Kitabı oku: «Halbe-Halbe, einmal und immer», sayfa 3
6 – Nach dem Termin mit dem Notar
vor Weihnachten, über die Feiertage, mit dem Einbruch der Arbeitslosigkeit in ihr Leben und der Jobsuche hatte Sophie ihre Erbschaft halb vergessen. Es überraschte sie deshalb ein wenig, als sie wieder einmal ein Schreiben des Amtsgerichts Küstrow im Briefkasten fand.
Sehr geehrte Frau Schatz,
in der Nachlassangelegenheit
Marie Luise Berkemann, geborene Schatz,
geboren am …
… erhalten Sie anliegenden Erbschein zur Kenntnisnahme und weiteren Verwendung.
Mit freundlichen Grüßen …
Den Nachlass ihres Vaters hatte Sophies Mutter geregelt, deshalb kannte sie sich nicht aus. Sie rief das Amtsgericht in Küstrow an und fragte sich durch. Der Nachlasspfleger war ein unfreundlicher Mann mit einer Jungenstimme.
»Mit dem Erbschein und ihrem Personalausweis können Sie Ihr Erbe antreten«, sagte er. »Die Habseligkeiten Ihrer Großtante lagern noch in dem Heim, in dem sie die letzten Jahre ihres Lebens wohnte. Mit dem Erbschein können Sie auch alle sonstigen Formalitäten abwickeln, mit Ämtern, Banken, Versicherungen, Bestatter, eben alles, was so anliegt. Der Erbschein macht Sie zur Rechtsnachfolgerin Ihrer Großtante. Verstehen Sie, was das bedeutet?«
»Ich denke schon«, sagte Sophie.
»Gut. Für manches brauchen Sie auch die Sterbeurkunde. Die müsste der Bestatter haben. Wenn nicht, bekommen Sie sie vom Standesamt. Wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie vorbei oder rufen Sie mich wieder an. Haben Sie E-Mail? Ich maile Ihnen die Adresse des Heims, zu dem Sie fahren müssen.«
Sophie nannte dem Mann ihre E-Mail-Adresse.
»Ich weiß noch nicht, wann ich bei Ihnen vorbeikommen kann«, sagte sie. »Küstrow ist so weit weg von mir, und es ist Winter, Sie wissen schon …«
»Nun ja«, sagte der Mann, »wir sind hier in Brandenburg, nicht in Sibirien. Hierher können Sie auch im Winter kommen. Schieben Sie Ihren Besuch nicht unnötig auf. Ihre Tante ist immerhin schon vor sieben Monaten … äh … verschieden. Es hat sich einiges angestaut, was auf Erledigung wartet.«
Sophie hatte reichlich Erfahrung mit Leuten, die sie am Telefon unter Druck zu setzen versuchten. Sie sagte: »Dafür kann ich nichts. Hätten Sie mich vor einem halben Jahr angeschrieben, dann wären wir schon durch mit der ganzen Sache.«
»Wir wussten damals noch überhaupt nicht, dass es Sie gibt. Also, kommen Sie so bald wie möglich und bringen Sie ein bisschen Zeit mit, Frau Schatz.«
»Drängen Sie mich nicht«, sagte Sophie. »Ich kann jetzt hier nicht alles stehen und liegen lassen, bloß weil Ihnen etwas eilig ist. Was sieben Monate gewartet hat, hat auch noch ein paar weitere Wochen Zeit. Ich komme, wann ich kann.«
Der Nachlasspfleger verabschiedete sich und legte auf. Sophie bedachte ihn mit dem Schimpfwort, das mit A anfängt, und wahrscheinlich sagte er gerade am anderen Ende der toten Leitung etwas Ähnliches. Dann wurde ihr bewusst, dass sie versäumt hatte zu fragen, was genau sich ›angestaut‹ hatte und was er mit ›einiges zu erledigen‹ gemeint hatte. Mit dem Telefon noch in der Hand überlegte sie. Ämter? Welche Ämter? Versicherungen? Banken? Ja, klar, die Tante besaß sicher ein Konto, das aufgelöst werden musste. Ein Bestatter? Wenn es jetzt noch, nach mehr als einem halben Jahr, etwas mit einem Bestatter zu regeln gibt, dachte Sophie, dann ist da wohl eine Rechnung offen. Hoffentlich hält die sich in Grenzen. Wo war die Tante eigentlich beerdigt? Gab es irgendwo ein Grab? Ich muss mir mal eine Liste machen, dachte sie, von allem, was ich nicht weiß.
