Kitabı oku: «Bittere Erdbeeren», sayfa 4

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TROTZ UND MISSTRAUEN 1967

„Kathilein, komm doch mal bitte her, ich muss mit dir sprechen.“ Wenn die Mutter in diesem freundlichen Ton sie mit dem Spitznamen ansprach, dann war etwas im Busch. Aber was? Was wollte sie? Kathi ging langsam, zögerlich, wie eine geprügelte Katze auf die Mutter zu. „Komm, setz dich mal auf meinen Schoß.“ Sie strich dabei Kathi über die Wange. „Was ich dir jetzt sage, darf dich nicht erschrecken, ich weiß, dass wir dir etwas versprochen haben. Bisher konnten wir dich bei Oma, Tante Ruth oder Tante Gertrud unterbringen, wenn Papa und ich allein sein wollten, aber nun ist es etwas Anderes.“

Kathi wurde flau im Magen. Die Aufenthalte bei Oma und den Tanten waren fremd, aber schön. Lieb, genug Essen, keine Schläge, kein Papa, der sich abends neben sie legte, obwohl sie seine Arme und den Schutz durchaus vermisste. Auch war sie inzwischen mal wieder im Krankenhaus mit einer Nebenhöhlenentzündung und Bronchitis gewesen.

Zehn Tage. Rotlicht im Gesicht, Inhalieren, schönes Bett, tolle Zimmerkameradinnen, nette Schwestern. Kathi fing an, aus sich herauszukommen, wenn sie sich einigermaßen sicher und gemocht fühlte. Manche fanden sie dann schon etwas frech. Aber so war sie eben. Das war der Übermut, die Freude über dieses doch seltene Glück, sich angenommen zu fühlen.

Und nun saß sie auf Mamas Schoß, die ihre Wange tätschelte und ihr verkündete, dass sie doch wieder verschickt werden müsse. Mit ihrer Bronchitis, was sich zum Asthma auswuchs, sollte sie wieder an die Nordsee. Dieses Mal nach Westerland zur Kur.

„Mama, nein, bitte nein! Du hast es versprochen!“ Für Kathi brach eine Welt zusammen. Die Angst, ihr Zuhause zu verlieren, all das, was sie auf der ersten Verschickung erlebt hatte, war wieder lebendig. Es rauschte in ihrem Kopf, sie schluchzte und der Mama brach es fast das Herz, denn das tat ihr wirklich leid. Aber warum das wirklich sein musste, das war für Kathi nicht zu verstehen.

Es ging alles sehr schnell. Zwei Tage später wurde Kathi in den Zug gesetzt mit einer Betreuerin und einigen anderen Kindern und dann ging es los.

„Ich schlucke meine Tränen runter. Ich zeige nichts. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Kathi dachte vollkommen diffus. Auch verstand sie nicht, warum Britta und sie immer getrennt wurden. Nie konnten sie zusammen irgendwo sein, wo Britta doch ihr ein wenig Vertrautes, ein wenig Halt gab.

Angekommen, kam Kathi in ein Zimmer mit sechs Betten. Sie fühlte sich einsam und wollte einfach nur nach Hause. Heimweh war für sie ein schreckliches und schmerzhaftes Gefühl.

Morgens gab es Suppe. Suppe die nach Vanille oder Schoko schmeckte. Das war sooo lecker und großartig. Das Essen war toll. Auch die dicke Köchin, zu der sie gern durch den Hintereingang von außen ein paar Stufen herunterlief, war mütterlich und nett, gab ihr einfach mal ein paar Naschereien. Sie erinnerte sie an Frau Star, zu der sie schon länger nicht mehr gegangen war.

Es folgten Inhalationen, Turnen, Strandspaziergänge. Eine schöne große alte Villa, fast wie ein Schloss, mit Innenhof in dem es Saft aus Plastikbehältern an den Wänden gab. Oder kaltem Tee. Und ein paar Stufen herunter zum Meer. Kathi hatte nichts auszustehen. Aber in ihr wuchs ein unbändiger Trotz, gegen alles. Gegen die Mutter, den Vater, gegen die Welt. Für sie war es Verrat. Richtiger Verrat!

