Kitabı oku: «Halbe-Halbe, einmal und immer», sayfa 2
Sophie beendete die Selbstbetrachtung mit einem Seufzer, einer kleinen Grimasse für ihr Spiegelbild und schlappte auf Socken ins Schlafzimmer. Dort legte sie nicht einfach den Bademantel ab und schlüpfte unter ihre Bettdecke, sondern suchte aus der Tiefe ihrer vollgestopften Schrankhälfte einen alten Flanellschlafanzug heraus und zog ihn an. Der würde Jens bremsen, falls er heute Abend noch einen Annäherungsversuch unternehmen wollte. Und er würde ihr Zeit verschaffen zu überlegen, statt sich seinen lüsternen Wünschen und ihren hitzigen Reflexen vorschnell zu ergeben.
2 – Sophie entdeckte den Brief
erst am Abend des folgenden Tages, kurz bevor sie ihn mit dem nutzlosen Rest des Briefkasteninhalts in den Papierkorb werfen wollte. Es war ein Standardkuvert aus Recyclingpapier, und eine Frankiermaschine hatte den Absender außen darauf gedruckt: Amtsgericht Küstrow. Im ersten Moment glaubte sie an einen Irrläufer, denn sie kannte keinen Ort namens Küstrow. Aber ihr Name und ihre Adresse waren korrekt im Fenster des Umschlags zu lesen. Sie riss den Brief auf und las
Amtsgericht Küstrow,
Nachlassgericht,
Aktenzeichen …
Sehr geehrte Frau Schatz,
in der Nachlassangelegenheit
Marie-Luise Berkemann, geborene Schatz,
geboren am 25. 11. 1938 in Breslau (Wroclaw),
verstorben am 10. 7. 2018 in Küstrow,
mit letztem gewöhnlichem Aufenthalt in …
Tante Marie-Luise, die Schwester der Mutter ihres Vaters, also ihre Großtante, war gestorben. Schon vor Monaten. Die Nachricht löste weder Betroffenheit noch Trauer bei Sophie aus, denn sie hatte die Verstorbene so gut wie nicht gekannt und war ihr nur einmal vor zwanzig Jahren bei ihrer Erstkommunion begegnet. Die Erinnerung daran war mehr als verschwommen und bestand hauptsächlich darin, dass die Tante eine ziemlich große Frau und irgendwie extravagant gewesen war – sie trug in der Kirche einen Hut, einen großen mit einer weichen breiten Krempe, eine Art Florentiner. Sophie las, neugierig geworden, weiter:
… sind Sie von dem vom Gericht bestellten Nachlasspfleger als gesetzliche Erbin ermittelt worden. Eine Sterbeurkunde erhalten Sie vom zuständigen Standesamt. Bitte legen Sie zum Nachweis von Erbberechtigung und Verwandtschaftsverhältnis dem Nachlassgericht folgende Urkunden vor: Personalausweis, Geburtsurkunde, Geburtsurkunde des Vaters …
Sophie überflog den Rest des Textes, der hauptsächlich aus Hinweisen zum Verfahren bestand, und ging dann mit dem Schreiben ins Wohnzimmer, wo Jens vor seinem Rechner saß.
»Meine Großtante ist gestorben.«
»Was? Wer? Du hattest eine Großtante? Ich dachte, deine Mutter wäre deine einzige Verwandte.«
»Ich hatte die Tante vergessen. Ich kannte sie ja kaum. Ich bin ihr nur einmal in meinem Leben begegnet.«
Jens antwortete nicht.
»Googel mir bitte mal Küstrow. Mit W am Ende.«
»Googel selbst«, sagte Jens.
»Bitte«, sagte Sophie, »du sitzt doch gerade am Rechner. Bevor ich meinen hochgefahren habe, hast du mir Küstrow schon dreimal aufgerufen.«
»Was ist das? Wozu willst du das denn wissen?«
»Das ist eine Stadt. Ich muss dort aufs Gericht.« Sophie wedelte mit dem Schreiben.