Sophie hatte mittags mit dem Nachlasspfleger telefoniert. Bis Jens spätnachmittags nach Hause kam, hatte sie sich im Internet das Wetter in Brandenburg angesehen, entschieden, dass es unproblematisch war, und sich entschlossen, sobald wie möglich zu fahren. Die Fahrt war eh nicht zu vermeiden, und Aufschieben brachte keinen Vorteil. Außerdem – und das war der wichtigste Grund für ihren Entschluss – bot ihr die Reise eine Abwechslung. Auf diese Art und Weise kam sie mal raus aus der Wohnung und aus der Stadt. Brandenburg war nicht die Karibik, aber auch im Winter immer noch besser, als im siebenten Stock allein und tatenlos auf eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu hoffen.
»Sonntag fahre ich nach Küstrow«, sagte sie beim Abendessen.
Jens war mit seinen Gedanken woanders. »Was? Wohin?«
»Na … du weißt doch, wegen der Erbschaft.«
»Äh, ja … Warum Sonntag? Ist doch alles geschlossen.«
»Sonntag ist nicht so viel Verkehr auf der Autobahn, und ich muss meinen alten Wagen nicht so treten, um mitzuhalten.«
Jens antwortete nicht. Sophie wusste, dass es nichts brachte, was sie gleich tun würde, aber sie tat es trotzdem. Ihr war nach einer kleinen Stichelei zumute. Jens schuldete ihr noch was.
Sie sagte »Es sei denn, wir tauschen die Autos. Mit deinem komme ich schneller hin und zurück und spare mir eine Übernachtung.«
Augenblicklich hatte sie seine Aufmerksamkeit. »Auf keinen Fall!«, antwortete er mit Nachdruck.
»Aber warum denn nicht …?« sagte sie mit gespielter Harmlosigkeit. Er tappte in ihre Falle und versuchte, seine Ablehnung zu begründen, aber ihm fiel nichts Gutes ein.
»Der Wagen ist geleast«, sagte er schließlich.
»Ja und?«
»Wenn du einen Kratzer reinfährst …«
»Wenn du selbst einen Kratzer reinfährst, ist das dann besser?«
Jens antwortete nicht
»Meinst du, ich verkratze dein Auto eher als du?«
»Fahr mit deinem eigenen Wagen.« Jens’ Gesicht war gerötet, sein Nacken sichtbar verspannt. Er starrte auf seinen Teller. Sophie ließ ab von ihm. Er würde eher seine Eltern in die Sklaverei verkaufen, als sein Auto zu verleihen.
»Ist schon gut«, sagte sie. »War nicht ernst gemeint.«
Als sie später den Tisch abräumte, setzte sich Jens nicht an seinen Rechner oder vor den Fernseher, sondern packte seine Sportsachen, um wieder einmal trainieren zu gehen. Er fragte Sophie nicht, ob sie mitkommen wolle.
7 – Die Heizung von Sophies Wagen
hatte auch nach längerem Betrieb nur gerade genug Kraft, um ein Beschlagen der Fenster zu verhindern, weshalb sie während der Fahrt in ihren unförmigen Daunenmantel gewickelt blieb. Er verhinderte leider nicht, dass sie kalte Füße bekam und die ganze Strecke über behielt. Ansonsten verlief ihre Reise nach Brandenburg problemlos. Die Straße war trocken, der Verkehr hielt sich in Grenzen, und der alte Golf schnurrte auf der rechten Fahrbahn brav vor sich hin. Um nicht auf das schlechte und teure Essen der Autobahnraststätten angewiesen zu sein, hatte Sophie ein Sandwich und eine kleine Thermosflasche Kaffee dabei. Weil sie aber gut und schneller vorankam als gedacht, hielt sie erst an, als sie den größeren Teil ihrer Reise schon hinter sich hatte. Auf einem kahlen, leeren Parkplatz an der A11 nördlich von Berlin machte sie Halt, stieg aus und lief auf und ab, um wärmere Füße zu bekommen. Sie aß im Gehen, während ihr Kaffeebecher dampfend auf dem Wagendach stand. Der Tag war trüb. Es blies ein scharfer Wind über das platte Land. Zu beiden Seiten der Autobahn erhoben sich in einiger Entfernung winterschwarze Wälder wie Mauern. Der Verkehr brauste anonym und gleichgültig vorbei. Die Düsternis, die Einsamkeit des Ortes und die Weite, die der niedrige Horizont schuf, hatten für Sophie etwas Großartiges, fast Dramatisches – und sie war mitten darin. Das gefiel ihr. Sie war Hunderte Kilometer von ihrem gewöhnlichen Leben entfernt und gespannt darauf, was ihr der kommende Tag bringen würde. Sie fühlte sich wie am Beginn eines Abenteuers. Sie fühlte sich gut.