Sie hatte noch nie etwas verraten. Nicht, woher die Blessuren an ihrem Körper kamen, nicht die Hungerbestrafungen, nicht das stundenlange in der Ecke Stehen, ohne den Kopf zu drehen. Oder dabei in die Hocke gehen zu dürfen, oder auch nur ein Wort zu sprechen.

Verrat. Verrat. Verrat.

Kathi trat ohne Vorwarnung dem einen oder anderen Jungen gegen das Schienbein. Schon war sie in Raufereien verwickelt. Heftigst. Mit Fäusten bearbeitete sie ihr jeweiliges Opfer, bis eine Betreuerin sie auseinanderriss.

„Katharina, was ist denn in dich gefahren?“

Wenn sie das nur wüsste. Nur unbändige Wut und Verzweiflung spürte sie.

Aber sie merkte, dass es ihr guttat. Dampf, der irgendwie raus musste. Sie zog den Stuhl unterm Hintern weg, wenn sich ein Kind hinsetzen wollte, schlug mit dem Suppenlöffel auf den Kopf von irgendwem. Dass das nicht ohne Folgen blieb, hätte sie mit ihren sechs Jahren ahnen können.

Kathi musste zum Direktor des Hauses. Er fragte, was denn in sie gefahren sei und Kathi erwiderte nur immer wieder, dass sie nach Hause möchte.

„Wenn du dich weiterhin so aufführst und dich nicht sofort anständig benimmst, wirst du nach Hause geschickt, und zwar sofort!“ War das die Antwort, die sie hören wollte? Das kam überraschend.

Gut. Das war in Ordnung. Sie ging wortlos zur Tür, drehte sich um und spuckte, so wie sie es bei den Jungs schon häufiger gesehen und auch heimlich beim Weitrotzen geübt hatte, in Richtung des Direktors. War aber nicht weit genug.

Er war fassungslos. Ein so zauberhaftes Mädchen, das sich so verhielt? Was war da bloß schiefgelaufen? Kathi wurde ins Bett geschickt.

Frühstück aß sie wieder richtig gerne. Kathi hatte schon von einer Betreuerin gehört, dass Sachenpacken angesagt wäre, da die Mutter auf dem Weg sei, um sie abzuholen.

Juchhu, das Herz jauchzte in ihr! Kathi war glücklich.

Die Mutter nahm sie ziemlich unwirsch an die Hand, ärgerlich über die weite An- und Rückreise und die damit verbundene Arbeit und Zeitverschwendung. Aber es mischten sich durchaus andere Gefühle darunter. „Habe ich nicht auch ein bisschen Schuld, weil ich das Kind dorthin geschickt habe? Wäre ein Psychiater nicht doch besser gewesen, die Verschickung damals zu verarbeiten?“

Trotzdem musste sie im Zug natürlich schimpfen. „Wie kann das nur sein? Drei Tage hast du es nur ausgehalten? Wir haben dir extra etwas Schönes ausgesucht!“ Kathi schwieg und starrte aus dem Zugfenster.

„Britta ist ja da!“ Verwundert begrüßte sie ihre geliebte große Schwester. Ein Gefühl von Zuhause in ihr, aber auch ein Gefühl, von Nichtverstehenkönnen, warum Britta nicht wegmusste. Immerhin hatte Britta ihre Eltern ganz für sich allein? Sonst mussten sie doch alles teilen. Kathi trug die alten Sachen von Britta auf. Wenn Besuch kam, wurde die Tafel Schokolade geteilt. Aber in Trauer, in Strafe, in Verlassenheit waren sie jede für sich ganz allein.

Papa war mittags gekommen. Es gab Pfannkuchen, Kathis absolutes Lieblingsessen. Kam noch vor Milchreis.

„Was war denn los, Kathi, warum warst du so ungezogen in Westerland?“

Kathi wusste nicht, was sie sagen sollte, denn sie wusste es ja irgendwie selbst nicht.