»Aber doch nicht jetzt gleich, oder?«
»Jens, bitte …«
»Hat dich jemand verklagt?«
»Jens, bitte! Es ist wegen der Großtante. Ich bin ihre Erbin.«
Jens sah von seinem Display auf. »Ach, echt? Hast du was geerbt?«
»Anscheinend, ja.«
»Was denn?«
Er streckte die Hand nach dem Schreiben aus, aber Sophie gab es ihm nicht. Sie sagte: »Keine Ahnung. Steht hier nicht drin.« Dann deutete sie auf Jens’ Rechner. »Küstrow. Mit K am Anfang und W am Ende.«
Jens schnaufte. Er tippte auf seiner Tastatur und sagte dann: »Küstrow in Brandenburg, dreißigtausend Einwohner, ist das dein Küstrow? Eine kleine Stadt, irgendwo in der hinterletzten Pampa, an der polnischen Grenze?«
»Gibt es noch ein Küstrow?«
»Nein.«
»Dann ist es wohl das Richtige.« Oh je, dachte Sophie. Das sind mindestens fünf Stunden Fahrt. Zehn Stunden hin und zurück, oder mehr. Im Winter. In meinem altersschwachen Wagen. Nur um einige Papiere abzuliefern …
Sie ging ins Schlafzimmer und grub aus ihrem Kleiderschrank einen alten Schuhkarton aus, den sie ganz unten und ganz hinten aufbewahrte, wie um ihn zu verstecken. Seit Jahren hatte sie ihn nicht hervorgeholt. Er enthielt keine Geheimnisse, nur Dokumente, Papiere, Fotos und kleine Andenken an die Familie, von der Sophie einmal ein Teil gewesen war. Sie breitete den Inhalt des Kartons auf ihrem Bett aus. Dokumente und Briefe waren noch mit Schreibmaschine geschrieben, Fotos vom Alter verfärbt. Sophie betrachtete sie zunächst ohne besondere Empfindungen. Was sie vor sich hatte, waren Echos aus einer fernen, ihr fremden Vergangenheit. Auf einigen Schwarzweiß-Fotografien sah Sophie Menschen, die sie nicht einmal kannte, und es gab wohl auch sonst niemanden mehr auf der Welt, der noch sagen konnte, um wen es sich handelte. Vielleicht die Eltern ihres Vaters? Sie starben, ehe Sophie alt genug war, sich an sie zu erinnern. Die Eltern ihrer Mutter, Spanier, die vor fünfzig Jahren nach Deutschland kamen, kannte Sophie, und sie lebten noch. Ihre eigenen Eltern auf deren großformatigem Hochzeitsfoto erkannte sie nur, weil sie wusste, wer abgebildet war. Auch sich selbst war sie fremd auf ihren Kinder- und Jugendbildern. Erst auf den Fotos von ihrer Abiturfeier sah sie sich endlich ähnlich, und Vater und Mutter sahen darauf aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Sie waren ein schönes Paar und besonders Sophies südländisch anmutende Mutter fiel auf. Der Anblick ihres Vaters bewegte Sophie schließlich doch noch, und sie erlaubte sich eine Minute der Trauer. Es war lange her, dass sie an ihn gedacht hatte, aber noch viel länger war er tot, verunglückt in einer regnerischen Nacht auf der Autobahn. Für immer jung, dachte Sophie, während sie sein Bild studierte. Er würde nie vor ihren Augen altern, kränklich und hinfällig werden und sterben. Für sie würde für immer ein gutaussehender, optimistischer Mittvierziger bleiben, der eines Abends Frau und Tochter zum Abschied geküsst hatte, in einen großen weißen Sprinter gestiegen, davongefahren und nie zurückgekehrt war.
Sophie schob die Fotos zur Seite und wandte sich den Papieren zu. Sie entdeckte rasch die Geburtsurkunde ihres Vaters, und ihre eigene auch. Ein Dokument, das ausdrücklich ihre oder ihres Vaters Verwandtschaft mit Tante Marie-Luise belegte, fand sie nicht. Sophie entschied nach kurzer Überlegung, dass das kein Problem sein konnte, denn das Nachlassgericht hatte sie ja bereits als Erbin identifiziert. Die Forderung, weitere Nachweise zu erbringen, musste eine Formsache sein.