Das Gefühl begleitete sie wie der gerade noch spürbare Nachhall einer großen Glocke bis zum Ziel ihrer Reise. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichte sie in einem Außenbezirk von Küstrow ein schlichtes Hotel, in dem sie übers Internet ein Zimmer reserviert hatte. Nach einem Abendessen in einem vietnamesischen Imbiss neben einer Tankstelle, ein paar Straßen von Hotel entfernt, und einer Stunde vor ihrem Notebook ging sie früh zu Bett. Als sie das Licht löschte, wurde ihr bewusst, dass sie zum ersten Mal seit Jahren allein schlafen und allein aufwachen würde. Allein. Wie war das? In den Minuten (oder waren es nur Sekunden?) zwischen Wachen und Traum erforschten ihre Sinne noch die für sie neue Situation. Das Hotelbett war nicht so bequem wie ihr eigenes (- das sind Hotelbetten wohl nie), aber es gehörte nur ihr. Die Bettdecke war nur für sie da. Es gab nur ihren eigenen Atem in der Stille. Niemand lag warm und schwer neben ihr oder drängte sich in der Dunkelheit mit erigiertem Penis an sie. Wenn sie sich streckte, wälzte oder rekelte, dann rempelte sie niemanden an, und niemand protestierte brummend. Sie musste keine Rücksicht nehmen. In dieser Nacht war sie für sich, hatte keine Verantwortung. Allein und verantwortungslos, auch das war Abenteuer. Sophie schlief ein.
8 – Sophie hatte keinen Wecker
mitgenommen, wachte später auf als geplant und begann den Tag in Eile. Daher verzichtete sie auf eine Dusche, wusch nur rasch ihr Gesicht und flocht sich eilig einen unordentlichen Zopf, den sie mit ein paar Haargummis zusammenhielt. Sie zog wieder die Kleidung vom Vortag an, Jeans und Rollkragenpullover, die noch nach dem vietnamesischen Imbiss rochen, und schlüpfte in Stiefeletten mit flachem Absatz. Ihr Frühstück beschränkte sie auf einen Kaffee und ein Croissant. Zuletzt putzte sie gründlich ihre Zähne – Sophie ließ schon mal eine Dusche aus, wenn sie annehmen konnte, dass das nicht auffiel, aber Zähne putzte sie immer und mit heiligem Ernst. Dann fühlte sie sich bereit für ihre Runde durch Küstrow und Umgebung, um ihr Erbe anzutreten – was immer das war.
Um nicht allein auf ihr Smartphone angewiesen zu sein, sondern auch einen Überblick zu haben, kaufte sie an einer Tankstelle einen Stadtplan und eine Umgebungskarte und studierte sie eine Weile, um sich zu orientieren. Ihr erstes Ziel war das Heim, in dem ihre Großtante die letzten Monate ihres Lebens verbracht hatte. Es war nicht schwer zu finden. Eine halbe Stunde fuhr sie auf schmalen, buckeligen Straßen, vorbei an winterlich kahlen Feldern, die sich bis zum Horizont erstreckten. Je weiter sie hinaus aufs Land kam, umso geringer wurde der Verkehr. Wie die wenigen Autos, die ihr begegneten, fuhr Sophie mit Licht, denn der Tag wollte nicht richtig hell werden.
