Füße wund und blutig und hasste diese Schmerzen in den Füßen. Aber das sei normal, wenn man schon mit vier Jahren Spitzenschuhe bekomme. Sie ging täglich zum Turnen. Blockflöte spielte sie bereits und auch hier fiel den Eltern das bemerkenswerte musikalische Talent ihrer kleinen Tochter auf. Nun also auch noch Chor.

Kathi war furchtbar aufgeregt. Die Mutter zog ihr die Sonntagssachen an, weiße, kratzige, gestrickte Kniestrümpfe, einen karierten Faltenrock, eine weiße Bluse und eine Klubjacke mit Hamburgemblem und goldenen Knöpfen daran. Britta durfte etwas legerer gehen, sie war nun schon fast neun Jahre alt. Mit der U-Bahn einmal Umsteigen am Hauptbahnhof, bis Mönckebergstraße die U3. Die gelbe Linie. Dann durch einen langen Bahnhofsgang, Treppen hoch und vor ihnen ragte hoch hinaus die imposante Kirche St. Petri.

Mama kämmte Kathi noch einmal durch die Locken vor der Tür zum Gemeindehaus, was schrecklich ziepte und feuchtete ihre Hand mit Spucke an, um die Stirnlocken im Zaum zu halten. Dieser Geruch von Spucke, ob es das Taschentuch war, mit dem sie ihr die Mundwinkel oder Wangen versuchte, sauber zu machen oder die Haare zurückstrich, dieser Geruch, war für Kathi unerträglich. Ihr war häufig kurz vorm Sich-Übergeben, ein Ekelschauer lief ihr von den Zehen über den Rücken bis in den Nacken. Ein: „Mama, nein, bitte nicht“, wurde ignoriert.

So standen sie zum ersten Mal alle drei vor Frau Koller. Frau Koller war eine kleine Frau, die sehr selbstbewusst wirkte. Mittelblonder Kurzhaarschnitt und ein leicht gerötetes Gesicht, das großes Engagement und Begeisterungsfähigkeit ausstrahlte.

Kathi war immer noch vom Ekelgefühl der Spucke gebannt und ihr saß die Angst vor dem Vorsingen im Nacken. Sie wusste nicht, was auf sie zukam und das machte ihr Angst. Da sie die Kleinste, aber auch die Pfiffigste war, sollte sie beginnen.

Mama, wie immer wunderschön, mit schickem Kleid und moderner Frisur, setzte sich hinten mit Britta auf die Stühle. Kathi stand neben Frau Koller am Klavier. Frau Koller stimmte Töne an, die sie nachsingen sollte. Hohe Töne, tiefe Töne. lange, kurze. Je höher die Töne wurden, desto klarer wurde ihre Stimme, desto fester und doch weicher, melodischer, fließender. In dieser Form und mit diesem Gefühl, hatte Kathi das selbst noch nie erlebt.

Frau Koller ermutigte sie, spielte kleine hohe Melodien und Kathi folgte immer leichter, immer leidenschaftlicher, fröhlicher und inniger. Es gab kein Richtig oder Falsch.

Frau Koller fragte, ob sie denn ein Lied singen könne, aber vor Aufregung fiel Kathi gar nichts ein. Frau Koller stimmte auf dem Klavier: „Wenn ich ein Vöglein wär“ an und fragte, ob sie das nachsingen könne. Und ob. Kathi sang glockenklar und hell, dass selbst Mama vor Rührung zwei Tränen herunter kullerten, Britta den Mund geöffnet hielt und Frau Koller, nachdem der letzte Ton verklungen war, ergriffen der Mutter sagte, dass Kathi hier in jedem Fall richtig sei. Sie würde sich glücklich schätzen, wenn Kathi dabei sein könnte in ihrem Kinderchor der Hauptkirche St. Petri. Kathi hätte ein so gutes, musikalisches Gehör, dass es gar nichts ausmachte, dass sie nicht nach Noten singen könne.

Nun war Britta dran. Sie tat sich etwas schwer, weil sie, perfekt wie sie nun einmal war, nur nach Noten singen wollte und durch die Blockflöte könne sie es ja schon, im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester, die „nur“ immer nach Gehör spielte und sang. Doch Britta sollte auch nach Gehör singen, was für sie weitaus schwieriger war. Die Unterschiedlichkeit der Schwestern wurde wieder einmal hier sehr deutlich. Sie wurden beide im Chor angenommen.