Bei den Papieren fand Sophie auch Briefe und Honorarrechnungen eines Notars, der mit dem Nachlass ihres Vaters befasst gewesen war. Das brachte sie auf die Idee, einen Notar mit dem Nachweis ihrer Erbberechtigung zu beauftragen, statt hin und zurück tausend Kilometer zu fahren. Sie studierte die Rechnungen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was sie das kosten würde. Ein Notar war jedenfalls teuer, so viel fand sie heraus. Anscheinend wurde das Honorar irgendwie proportional zum Wert des Nachlasses berechnet. Es kam also darauf an, was sie geerbt hatte – hatte sie etwas geerbt? Was würde sie mehr (oder weniger) kosten, ein Notar oder eine Reise nach Brandenburg? Sophie musste solche Überlegungen anstellen. Sie hatte bisher nie viel verdient, und demnächst wäre sie arbeitslos. Sie besaß nur das wenige, was ihr der Vater in Form von ein paar Sparbriefen hinterlassen hatte. Dazu kam noch die Abfindung von ihrem letzten Arbeitsplatz. Aber das war auch nicht viel, sechs Monatsgehälter, und wahrscheinlich musste sie die auch noch versteuern … Seit ihrem Eintritt ins Erwachsenenleben lebte Sophie gezwungenermaßen sparsam, auch wenn ihr das nicht gefiel. Insgeheim fürchtete sie, dass ihr Geldmangel sie auf die Dauer kleinlich oder geizig machen würde oder schon gemacht hatte. Lieber wäre sie in Gelddingen so lässig, wie ihr Vater es gewesen war, und so unbekümmert wie ihre Mutter.
Eine Weile saß sie auf ihrem Bett zwischen Fotos und Papieren, bevor sie sich entschied. Es war letztlich wieder einmal Bequemlichkeit, die den Ausschlag gab: Sie würde einen Notar aufsuchen. Denn sie fürchtete sich mehr vor zehn Stunden Fahrt in ihrem alten Auto, noch dazu im Winter und in die tiefste, womöglich schneebedeckte ostdeutsche Provinz, als vor einer Rechnung über vielleicht einige Hundert Euro. Hatte sie erst einmal die Abfindung auf dem Konto, dann musste sie – wenigstes vorübergehend – keine Angst vor einer unvorhergesehenen Ausgabe haben. Und schließlich, sagte sie sich, irgendetwas würde sie ja ganz bestimmt erben, und das wog hoffentlich die Kosten für einen Notar auf.
Sophie legte die Urkunden, die sie brauchte, zur Seite, räumte den Rest der Bilder und Papiere wieder in den Schuhkarton und schob ihn zurück in den Kleiderschrank. Im Wohnzimmer saß Jens immer noch vor seinem Rechner.
»Jetzt, wo du reich bist«, sagte er, »solltest du endlich mal über zeitgemäße Anlageformen für dein Geld nachdenken. Sparbriefe bringen doch nichts.«
»Ich bin nicht reich«, sagte Sophie.
»Du musst die letzte direkte Verwandte deiner Großtante sein, sonst hätte jemand anderes vor dir geerbt«, sagte Jens. »Großnichten stehen in der gesetzlichen Erbfolge ganz weit hinten.« Sophie wusste nichts darauf zu sagen, und er fuhr fort: »Ich habe mal Seminare zum Erbrecht gemacht. Wir haben in meiner Bank oft mit Erben zu tun.«
Jens sagte immer ›wir‹ und ›meine Bank‹ und drängelte sich in jede innerbetriebliche Fortbildung. Er war fest entschlossen, irgendwie Karriere zu machen, und alles konnte nützlich sein.
»Ich glaube nicht, dass die Tante mir viel hinterlassen hat«, sagte Sophie. »Sie hat wohl den größeren Teil ihres erwachsenen Lebens in der DDR gelebt, wo es kaum Möglichkeiten gab, Reichtum anzuhäufen.«
»In der DDR …?« Jens verlor erkennbar das Interesse an Sophies Erbschaft. »Ist vielleicht auch besser so«, sagte er. »Als Großnichte musst du nämlich ohne Ende Erbschaftssteuer zahlen.« Dann wandte er sich wieder seinem Rechner zu.
Sophie suchte sich im Internet ein paar Notare heraus und schrieb deren Telefonnummern ab, um sie am nächsten Tag von ihrem Arbeitsplatz aus anzurufen. Sie würde zu demjenigen gehen, der ihr am ehesten einen Termin anbieten konnte.