An Rande eines Dorfes, eigentlich nur einer losen Gruppe von wenigen alten Häusern, fand Sophie etwas abseits das Pflegeheim. Es bestand aus einer Ansammlung von Bauten verschiedener Epochen in den Resten eines Parks. Das Hauptgebäude am Ende einer geraden Zufahrt und einer lückenhaften Allee war alt, vielleicht zweihundert Jahre, schätzte Sophie, drei Stockwerke hoch, breit, mit vielen Fenstern und einem spitzen roten Ziegeldach, ehemals wohl ein Gutshaus. Zwei andere lang gestreckte mehrgeschossige Häuser, kasernenartige Zweckbauten, stammten erkennbar aus der DDR-Zeit. Zwei weitere waren in jüngerer Zeit erbaut worden, von offenbar gleichgültigen Architekten ohne gestalterischen Ehrgeiz. Gebäude, Stellplätze und Zufahrten hatten den Park ausgehöhlt, nur kleine Rasenflächen und nur wenige alte Bäume übrig gelassen, die auch noch verstümmelt worden waren, um nirgendwo im Weg zu sein. Vielleicht war die Anlage im Sommer, wenn die Bäume Blätter hatten, noch irgendwie ansehnlich. Jetzt, im Februar, fand Sophie ihren Anblick deprimierend. Wer immer dieses Heim betrieb, gab sich keine Mühe, den Menschen, die er im letzten Abschnitt ihres Lebens aufbewahrte, noch ein wenig Schönheit zu bieten. In einem Laden wie diesem werde ich nicht enden, dachte Sophie trotzig, während sie die breite Treppe des Haupthauses ins Hochparterre emporstieg. Ich werde Kinder haben und gut zu ihnen sein. Dann werden sie mich nicht zum Ende meines Lebens an einen Ort wie diesen hier abschieben.
So prächtig das alte Haus von außen noch wirkte, so schäbig war sein Inneres. Sophie lief auf stumpfen PVC-Böden von undefinierbarer Farbe durch schlecht beleuchtete Korridore mit fleckigen Wänden und öffnete Türen voller Narben, alle auf gleicher Höhe, wo Rollenbetten oder Bahren anstießen. Es war still und roch ungelüftet und nach billigem Essen. In der Verwaltung im ersten Stock wurde sie schon erwartet, und die Frau schien sich über ihr Kommen sogar zu freuen. Obwohl sie wusste, wen sie vor sich hatte, studierte sie Erbschein und Personalausweis eingehend und machte sich Fotokopien davon. Sophie sah ihr dabei zu. Die Frau wirkte wie Ende vierzig, war aber wohl jünger. Ihre Kleidung, Schuhe und Haarschnitt deuteten darauf hin, dass sie entweder nicht gut verdiente, einen schlechten Geschmack hatte oder ihr Geld nicht für sich selbst ausgab.
Sie sagte: »Ich habe Ihnen die Sachen Ihrer Tante schon mal bereitgestellt.« Sie deutete auf einen alten Koffer und einen Umzugskarton in einer Ecke des Büroraums.
»Das ist alles?« sagte Sophie. Das ist alles, was von achtzig Jahren Leben übrig bleibt?
»Es gibt auch noch …«, sagte die Frau und zog aus einer Schreibtischschublade einen größeren Klarsichtbeutel mit Druckverschluss, »… einige persönliche Kleinigkeiten, die Ihre Tante immer bei sich trug.«
Sie hielt den Beutel hoch. Sophie sah ein altes Portemonnaie, einen Schlüsselbund, eine kleine Damenuhr und zwei Eheringe. »Das ist alles?«, wiederholte sie.
»Das ist alles. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen nicht viel aus ihrem früheren Leben mit. Wir haben hier keinen Platz dafür. Aber die meisten bleiben ja auch nicht lange …«
»Ich verstehe«, murmelte Sophie.
»Mein herzliches Beileid«, sagte die Frau plötzlich.
»Danke«, antwortete Sophie automatisch.
»Als alleinige Erbin Ihrer Tante sind Sie ihre, äh, Rechtsnachfolgerin. Verstehen Sie, was das bedeutet?«
»Ich weiß«, sagte Sophie. »Der Nachlasspfleger hat mir das auch schon erklärt.«
Die Frau schien erleichtert. »Gut. Wir müssen nämlich noch ein paar geschäftliche Dinge klären.«
In Sophies Kopf begann eine kleine Alarmglocke zu klingeln.
»Die, äh … Kosten für den Aufenthalt Ihrer Tante hier bei uns«, fuhr die Frau fort, »waren durch ihre Rente und die Pflegeversicherung nicht vollständig gedeckt. Es gibt da ein Defizit, verstehen Sie, das wir, äh … ausgleichen müssen. Eine Forderung, die wir Ihnen in Rechnung stellen müssen.«
Sophie dachte wieder: Oh mein Gott. Die wollen Geld von mir. Sie sagte: »Wie viel ist es denn?«
Die Frau hob suchend einige Papiere auf ihrem Schreibtisch an, bevor sie antwortete: »21.406 Euro. Und 52 Cent.«
Einundzwanzig … tausend … Sophie konnte nicht fassen, was sie hörte. Ihr Magen zog sich zusammen. Einen Moment lang ging in ihrem Kopf alles Drunter und Drüber. Dann war ihr erster klarer Gedanke: 21.000, das ist die Hälfte von allem, was ich besitze, die Abfindung für meinen Arbeitsplatz schon eingerechnet.