Und nun, vier Wochen später, standen die Schwestern nebeneinander in der Reihe des ersten Soprans und sangen sich warm. In Kathi kehrte Ruhe ein. Dieses Gefühl beim Singen, diese Abwesenheit in der Realität, in anderen Ebenen schweben, die sich watteweich wie Wolken anfühlten, die alles vergessen ließen. Jeder Schmerz, körperlich oder seelisch, jede Angst vor Verlust, Hunger, das tiefe Gefühl der Einsamkeit… weggetragen auf Tonschwingen ins Nichts. Ein Fest. Ein Fest für die Seele. Es war ein inneres Ankommen. Freude in ihr. Pure Freude. Sie betete zum ersten Mal am hellichten Tage in sich selbst hinein, ganz leise und dankte Gott für dieses Gefühl, für diesen Tag. Für dieses Erleben.

Britta ging nur einige Male mit ihrer kleinen Schwester an der Hand in den Chor. Ihre Ängstlichkeit, allein mit der Kleinen U-Bahn zu fahren nahm zu und sie hatte keine große Freude am Chorsingen. Kathi wurde mit ihren sechs Jahren nun wieder die Große, die der älteren Schwester Mut machte. Sie bemerkte, dass Britta während der Halts mit zusammengekniffenen Augen auf die Schilder der Bahnsteige schaute. Wie sich später herausstellte, war sie ziemlich kurzsichtig. Nun waren die Beiden wieder so vereint, wie sie es früher oft als Schwestern waren, wenn die Mutter nicht da war und keinen Keil der Konkurrenz zwischen sie treiben konnte. Kathi merkte sich markante Punkte beim Einfahren des Zuges und die Länge und Spitzen der Buchstaben auf den Schildern. Britta hielt sie bei der Hand. Sie waren ein Team, das sich für kurze Zeit gegenseitig Halt gab.

Schon einige Wochen später durfte Kathi sich allein auf den Weg machen. Es gab jedes Mal am Ende der Stunde eine Fahrscheinausgabe durch Frau Koller für das nächste Mal. Ein gelber, kleiner Zettel mit Tagesstempel des Datums der nächsten Probe. Hiermit durfte man am Stempeltag sogar den ganzen Tag über in ganz Hamburg fahren. Für jede Probe gab es zwanzig Pfennig und für einen Auftritt zwischen 1,20 DM und 1,50 DM Gage. Das war eigen verdientes Geld und Kathi kauft sich stolz dafür Dauerlutscher, Süßigkeiten oder Pommes im Bahnhof nur für sich. Manchmal gab sie etwas davon ihrer Schwester als Preis, bei ihr im Zimmer sitzen zu dürfen.

Kathi fuhr nun ganz allein quer durch die große Hansestadt. Alle Ängste waren dahin und die Freude, endlich singen zu dürfen, unendlich groß. Das Singen begann ihr Leben zu verändern. Kathi wurde selbstbewusster.

Sie wusste schon sehr früh, dass sie unbedingt Sängerin werden wollte. Operettensängerin. Wenn der Papa hinter der Bühne am Hamburger Operettenhaus als Feuerwehrmann Theaterwache hatte, dann durfte sie bei nicht ausverkauftem Haus öfter kostenlos als Zuschauerin mit der Mutter und Britta dabei sein. Viel war Kathi nicht bekannt von den musikalischen Sparten, so war es nur logisch, dass es Operetten sein mussten, im Operettenhaus.

Eines Tages war sie allein zu Hause. Die Mutter schloss stets das Wohnzimmer ab, wenn sie nicht anwesend war und zeigte somit schon früh ihr Misstrauen den Kindern gegenüber. Das Telefon im grünen Telefonmäntelchen stand auf einem kleinen Telefonschrank am Eingang des Durchgangsesszimmers. Da die Kinder keine Dummheiten machen sollten und womöglich telefonieren könnten, gab es nun etwas ganz Neues: Ein modernes Telefonschloss. Die Nr. 112 konnte man im Notfall trotz des Schlosses wählen, das zeigte der Papa den Schwestern.