3 – In ihren letzten zehn Arbeitstagen
war Sophie über Internet und Telefon mit einer dreihundert Kilometer entfernten Kollegin zusammengeschaltet, um sie einzuarbeiten. Die Frau hatte eine sympathische Stimme, einen leichten ostdeutschen Akzent und eine rasche Auffassungsgabe. Ehe eine Woche vergangen war, hatte Sophie kaum noch mehr zu tun, als über Kopfhörer und am Monitor zu verfolgen, was ihre Nachfolgerin sagte und tat.
Währenddessen verabschiedeten sich nach und nach diejenigen von Sophies Kollegen, deren Abteilungen am neuen Standort schon funktionierten und die hier nicht mehr gebraucht wurden, in den vorzeitigen Weihnachtsurlaub. Eine Entrümpelungs- und Umzugsfirma räumte die frei gewordenen Büros aus. Jeden Abend standen mehr Türen offen und gaben den Blick auf leere Räume frei. Jeden Morgen hallten Sophies Schritte lauter in den Fluren, auf denen sie fast nur noch die Männer traf, die die Büromöbel bewegten.
Die formlose Auflösung des Betriebs und der Belegschaft schlug sich auf die Stimmung bei der letzten Weihnachtsfeier nieder. Sie geriet zur rührseligen Abschiedsparty und lief ziemlich aus dem Ruder. Es wurde mehr getrunken als ohnehin üblich, und es fanden berauschte Verbrüderungen von Leuten statt, die sich bisher kaum gekannt oder vorher nie hatten leiden können. Es gab zahlreiche betrunken-feierliche Versprechen, einander nicht aus den Augen zu verlieren, auch wenn man nicht mehr miteinander arbeitete, und gelallte Liebesgeständnisse wie sonst nur an Fasching. (Werner: Schliebedisch, Sophie, schabedischonimmer … (Schluckauf); Sophie: Aber Werner, du bist doch verheiratet …) Nach Mitternacht kam es auf den Toiletten zu einigen unappetitlichen Eruptionen, wo sich Männer gegenseitig stützten und Frauen einander abwechselnd die Haare zurückhielten. Jens kam nicht zur Weihnachtsfeier von Sophies Firma mit, weil er, wie er sagte, in der Gesellschaft von besoffenen tätowierten Fernfahrern nicht feiern wollte. So musste Sophie nüchtern bleiben, um selbst heimfahren zu können, und obendrein fiel ihr dann auch noch die Aufgabe zu, morgens gegen drei eine Handvoll fahruntüchtiger Kollegen zu ihrem jeweiligen Zuhause zu bringen. Ihr Auto roch auch am nächsten Tag noch wie eine Kneipe.
Die Weihnachtsfeier von Jens’ Bank hatte dagegen fast den Charakter eines Balls und versammelte die Belegschaft aller Filialen in der Stadt. Sophie ging wie jedes Jahr gern mit. Es störte sie nicht, dass Jens sie als seine Partnerin sozusagen vorführte, weil er glaubte, dass Singlemänner bei seinem Arbeitgeber schlechtere Aufstiegschancen hatten. Sie freute sich einfach über die Gelegenheit, sich einmal festlich aufzubrezeln, ein Kleid zu tragen, Make-up und Schmuck, und zu tanzen – denn eine Dreimann-Band spielte auf der Feier richtige Tanzmusik. Jens konnte zwar tanzen, tat es aber nur widerwillig, sodass Sophie sich an seine Kollegen halten musste. Vor allem unter den Älteren von ihnen gab es hervorragende Tänzer, und sie hatte eine Menge Spaß, obwohl die allgemeine Stimmung nicht gerade ausgelassen war. Als der Abend früh endete, war niemand offensichtlich betrunken; keiner versuchte, jemand anderen zu umarmen oder gar jemandem an die Wäsche zu gehen, und alle konnten selbst nach Hause fahren.