»Das muss ich bezahlen?« sagte sie.
»Als Alleinerbin Ihrer Tante, ja.«
»Das heißt, ich habe Schulden geerbt.«
»Man erbt halt auch Schulden«, sagte die Frau. »Aber sie haben ja noch das Haus.«
Die Überraschungen nahmen kein Ende. »Das Haus? Welches Haus? Meine Großtante hatte ein Haus?«
»Wissen Sie das nicht?«
»Ich kannte sie doch gar nicht. Zuletzt getroffen habe ich sie als Kind, vor zwanzig Jahren, und seitdem keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt. Dann kam vor Weihnachten ein Schreiben des Nachlasspflegers, und plötzlich war ich ihre Erbin.«
»Ich verstehe«, sagte die Frau. »Wissen Sie, das Ganze wäre für uns alle, für Sie und uns, heute einfacher, wenn Ihre Tante uns ihr Haus einfach überschrieben hätte. Aber sie hat sich geweigert und noch versucht, es zu verkaufen, aber daraus wurde nichts. Keine Ahnung, warum. Währenddessen wuchsen ihre, äh, Verbindlichkeiten immer weiter an. Bevor wir sie pfänden konnten, äh … verschied sie.«
Pfänden … Sophie sagte: »Sie wollten meiner Großtante das Haus wegnehmen?«
»Frau Schatz, wir sind ein Wirtschaftsunternehmen, kein Wohltätigkeitsverein. Wir müssen unsere Kosten gedeckt bekommen und auch noch einen Gewinn machen. Das ist nun mal so. Haben Sie zufällig kaufmännische Kenntnisse?«
»Ja.«
»Nun, dann sollten Sie ja wissen, wie das funktioniert.«
Sophie stand auf. »Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«
»Wir schicken Ihnen die Rechnung«, sagte die Frau.
Sophie schlüpfte in ihren Mantel und stopfte den Plastikbeutel mit den Sachen ihrer Tante in ihre Schultertasche.
»Hilft mir jemand tragen?«
»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Wir haben zu wenig Personal.«
Sophie trug den Umzugskarton zuerst nach unten. Er war nicht schwer. Als sie zurückkam, um den Koffer zu holen, stand er schon im Korridor, und die Tür zum Büro war geschlossen.
Sophie verließ das Gelände des Heims fast fluchtartig. Hätte ihr Wagen einen stärkeren Motor gehabt, wäre sie mit durchdrehenden Rädern angefahren. Sie durchquerte wieder die Ortschaft, an deren Rand das Heim lag, und fand am Ortseingang einen kleinen Parkplatz mit ein paar Hinweisschildern zu Rad- und Wanderwegen und einem Ortsplan. Dort hielt sie, um ihre Gedanken zu ordnen und zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Das Erste, das ihr einfiel, war, den Nachlasspfleger anzurufen. Als er sich meldete und sie erkannt hatte, hielt sich Sophie nicht mit langen Vorreden auf.
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass meine Großtante Schulden hatte?«
»Sie haben nicht gefragt.«
»Aber … was hätte es Sie denn gekostet …«
»Frau Schatz«, unterbrach er sie, »es ist nicht meine Aufgabe, Sie in Erbangelegenheiten zu beraten, und schon gar nicht, Ihnen rechtswirksame Auskünfte zu geben. Das darf nur ein Anwalt. Sie hätten sich eben informieren sollen, bevor Sie den Erbschein beantragt haben. Dann hätten Sie das Erbe noch ausschlagen können.«
Hätte, hätte … Nun ist es zu spät und sinnlos, weiter darüber zu reden, dachte Sophie. Sie atmete einmal tief durch, um ihre Frustration zurückzudrängen, und sagte dann: »Wo steht denn das Haus meiner Großtante?«
»Grobitzer Landstraße 210«, antwortete der Nachlasspfleger, ohne zu zögern.