Diese Frage passte der Mutter überhaupt nicht, ihre Nerven waren wieder sehr angespannt. „Was soll die Frage? Es klingt ja beinah so, als wenn du das für gutheißt, Hans! Sie braucht eine Tracht Prügel, um wieder zur Besinnung zu kommen!“

Bei diesem Satz zuckte Kathi zusammen. Der Vater wollte beschwichtigen, aber die Mutter ließ ihn gar nicht zu Worte kommen. „Mach das du in dein Zimmer kommst, Hans! Zu essen gibt es nichts für dich!“

Der Vater stand wortlos auf. Er sah sehr traurig aus und ging in sein Bastelzimmer, wo er all die Flaggen und Mitbringsel aus seiner Seefahrtzeit hängen hatte, die ihm Trost spendeten und die Sehnsucht nach Meer und Freiheit aufrechterhielten. Kathi blieben die Pfannkuchen im Halse stecken. In einem unbemerkten Moment warf sie ihren Pfannkuchen auf den Schoß ihrer kleinen bunten Flügelschürze. Nahm sich einen neuen vom Teller, der in der Tischmitte mit vielen fertigen Pfannkuchen stand und schlang in sich hinein. Während sie aß, stopfte sie mit einer Hand ganz vorsichtig den Pfannkuchen in die Tasche der Schürze. Das hatte sie schon öfter heimlich mit sehr fettem und ekligem Fleisch vom Eisbein oder Grützwurst getan, denn es musste aufgegessen werden, sonst durfte man nicht aufstehen. Sie hatte es einmal getestet und saß über fünf Stunden vor dem fetten Fleisch. Seitdem tat sie so, als ob sie kaute und spuckte das Fett unbemerkt in die Hand und ließ es dann flink in der Schürzentasche verschwinden.

Eilig trug sie das Geschirr in die Küche. Während Mama und Britta noch diskutierten, wo der Abwasch und wo das trockene Geschirr diesmal stehen sollten, weil alles mal wieder voll stand, schlich Kathi sich zu ihrem Papa. Strahlend stand sie in der Tür, mit Stolz sagte sie: „Papa, ich habe für dich einen Pfannkuchen aufbewahrt!“, nahm den zermatschen Pfannkuchen ganz vorsichtig heraus. Sie bedauerte, dass weder Zimt und Zucker noch Apfelmus dabei waren. Die Enttäuschung war ihr anzusehen, als der Papa sagte, dass es lieb sei von ihr, aber er keinen Hunger hätte. Sie konnte gar nicht verstehen, wieso er keinen Hunger hatte! Traurig und unsicher legte Kathi den Pfannkuchen auf seine Bettcouch und lief schnell zurück in die Küche.

Sie fühlte sich so nah mit ihrem Papa, hatte so viel Mitleid, immer wenn das geschah. Sie beide hatten einen schweren Stand bei der Mutter. Im Vergleich zu Britta, die immer still war und nie Widerworte gab. Britta versteckte sich häufig und hoffte, nicht gesehen zu werden. Aber auch sie bekam hin und wieder Prügel von der Mutter.

Kathi hatte wegen ihres schlechten Benehmens, wie die Eltern es nannten, Stubenarrest. Zum Glück musste sie nicht in der Ecke stehen, sondern nur in ihrem Zimmer ausharren. Sie verstand nicht, warum sie erst ihr Lieblingsgericht bekam und danach Bestrafung.

Samstag. Papa hatte wieder Dienst.

Die Kinder durften in die Badewanne. Britta war schon neun Jahre alt und die Mutter hielt sie für zu groß, um mit der kleinen Schwester zusammen zu baden. Erst durfte Britta baden, dann stieg sie heraus, alles dampfte und Kathi legte sich in die Wanne und ließ viel warmes Wasser nachlaufen. So herrlich war das, in diesem lauwarmen, schon etwas schmutzigem Wasser, frisches heißes nachlaufen zu lassen. Eine halbe Badebrausetablette, die Britta ihr übriggelassen hatte, die soo gut nach Fichtennadeln duftete, löste sich langsam an ihren Füßen ganz kribbelig auf. Das war schön. Reinigung, Wärme. Kathi genoss es sehr. Wenn das Wasser immer heißer wurde, bekam sie davon eine Gänsehaut. Sie spürte sich. Sie fühlte sich lebendig.