Die Mutter predigte schon sehr früh den Kindern, dass man nicht den Hörer abnehmen sollte, weil die Post mithöre. Das war sicher als Drohung gemeint, damit sie es nicht wagten, zu telefonieren. Aber nun, so ganz allein… wo sie doch Sängerin werden wollte… Die Post war für Kathi eine Institution, die alles ist - so wie Polizei, Feuerwehr, Behörden, auf jeden Fall etwas Offizielles, eben eine Behörde.

Also atmete Kathi tief ein und aus, sang sich ein wenig ein und nahm den Hörer ab. In das Tut-Tutut hinein, nannte sie brav ihren Namen und ihren Wohnort, sagte klar und deutlich, dass sie Operettensängerin werden möchte und sie hoffe, dass sie entdeckt werde. So sang sie in ihrer schönsten Weise das Lied, das sie oft auf der Schallplatte bei den Eltern gehört hatte: „Du bist die Rose vom Wörthersee.“

Für Kathi folgten Tage der inneren positiven Aufgeregtheit. Immer wieder scharwenzelte sie um die Mutter herum, wenn sie vom Briefkasten kam. Als die Mutter fragte, warum sie da nun ständig mit in das Treppenhaus zum Briefkasten lief, zuckte sie nur mit den Schultern und schmunzelte ein wenig konspirativ. Aber es kam leider kein Brief von der Post, der sie berühmt gemacht hätte. Das war dann erst einmal für sie erledigt. Vorerst.

Weihnachten nahte und Kathi freute sich sehr darauf. Denn dieses Mal sollte es anders werden. Das übliche Weihnachten zu Hause war bisher verbunden mit Gedichten aufsagen, Weihnachtsmännern, die Angst machten und einer Mutter, die in getragener Stimme die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorlas: „Und es begab sich aber zu der Zeit…“

Es war furchtbar langweilig. Das gemeinsame Singen in Ordnung. Am schönsten war es, wenn Kathi ganz allein „Maria durch ein Dornwald ging“ singen durfte. Dann saßen alle still und gerührt da und Kathi fühlte Stolz, Freude und Liebe in sich. Sie musste aber leider trotzdem meist mit Britta zusammen die nicht wirklich geliebte Blockflöte spielen. Dieses Weihnachten war das erste Mal Singen in der Hauptkirche St. Petri. Es wurde im Chor viel geprobt für das berühmte Quempas-Singen.

Heiligabend am Nachmittag. Die Menschen standen Schlange vor der Petrikirche. Die Kirche war überfüllt, Klappstühle wurden dazu gestellt. Und die Chorkinder warteten aufgeregt hinten im Kirchenschiff neben dem Haupteingang im Probenraum. Die Chorkinder kamen auf ein Zeichen von Frau Koller in Zweierreihen von hinten durch den Hauptgang in die Kirche. Mit ihren schönen, bis zu den Füßen reichenden schwarzen Gewändern und den weißen Krägen, einem langen, weißen Holzstab mit Kerzenhalter und einer brennenden Kerze in der äußeren Hand. Sie schritten langsam und andächtig zur feierlichen Eingangsmusik von hinten durch den Mittelgang nach vorn in das Kirchenschiff zum Altar, wo die große prachtvolle Krippe aufgebaut stand. Das langsame Schreiten fiel allen Kindern schwer, das sah man. Aufgeregt und voller innerer Freude wurde der feierliche Gang zu einer echten Herausforderung. Selbst für die routinierteren Kinder.

Kathi nahm währenddessen wahr, wie die älteren Besucher am Rande der Bank sitzend, mit Tränen der Rührung in den Augen flüsterten: „Wie Engelchen!“, und versuchten noch kurz ein leichtes Streicheln am Ärmel. War das schön! Vorn angekommen, teilten sich die Chorkinder in Vierergruppen auf und schritten andächtig auf ihre Plätze. Links und rechts sowie in der Mitte auf der Empore die größeren, vorn an der Krippe im Hauptgang blieb Kathi mit der Gruppe der Kleinsten für den letzten Quempassatz. Dann ertönte von der Empore links: „Den die Hirten lobeten sehre“, rechts: „und die Engel noch viel mehre“, Mitte oben: „Fürcht euch fürbaß nimmer mehre“ dann an der Krippe unten (Kathi sang immer ein wenig lauter…) „euch ist geboren ein König der Ehrn“. Gemeinsam erschallte der Refrain aller Gruppen: „Gottes Sohn ist Mensch geborn.“ Dieses war einmalig und neu in Hamburg. St. Petri wurde zum beliebtesten Weihnachts-Gottesdienst durch dieses Quempassingen. Es kam von der Beliebtheit her sogar noch vor dem großen Weihnachtsfest im Hamburger Wahrzeichen, dem Michel.