»Wo ist das?«
»In Grobitz, nehme ich an.«
Sophie fragte nicht, was oder wo Grobitz war. Stattdessen sagte sie: »Wo ist meine Großtante eigentlich beerdigt?«
»Das weiß ich nicht. Das muss das Pflegeheim wissen, das hat die Bestattung organisiert.«
»Okay. Und bei welcher Bank hatte sie ihr Konto?«
»Bei der Volksbank Küstrow. Ich weiß aber nicht, bei welcher Zweigstelle.«
»Das finde ich selbst heraus«, sagte Sophie. »Ich melde mich wieder, wenn ich noch Fragen habe.« Sie unterbrach die Verbindung ohne ›Vielen Dank‹ und ›Auf Wiedersehen‹. Dann saß sie fest in ihren Mantel gewickelt in ihrem kalten Auto und blickte über die winterliche Landschaft, über verwaiste Viehweiden und leere Felder. Es hatte zu schneien begonnen, aber nur wenig, und der Schnee war fein wie Puderzucker. Er trieb waagerecht im Wind vor ihrer Windschutzscheibe vorbei und in Schlieren über den trockenen Asphalt der Straße.
Nach einer Weile kramte Sophie den Plastikbeutel aus ihrer Tasche und leerte seinen Inhalt auf den Beifahrersitz neben sich. Dann untersuchte sie mit spitzen Fingern die kleine Sammlung. Die Geldbörse war bis auf das hinterste Fach leer. Dort fand Sophie zwei kleine, alte Fotos. Sie waren so abgegriffen, vergilbt und verblichen, dass sich auf ihnen kaum noch etwas erkennen ließ. Mit Mühe machte Sophie aus, dass sie einen Mann in Uniform zeigten. Sie hielt die Bilder nebeneinander und stellte fest, dass es sich um zwei verschiedene Männer handelte, oder jedenfalls zwei verschiedene Uniformen. Die Gesichter waren wegen des Zustands der Fotos und des schlechten Lichts im Inneren des Autos nicht zu unterscheiden. Auf den Rückseiten stand nichts. Sophie schob die Bilder vorsichtig in ihre Brieftasche und steckte die leere Geldbörse wieder in den Beutel.
Die kleine alte Uhr lief nicht. Ihre Vergoldung war größtenteils abgenutzt, das Glas trüb und das Zifferblatt fleckig. Sophie erkannte den Markennamen nicht. Sie klopfte und schüttelte und lauschte an dem kleinen Gehäuse, bevor sie auf die Idee kam, die Uhr aufzuziehen. Und tatsächlich, nach ein paar vorsichtigen Umdrehungen der winzigen Krone nahm der Sekundenzeiger wieder seine Runden auf. Sophie hielt mit angehaltenem Atem die Uhr an ihr Ohr und hörte das Werk leise und fleißig arbeiten. Wie lange tat es das schon? Fünfzig, sechzig, siebzig Jahre?
Zwei Eheringe im Nachlass bedeuteten wohl, dass die Großtante Witwe gewesen war. Die Ringe waren ungewöhnlich breit und dick und deshalb spürbar goldgewichtig, der kleinere der beiden fast zu klobig für eine Frauenhand. Sophie streifte ihn über ihren rechten Ringfinger, und er passte perfekt. Sie besaß nur wenig Schmuck, nichts davon wertvoll, und trug nur welchen zu festlichen Anlässen. Deshalb fühlte sich der Ring ungewohnt an, aber er gefiel ihr auch. Sie drehte die beringte Hand hin und her und mochte den Anblick. Steht mir gut, dachte sie. Als sie den Ring wieder vom Finger ziehen wollte, saß er fest. Nach ein paar vergeblichen Versuchen entschied sie, ihn anzubehalten. Schließlich gehörte er ihr ja; sie hatte ihn geerbt. Sie musste ihn nicht wieder abnehmen. Solange sie ihn am Finger hatte, ging er jedenfalls nicht verloren. Den zweiten Ring verstaute sie in ihrer Brieftasche.
Und dann war da noch der Schlüsselbund: zwei Sicherheits- und zwei altertümliche Bartschlüssel, dann noch ein kleiner, der wohl zu einem Briefkasten gehörte, und ein Messingschlüssel, wie er für Möbel üblich ist. Nichts daran war ungewöhnlich – außer, dass es die Schlüssel für ihr Haus waren.