„Kathi, bist du so weit, dass wir Haare waschen können?“, rief die Mutter aus der Essdiele. Der Zauber war vorbei. Nun kam wieder das grobe Haarewaschen, wo die Augen so schrecklich brannten. Die Mutter baute sich vor der Wanne auf und Kathi tauchte rückwärts mit den Haaren unter, um die Haare nass zu machen. Dann schnell den Waschlappen vor die Augen gedrückt, so hatte sie es mal im Friseursalon Meier gesehen, wo Mama zur Kaltwelle ging. Da bekam sie immer einen weißen Waschlappen beim Haarewaschen auf die Augen. Kathi war stolz, sich das gemerkt zu haben, denn so war das Brennen in den Augen erträglicher.

Die Mutter massierte den Kopf und es ziepte in dem langen lockigen Haar. „Aua! Es brennt, es brennt so in den Augen!“, Kathi wollte schnell Wasser für die Augen nachlaufen lassen.

Aber die Mutter kochte innerlich. Wieder lief alles aus dem Ruder und dieses störrische Kind machte nie, was es machen sollte. So packte sie nicht nur die Wut, sondern auch den Nacken der kleinen Kathi und drückte sie mit dem Kopf unter Wasser und schimpfte dabei unentwegt.

Kathi kämpfte. Kathi packte nackte Angst. Drückte sich hoch, zappelte mit den Armen, prustete. Doch der eiserne Griff der Mutter ließ kein Entkommen zu. Da besann sie sich in all der Panik auf ihre Technik, die sie immer wieder mit Britta geübt hatte: „Wer kann länger unter Wasser die Luft anhalten?“ Kathi ließ bewusst und plötzlich los, so wie sie es zigmal geübt hatte. Sie hielt still die Luft an, das Gekeife der Mutter drang wie dumpf wie durch Watte zu ihr durch. Im Kopf rauschte es, ihre Arme wurden locker, keine Gegenwehr mehr. So verharrte sie sekundenlang.

„Kathi! Kathi! Was ist?“ Die Mutter riss schnell ihr Kind hoch. „Oh Gott, was habe ich getan, oh Gott, was habe ich gemacht?“ Sie war außer sich, während Kathi schlapp halb in ihren Armen, halb über dem Wannenrand hing. Instinktiv blieb sie in der Haltung, schnappte aber nun kräftig nach Luft.

Der Papa war zum Dienst, kein Beschützer da. Mama rief nach Britta. Britta kam aufgeregt herangeeilt, sah erfasste die Situation.

„Hilf doch mal, Kathi aus der Wanne zu ziehen!“, bat die Mutter sichtlich verstört. Mit vereinten Kräften holten sie sie raus. Kathi hustete und war rot angelaufen im Gesicht. Es war eine wirkliche Leistung gewesen, so lange die Luft anzuhalten, aber sie hätte es sogar für länger, wenn nicht sogar für immer getan.

FÜNFZIG PFENNIG

Kathi mochte die Schule nicht besonders. Sie durfte mit sechs Jahren nicht eingeschult werden und musste in den Schulkindergarten, weil sie Linkshänderin war und auf rechts umerzogen werden sollte. Sie fühlte sich damit oft anders, am Rande. Eine weitere Verschickung war erfolgt. Dieses Mal mit den Eltern, die sich freiwillig gegen einen Obulus als Betreuer dem Jugendhilfswerk zur Verfügung stellten. Die Mutter war gelernte Kindergärtnerin und der Vater konnte als Turnlehrer von Kinder- und Jugendgruppen im Sportverein und somit mit pädagogischen Erfahrungen aufwarten.

„Dann wird Kathi es nicht so schwer haben, es ist ja kein Vertrauensbruch“, dachte die Mutter. Aber leider konnte sie auch bei der Verschickung nicht aus ihrer Haut. Sie blieb, wie sie war: Besonders streng zu ihrer Tochter. Häufig stellte sie Kathi in die Ecke, wenn die anderen Kinder schlafen mussten oder auch spielten. Britta war bei der Tante untergekommen.