Sophies letzter Arbeitstag war der vierundzwanzigste Dezember, und sie arbeitete bis spätnachmittags. Zu Hause angekommen nahm sie ein Bad und telefonierte dann im Bademantel und mit einem Handtuchturban um ihre feuchten Haare eine halbe Stunde mit ihrer Mutter. Carmen Schatz war einige Zeit nach dem Tod ihres Mannes, als Sophie die Ausbildung abgeschlossen hatte und berufstätig wurde, zusammen mit ihren Eltern nach Spanien gezogen und betreute die alten Leute dort. Sophie hatte Mutter und Großeltern in den ersten Jahren nach ihrem Umzug dreimal besucht und einen vierten Besuch dann so lange verschoben, bis er sich nicht mehr richtig anfühlte. Währenddessen wurden die Telefongespräche immer seltener. Irgendwann war Sophies Mutter dann so lange in Spanien, dass sie einen Akzent bekam und spanische Worte in ihre deutschen Sätze einbaute. Sie sprachen nie über Sophies Vater, und Sophie wollte nicht wissen, ob ihre Mutter vielleicht einen neuen Mann kennengelernt oder sogar noch einmal geheiratet hatte.
Weihnachtsabend und Silvester verbrachten Sophie und Jens wie jedes Jahr bei Jens’ Eltern. Die beiden mochten Sophie, und besonders Jens’ Mutter fand, dass sie die richtige Partnerin für ihren Sohn war. Sie hielt Sophie für fleißig, geduldig und fürsorglich und hatte ihr irgendwann einmal (unter vier Augen) die Aussage entlockt, dass sie gern Kinder haben wollte (was stimmte). Spätestens seit diesem Zeitpunkt gehörte Sophie zur Familie. Sophie fand Jens’ Eltern nett, langweilte sich aber immer ein wenig in ihrer Gesellschaft und auch auf gelegentlichen Familienfeiern mit Jens’ weiterer Verwandtschaft. Doch weil das nur selten vorkam, hielt sie es aus, und war das nicht überhaupt normal? Jede Familie ist eine Welt für sich, nicht entzifferbar und deshalb uninteressant für Außenstehende. Spannende Familien gibt es nur im Kino und in Romanen.
In der Silvesternacht morgens um zwei, als die Knallerei größtenteils vorüber war, bestand Jens darauf, noch in einen Club zu gehen. Weil sie mit Jens’ Wagen zu seinen Eltern gefahren waren, musste Sophie wohl oder übel mitkommen. Sie war müde, hatte sich einen Abend lang gelangweilt und das Silvesteressen, das Jens’ Mutter aufgetischt hatte, lag ihr schwer im Magen. Im flackernden Licht, der Hitze und dem monotonen Lärm des überfüllten Clubs verdichtete sich ihr Unwille zu einem starken Unbehagen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie sich nach einer banalen Arbeitswoche bedingungslos den Beats aussetzte und unterstützt von Alkohol und gelegentlich einer Pille bis zu Erschöpfung tanzte. In dieser Silvesternacht gelang ihr das nicht; stattdessen bekam sie Kopfschmerzen. Sophie kam sich deplatziert vor unter all den Mädchen in Partyklamotten. In ihrem Pullover war ihr zu warm, der Bund ihrer Hose spannte unangenehm, und sie fühlte sich alt und fett. Sie sandte Jens, den sie aus den Augen verloren hatte, eine Nachricht und verließ den Club. Draußen in der kalten Nacht brauchte sie zehn Minuten, um sich ein Taxi zu erobern, aber immerhin ließen währenddessen ihre Kopfschmerzen nach. Zu Hause spielte sie mit dem Gedanken, den Finger in den Hals zu stecken, um ihr Abendessen loszuwerden und leichter zu schlafen, entschied sich dann aber dagegen. Trotz ihrer Müdigkeit lag sie lange wach, lauschte ihrem aufgebrachten Magen, und ihre Gedanken wanderten ziellos. Dass sie einschlief, bemerkte sie nicht, und sie hörte auch Jens nicht kommen. Am nächsten Morgen lag er wie immer neben ihr.
4 – Während der Feiertage
und zwischen den Jahren vergaß (oder verdrängte) Sophie fast vollständig, dass sie arbeitslos war. Am ersten Arbeitstag des neuen Jahres stand sie zusammen mit Jens auf, bereitete Frühstück für beide und hörte zu, wie er sich für den Tag fertigmachte: die Dusche, den Föhn und die elektrische Zahnbürste, das Geräusch von Schranktüren, das Klappern von Absätzen. Ein kurzer Abschiedsgruß über die Schulter gesprochen, die Wohnungstür … und dann war Stille. Die Stille war so still, dass Sophie das Blut in ihren Ohren singen hörte. Sie war allein in der kleinen Wohnung und hatte nichts zu tun.