Ein Blick auf Telefon und Karte zeigte Sophie, dass sie sich gerade näher an Grobitz als an Küstrow befand. Es war noch nicht Mittag, und sie hatte noch keinen Hunger. Deshalb entschied sie, sich das Haus ihrer Tante anzusehen, bevor sie zurück in die Stadt fuhr, um irgendwo etwas zu essen. Das Haus, das sie geerbt hatte. Sie warf den Plastikbeutel und die leere alte Geldbörse in einen Abfallkorb am Rande des Parkplatzes und machte sich auf den Weg.
Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Es schneite stärker, aber der Schnee war immer noch so fein und trocken, dass ihn der Fahrtwind von der Frontscheibe blies und Sophie keinen Scheibenwischer brauchte. Inzwischen durchquerte sie eine abwechslungsreichere Landschaft mit welligem Gelände. Die Felder waren weniger weitläufig und durchsetzt von flachen Anhöhen, auf denen Bäume oder Gebüsch wuchsen. Auch der Wald, der bisher immer nur eine schwarze Linie am Horizont gewesen war, rückte näher. Grobitz war kein Dorf, sondern bestand aus zwei kurzen Reihen kleiner, älterer, spitzgiebeliger Häuser auf beiden Seiten der Durchgangsstraße. Sophie suchte nach einem Schild mit einem Straßennamen und nach Hausnummern, fand aber nichts. Ehe sie anhalten konnte, war sie schon durch Grobitz hindurch und musste zweihundert Meter weiterfahren, bevor sie einen Feldweg fand und wenden konnte.
Auf dem Rückweg hielt sie beim ersten Haus auf ihrer Straßenseite auf dem Seitenstreifen an. Der Ort schien ausgestorben. Es war kein Mensch zu sehen, den sie fragen konnte, also musste sie an Türen klopfen oder klingeln. Irgendwo. Das erste Haus war so gut wie jedes andere.
Ein älterer Mann öffnete auf ihr Klingeln.
»Entschuldigen Sie, dass ich störe …«, begann Sophie, und dann fing im Haus ein kleiner Hund wie rasend an zu bellen.
Der Mann wandte sich halb von Sophie ab und rief: »Hilde … Hilde! Bring doch mal den Hund zum Schweigen!«
Das Hundegebell verstummte. Sophie sagte eilig, um der nächsten Störung zuvorzukommen: »Ich suche die Grobitzer Landstraße 210.«
Ehe der Mann antworten konnte, rief eine Frauenstimme aus der Tiefe des Hauses: »Herrmann! Ist das die Post?«
»Nein, das ist nicht die Post, hier ist eine junge Frau, die sucht …«
»Die Grobitzer Landstraße 210«, sagte Sophie schnell.
Hinter dem Mann erschien seine kleine, rundliche Frau in der Tür. Sie musterte Sophie neugierig.
»Grobitzer Landstraße, da sind sie hier richtig«, sagte der Mann.
»Wir sind 207«, sagte die Frau und zog ihre Strickjacke fröstelnd vor ihrem massigen Busen zusammen. »Da drüben das letzte Haus, das ist die 208.«
»210 gibt’s hier nicht«, sagte der Mann.
»Kommen Sie erst mal rein«, sagte die Frau zu Sophie. »Wir heizen ja sonst für die Straße.«
»Bitte, ich muss weiter …«, sagte Sophie.
»Nun kommen Sie schon. Wir können uns auch im Warmen unterhalten.«
Sophie folgte dem Paar widerwillig durch einen kurzen, engen Korridor in ein winziges, mit schweren dunklen Möbeln zugestelltes Wohnzimmer. Es roch nach Hund.
»Setzen Sie sich doch. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
»Nein, danke, ich will Ihnen keine … ich muss weiter«, sagte Sophie.
»Wo soll das denn sein, 210?«, fragte der Mann.
»Sie sucht vielleicht das Russenhaus«, sagte die Frau zu ihrem Mann.
»Ach ja, das Russenhaus.«
»Auf der anderen Straßenseite, wo die geraden Hausnummern sind«, sagte die Frau zu Sophie, »gibt es bis zum nächsten Ort nur noch ein Haus, ungefähr eineinhalb Kilometer von hier, abseits der Straße. Das könnte die 210 sein.«
»Das sehe ich mir an«, sagte Sophie und bewegte sich vorsichtig rückwärts in Richtung des Ausgangs. »Sicher ist es das Haus, das ich suche …«
»Was wollen Sie denn dort?« Die kleine rundliche Frau bebte vor Neugier. »Das Haus steht leer. Wollen Sie es kaufen?«
»Es hat mal meiner Großtante gehört«, sagte Sophie.