Kathi spürte einen enormen Druck in ihrer Brust. Sie konnte kaum atmen. Ihr Asthma wurde schlimmer und sie fühlte sich verraten. So viele Bestrafungen durch die Mutter vor den anderen Kindern? Das war kaum auszuhalten. Aber sicherlich wollte sie es besonders gut machen. Oder sollte es anderen Kindern eine Warnung sein? Wenn sie schon so schlimm mit der eigenen Tochter war. Was tat der Vater in dieser Zeit? Kathi wusste es nicht. In jedem Fall half er ihr nicht. Sie bekam ihn dort in dem Schullandheim in Wedel kaum zu Gesicht. Und wenn, hielt er sich aus allem heraus, was die Mutter entschied oder tat.

Und nun diese verdammte Schule. Kathi wurde von den Lehrern gemocht, das spürte sie. Obwohl sie sich oft so konträr verhielt. Wenn ihr ein Thema Spaß machte, machte sie mit, meldete sich hin und wieder sogar und es war gut.

Aber wenn sie etwas nicht interessierte, saß sie nur da, träumte aus dem Fenster und wirkte eher teilnahmslos und zurückgezogen. Sobald die Pausenglocke läutete, stürmte sie mit den Jungen nach draußen.

Warum sie so oft in Prügeleien verwickelt war? Sie wusste es nicht. Aber dieser Kick, dieses Adrenalin, was ihr auch zu Hause immer wieder durch die Adern schoss: „Bekomme ich Prügel? Wie fühlt sich Mama heute? Hab ich heute genug zu essen? Wird der Papa wieder in mein Bett kommen? Streiten sie sich wieder? Werden sie mich allein lassen? Wie überstehe ich die Nacht mit den Albträumen?“

Das machte etwas mit ihr. Und wenn sie frech war, jemanden ein Bein stellte, ihn anspuckte oder schubste, dann war da wieder das vertraute Gefühl. Das Gefühl von Hitze und Kälte gleichzeitig, von Angst, die lähmte und mobilisierte, von Aufregung, die nur ihr Ventil im blinden Aktionismus fand. Es waren oft die kleineren Jungen. Mädchen schlug sie nie. Häufig wurde sie auf dem Schulhof eingekesselt von anderen Jungen und manchmal gesellte sich auch ein Mädchen dazu und sie skandierten: „Kathi, Kathi, hautse, hautse, immer auf die Schnauze!“

Und manches Mal wurde ihr schwarz vor Augen, vor Angst, vor Schmerz, vor… ja was eigentlich? Es fühlte sich ähnlich an, wie damals, als Dieters Bruder sie mit der Faust an der Schläfe traf und sie in Ohnmacht fiel. Bei den Schlägereien war es nur kurz davor, aber es fühlte sich ähnlich an.

Im Unterricht machte sie Blödsinn. Mit Krampen aus Papier schießen, eine Wasserpistole einsetzen oder mit dem Stuhl kippeln. Sie hatte inzwischen einen Einzelplatz ganz hinten. Und wenn es ganz arg wurde, flog sie raus. So ein Tag war gerade mal wieder. Sie stand draußen vor der Klassenzimmertür, durfte sich nicht entfernen und langweilte sich. Dieses Gefühl, ausgesperrt zu werden, kannte sie. Es hatte für sie keinen Schrecken mehr. Hier vor der Klassentür passierte ihr nichts und die Stille war irgendwie unerträglich, aber auch gut. Sie versuchte leise in ihrem Kopf und im Herzen zu singen. Das beruhigte sie und tat gut. Der Chor war das, worauf sie sich in der Woche freute. Oder, wenn sie singen konnte und sie niemand hörte. All die Schlager der Langspielplatten von der Mutter. So sang sie innerlich gerade „Heißer Sand“ von Mina. Aber es wollte nicht so trösten wie sonst. Sie schaute sich aus Langeweile alle Jacken an, die an der Garderobe hingen.

Dann griff ihre Hand wie von selbst in die Jackentasche der ersten Jacke. Es war pure Neugierde, was wohl darin sein könnte. Ein vertrautes Gefühl von Aufregung, der Angst, dass es jemand sehen könnte. In diesem Gefühl, diesem wohlvertrauten und doch ebenso schrecklichem Gefühl, verharrte sie und ging systematisch jede Jackentasche durch. In einer Jacke fand sie eine wunderschöne, schillernde Glasmarmel, die nahm sie schnell an sich und steckte sie in ihre selbst gebügelte Lastexhose.