Wie es anfühlen würde, arbeitslos zu sein, das hatte sie sich nie ausgemalt, darüber hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Seit Jahren, eigentlich schon immer, lebte sie mit dem Blick auf die Uhr. Arbeitszeiten strukturierten ihre Tage und Wochen. Es gab immer Wege, die sie zu gehen, und Verpflichtungen, die sie zu erfüllen hatte, Termine, die es einzuhalten, und Aufgaben, die es abzuarbeiten galt. Es war nicht vorgesehen, dass das einmal enden würde. Leben war Routine. Urlaube und Wochenenden, Sonntage, an denen sie bis mittags im Bett lag, das waren nur überschaubare Atempausen mit der Aussicht auf die unvermeidliche Wiederkehr des Immergleichen.
Nun kam es Sophie so vor, als hätte ihr Leben plötzlich angehalten. Das machte sie ratlos. Natürlich, sie wusste, es ging weiter, immer ging es irgendwie weiter … sie würde einen neuen Job suchen, finden und ihn auch antreten, aber das war Zukunft. Nichts, das sie an einem kalten, dunklen Wintermorgen in einer kleinen vollgestopften Wohnung im siebenten Stock sinnvoll beschäftigte.
Sie saß auf dem Sofa und sah zu, wie es vor den Fenstern langsam Tag wurde. Dann begann sie, die Wohnung aufzuräumen.
5 – Sophie suchte zum ersten Mal
in ihrem Leben Arbeit. Es war eine neue Erfahrung für sie, und es erwies sich als überraschend frustrierend. Die Jobbörsen im Internet und die Computer der Arbeitsagentur zeigten wochenlang immer die gleiche Handvoll Jobs in ihrer Stadt und Region, für die sie vielleicht oder vielleicht auch nicht qualifiziert war. Auch in den Zeitungen fand sie nichts Passendes. Die Firmen, die sie anschrieb, antworteten nicht, und wenn doch, dann bekam sie knappe Standardabsagen. Sie las Bewerbungsratgeber, aber deren Geschäftsmodell, stellte sie fest, bestand offenbar darin, Arbeitssuchenden einzureden, dass es an ihrer eigenen bewerbungstechnischen Unfähigkeit lag, wenn sie nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurden, oder dabei scheiterten (weshalb sie Bewerbungsratgeber brauchten).
Eigentlich gab es Jobs – Vierhundertfünfzigeuro-Jobs ohne Ende. Leiharbeitsfirmen, die weit unter Tarif bezahlten, stellten immer Leute ein, und die Speditionen, bei denen sich Sophie bewarb, suchten Kurier- und Auslieferungsfahrer mit eigenem Fahrzeug als Subunternehmer. Aber einen normal bezahlten und sozialversicherten Vierzigstundenjob für eine Speditionskauffrau, den fand sie nicht. Natürlich gab sie die Suche nicht auf. Es konnte ja jederzeit irgendwo etwas genau für sie Passendes angeboten werden. Doch als immer wieder eine erfolglose Woche verstrich, als nach dreißig ergebnislosen Bewerbungen, Mails und Anrufen der Januar fast vorüber war, beschlich sie immer häufiger die Befürchtung, dass sie am Ende doch noch als Vierhundertfünfzigeuro-Hilfskraft oder für 1.300 brutto in einem Callcenter mit Schichtdienst oder hinter der Kasse eines Discounters landen würde.
Jens schien ganz zufrieden damit, dass Sophie viel zu Hause war. Wenn er von der Arbeit kam, fand er die Wohnung warm, aufgeräumt und sauber, den Kühlschrank gefüllt und meistens auch ein Abendessen vorbereitet. War sie unterwegs, machte es ihr nichts aus, seine Anzüge in die Reinigung und seine Hemden in die Wäscherei zu bringen und sie wieder abzuholen. Nachdem er sich versichert hatte, dass sie, obwohl sie kein Arbeitslosengeld bekam (denn sie hatte ja selbst gekündigt), die Hälfte der Miete für die gemeinsame Wohnung weiterzahlen konnte, hörte er auf, sie nach ihren Fortschritten bei der Jobsuche zu fragen.