Danach gingen alle glückselig nach hinten in den Probenraum, denn jetzt gab es einen Imbiss für die Chorkinder und die Angehörigen. Der Vater hatte Dienst. Die Mutter und Britta waren bei dem Gottesdienst dabei und schauten sich nach Kathi um. Kathi freute sich auf die heiße Wiener Knackwurst, aber nicht auf das ganze Drumherum mit den Anderen, mit Mama und Britta, denn in ihrer Anwesenheit spürte sie wieder die Einsamkeit in der Dreierkonstellation und die angespannte Hab-Acht-Haltung in ihr, was man Kathi zu ihrem Bedauern auch äußerlich ansah. In dem Fall sagten dann irgendwelche Kinder oder Erwachsene zu ihr: „Nun verhalte dich mal ruhig und nicht so hektisch.“ Die tiefe Einsamkeit verstärkte sich dadurch noch. Mit dem Gefühl der Verlassenheit, nicht dazuzugehören, immer schüchtern, verlegen und nervös stand sie dort herum. So unruhig und zappelig. Zumindest empfanden andere es so.

Heute, am Heiligabend, kam Kathi die Intuition zu Hilfe. Sie wuselte sich durch die Menschenmengen zu Frau Koller hindurch und fragte, ob sie denn nicht helfen könne beim Würstchen ausgeben. Frau Koller fand das sehr aufmerksam und freute sich aufrichtig. Kathi bekam ein Geschirrtuch dreieckig um die schmalen Hüften und die Lockenpracht zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie stand hinter aufgestellten Tischreihen, lächelte charmant und fühlte sich wie eine große Kellnerin. Keine Einsamkeit. Vollends war sie beschäftigt, Würstchen mit einer Zange auf einen Pappteller zu legen, der groß und gebogen auf ihrer kleinen flachen Hand lag. Senfklecks dazu und eine Scheibe Weißbrot. Alle waren hungrig. Alle wollten etwas von ihr. Und sie musste nicht einmal Angst haben, dass es einen Nackenschlag gibt, wenn etwas herunterfiel.

Unter den Tisch hatte sie einen kleinen Hocker geschoben, darauf stellte sie ihren Teller mit Würstchen, bückte sich blitzschnell und biss zwischen Essensausgabe und Lächeln hinein. Sie war sich sicher, dass es keiner bemerkte, schon gar nicht, dass es ein paar Würstchen zu viel waren, bis ihr wirklich übel wurde. Übel, aber glücklich. Das war paradiesisch!

Alle drei fuhren mit der U-Bahn nach Hause. Die Mutter verzichtete das erste Mal und zur Freude der Kinder, auf das Lesen der Weihnachtsgeschichte, da das bereits durch den Pastor in der Petrikirche geschehen war. Ohne angsteinflößenden Weihnachtsmann. Sie durften schon vom bunten Teller naschen, auf den sich die Schwestern seit Tagen freuten. Leider war Kathi immer noch übel. Der Papa kam irgendwann dazu, sie sangen wie immer die Weihnachtslieder, spielten Blockflöte und packten endlich die Geschenke aus. Dabei ging an diesem Heiligabend ein langersehnter Wunsch in Erfüllung: Ein ganzes Stück Käse, ganz für sie allein. Nicht wie sonst, in Scheiben geschnitten, durch die man Zeitung lesen kann, wie der Vater stolz erklärte. Kathi konnte einfach reinbeißen! Wenn ihr doch bloß nicht so schlecht gewesen wäre.

An diesem Heiligabend war die Welt in Ordnung. Glückselig mit einem Glas Glühwein. Den durften die Schwestern, obwohl sie sehr jung waren – verdünnt versteht sich – an Heiligabend trinken. Glückseliger Dusel, einschlafen ohne Einsamkeit, ohne Weinen, ohne Ängste, einfach so. So wie Kathi wie ein Engelchen gesungen hatte, so schlief sie auch ein. Und kein Mensch hätte in diesem Moment glauben können, dass sie draußen auf dem Hof oder im „Schulkindergarten“ ziemlich heftig die Jungs verprügelte.

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