Das spezielle Bügeln hatte der Papa ihr gezeigt. Wenn die Hose nach dem Schleudern noch nass war, wurde sie auf Bügelfalte aufeinandergelegt und unter der Matratze gerade mittig ausgerichtet, dann war sie am Morgen wie durch Zauberhand nur vom Schlafen gebügelt und hatte eine glatte Falte in der Mitte. Sie liebte diese Steghosen, auch wenn sie dieses klamme, feuchte Etwas morgens nicht gern anzog. Manchmal dauerte es bis zur fünften Stunde, bis sie am Körper getrocknet war.

Und nun verschwand die Marmel in der Hosentasche. Damit sie sich nicht abzeichnete, wurde geschwind ein zerknülltes Stofftaschentuch hinzugestopft. In einer blauen Jacke, ihr Herz pochte laut, fühlte sie ein Geldstück. Sie schaute sich nach allen Seiten um. Es war ein Fünfzigpfennigstück! Schnell steckte sie es ein, da läutete auch schon die Pausenglocke und die Kinder stürzten laut grölend aus dem Klassenraum. Keine Zeit, nachzudenken, es zurückzustecken. Das Herz klopfte am Hals ganz deutlich und laut. Sie erinnerte sich trotzig an die Eltern. Wie oft hatten sie immer nur schlecht von ihr gedacht? Wie oft wurde ihr gesagt, dass sie lüge? Wie oft hatte sie zu Unrecht Prügel bezogen? Kathi blieb eine Situation in Erinnerung, die sie nicht mehr losließ.

Es war bestimmt schon ein Jahr her, die Mutter hielt Mittagsschlaf. Auf einem kleinen Tischchen in der Essdiele lagen Mutters gesammelte Fünfzigpfennigstücke für die Waschmaschine im Keller. Sie wusste nicht, wie viele es waren, aber nie, niemals hätte Kathi trotz Hunger und Sehnsucht nach etwas Süßem ein Stück entwendet. Niemals!

Nachdem die Mutter wach war und sie die Münzen durchgeschaut hatte, schrie sie: „Kinder! Beide! Kommt sofort hierher!“

Kathi und Britta standen vor dem Tischchen und Kathi lief es heiß-kalt vor Angst durch den Körper. Britta stand ganz still da, man hörte nicht einen einzigen Atemzug von ihr.

Als wenn sie nicht da sei, so wie meist. Mama schaute beide durchdringend an: „Sagt die Wahrheit, wer von Euch hat ein Fünfzigpfennigstück gestohlen?“

„Ich nicht“, schoss es sofort aus Kathis Mund.

„Ich auch nicht“, antwortete Britta still.

Die Mutter packte Kathi am Oberarm und drückte fest zu. „Sag die Wahrheit, Kathi und gib das Geld zurück, dann passiert dir nichts weiter!“

„Ich war es doch aber nicht, Mama!“, weinte Kathi verzweifelt.

„Du lügst, sag die Wahrheit!“ Und die Mutter drückte weiter zu, die Fingernägel bohrten sich in ihren kleinen Oberarm. „Bis das Blut spritzt!“, schrie die Mutter erregt.

„Mama, bitte nicht, weinte nun Britta.“

Kathi biss die Zähne zusammen, sie wollte ehrlich bleiben, sie wollte es aushalten.

So oft hatte sie auch vor Brittas Augen geübt, Schmerz auszuhalten. Der Vater sagte hin und wieder zu ihr: „Indianerherz kennt kein Schmerz.“

So übte sie mit dem Kopf immer wieder gegen die Wand zu schlagen, dass sie keine Kopfschmerzen bekam, für den Fall, dass die Mutter ihr auf den Hinterkopf schlug oder Backpfeifen gab. Sie haute Arme und Beine gegen die Wände, um keine Schmerzen mehr zu empfinden. Manchmal brach sie sich den ein oder anderen Knochen, Finger oder Fuß und wusste nicht, ob es von den Übungen oder durch die Misshandlungen der Mutter ausgelöst wurde. Die Schmerzen kamen oft später oder gar nicht.

Brittas erschrockenes und die Ausrufe beim Üben spornten sie noch an und Kathi war stolz darauf, so viel ertragen zu können.

Doch jetzt, dieser schreckliche Schmerz im Oberarm, das Blut lief langsam zum Ellenbogen, weiter über den Unterarm herab und tropfte vom Handgelenk auf den Boden, da ertrug sie es nicht länger. Keine Übung darin, diesen Schmerz auszuhalten. Kathi schluchzte: „Ja, Mama, ich war es, ich habe das Geld genommen.“ Sofort lockerte sich der Griff und Kathi atmete tief durch.

Dieses Erlebnis hatte sie nie vergessen. Sie wurde gezwungen zu lügen! Kathi gestand etwas, was sie nie getan hatte. Und Britta steckte ihr später das Geldstück zu, damit sie es zurückgeben konnte.

Das ging Kathi durch Kopf und Herz. Die Mutter war sich doch sowieso sicher, dass sie stiehlt, dachte sie trotzig. Also warum sollte sie es dann nicht auch tun? So, hatte sie einen neuen Zeitvertreib, wenn sie aus dem Klassenzimmer flog: „Jacken kontrollieren“.

Kathi war die absolute Außenseiterin, aber mit bestimmten Aktionen machte sie auf sich aufmerksam. Sie schoss in der Pausenhalle häufig mit dem Turnbeutel die Deckenlampen kaputt. Die Haftpflichtversicherung ihrer Eltern schrieben regelmäßig Mahnungen.

Am Ende des zweiten Schuljahres standen zwei Sätze im Zeugnis, die ihr Schulleben bestimmten: Kathi ist eine Träumerin. Kathi prügelt sich häufig auf dem Schulgelände, anbei die Unfallprotokolle.

Kathi brauchte Steigerungen. Dieses Gefühl der Angst und dass doch alles gut geht. Sie kletterte aufs Schuldach. Sie klaute die Handtasche vom Pult der Lehrerin und schmiss sie ins Gebüsch – ohne etwas zu stehlen, denn sie mochte sie. Sprang aus dem Klassenfenster und brach sich den Fuß.

Das Verarzten, Röntgen, Verbinden ihrer körperlichen Wunden tat so gut. Obwohl sie wusste, dass das nicht richtig war, gestand sie sich dieses Gefühl nicht wirklich ein. Sonst hätte sie es viel mehr genießen können, dieses warme Gefühl, versorgt zu werden.

Aber um ihr Glück, ihre kleine verschüttete von Angst und Verletzung geschundene Seele, die voller Liebe war, kümmerte sich niemand. Und sie wusste nichts davon. Sie lebte einfach irgendwie und dachte, so muss das eben sein. Sie liebte die Mama und den Papa, die Schwester und die Lehrerin, Frau Voigt und Frau Schlichting, Frau Star und die Tauben unterm Sims, die gurrten, um sie damit beruhigten. Sie wollte sie alle beschützen und sie sollten glücklich sein. Dafür tat Kathi alles, was ihr möglich war. Die fünfzig Pfennig aus der Jackentasche, davon kaufte Kathi der Mama eine 5er Packung Milde Sorte, die rauchte sie so gern.

Und wenn sie abends mit diesen heiß-kalt-Gefühlen im Bett lag und ihr Nachtgebet sprach: „Lieber Gott, danke, dass ich lebe. Lass es Papa, Mama, Oma, Opa, Britta und auch den Tauben immer gut gehen“, die Tür leise aufging und vom Papa ein: „Schläfst du schon, Kathi?“, kam, dann musste sie ganz kurz überlegen, ob sie antworten sollte. Denn eine Antwort bedeutete, warme Arme und ihren Papa ganz für sich. Geborgenheit und Liebe spüren. Wenn dann die Dinge passierten, die sie nicht wollte, wusste sie schon, das hatte sie in ihrem jungen Leben schnell begriffen: „Das wollte Papa, das wollten die Männer, das ist das Wichtigste für sie.“ Und wenn das so war, dann musste und wollte sie ihm das geben, denn sie liebte ihn doch!

„Nein ich schlaf noch nicht“. Ganz steif lag sie da, kniff die Augen zu und dachte wieder einmal, wie sie einen Jungen aus dem eingebrochenen See im Winter vor dem Haus rettete, oder durch ein Feuer in ein brennendes Gebäude lief, um ganze Familien zu retten.

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