Das Paar sah sich an.
»Die alte Frau Berkemann ist gestorben, nicht wahr?«
»Im vergangenen Sommer, ja. Also, vielen Dank für …«
»Wollen Sie wirklich keinen Kaffee?«
»Nein, nein, ich muss jetzt los«, sagte Sophie fast flehend. »Ich habe heute noch viel vor. Vielen Dank für die Auskunft.«
Sie ließen sie gehen. In der Tür des kleinen Hauses stehend sahen sie zu, wie sie den Wagen wendete und davonfuhr.
Der Schneefall hatte zugenommen. Sophie fuhr langsam und über das Lenkrad gebeugt und suchte das Gelände rechts der Straße nach dem Haus Nummer 210 ab. Einem Lieferwagen, der sich hinter ihr näherte, signalisierte sie mit dem Blinker, zu überholen. Die Fahrt zog sich hin. Eineinhalb Kilometer, hatte die Frau gesagt. Abseits der Straße. Wie weit war sie schon gefahren? Wie weit weg war ›abseits‹? War sie schon an dem Haus vorbei? Hatte sie es wegen des Schneetreibens übersehen? Sophie begann schon nach einer Möglichkeit zum Wenden zu suchen, um die Strecke noch einmal abzufahren, da bemerkte sie, dass das Gelände neben der Straße nicht mehr eben war, sondern anstieg. Und auf einer Anhöhe, in etwa zweihundert Metern Entfernung stand ein Haus. Sophie stampfte auf die Bremse. Das Haus war wegen des Schnees und des trüben Winterlichts nicht genau zu erkennen, aber es kam ihr groß vor. Vielleicht täuschte sie sich ja auch, aber es war jedenfalls nicht so klein wie die in Grobitz.
Ihr Herz schlug plötzlich fester. War es das, was sie suchte? Sie musste es sich aus der Nähe ansehen. Wie kam sie da hin?
Sophie hielt, stieg aus und lief suchend an der Straße entlang, bis sie an eine Stelle kam, einen Übergang, wo der Straßengraben verrohrt war und man ihn mit einem Auto überqueren konnte. Dort begann ein Weg, eigentlich nur ein Pfad, kaum erkennbar unter der dünnen Schneedecke. Er führte durch eine kleine Senke neben der Fahrbahn und über eine struppige Wiese die Anhöhe hinauf in Richtung des schemenhaften Hauses und sah aus, als wäre er befahrbar.
Okay, dann los. Sophie ließ noch einen Lastwagen vorbei, dann konnte sie einen weiten Bogen fahren, um den Übergang senkrecht zu treffen. Sie rollte vorsichtig, mit den Füßen auf Bremse und Kupplung, die kurze, abschüssige Strecke vom Asphalt in die flache Senke … alles gut. An der tiefsten Stelle angekommen, legte sie einen Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas.
Es krachte dumpf, und das Auto neigte sich plötzlich nach vorn. Sophie schrie auf und klammerte sich an das Lenkrad. Für einen Moment fürchtete sie, dass ihr Wagen (mit ihr drinnen festgeschnallt!) mit der Nase voraus im Erdboden versinken würde. Aber er war nur irgendwo eingebrochen und bewegte sich nicht weiter. Der Motor schwieg. Wasser gluckerte unter dem Wagenboden.
Nach ein paar Sekunden hatte sich Sophie von ihrem Schrecken so weit erholt, dass sie den Versuch machte, den Wagen wieder zu starten. Sie drehte vorsichtig den Schlüssel, aber nichts geschah. Nicht einmal der Anlassermotor arbeitete. Mit einer Verrenkung und einem Spagat gelang es ihr, aus dem Auto zu steigen, ohne in schwarzes schlammiges Wasser treten zu müssen. Dann stand sie auf einer Eisfläche, die vom Schnee getarnt war.
Was nun? Sophie war nicht im ADAC, aber das war nicht weiter schlimm. Sie würde einfach die 1-1-0 anrufen und sich von der Polizei die Nummer eines Abschleppdienstes geben lassen. Der wiederum würde eine Werkstatt kennen, die ihren Wagen wieder flott machte. So weit, so gut. Aber das würde kosten … Mein Gott, dachte sie, heute hat sich wirklich alles gegen meine mageren Ersparnisse verschworen. Womit habe ich das bloß verdient? In den vergangenen vier, fünf Stunden bin ich von der Arbeit suchenden Speditionskauffrau zum Sozialfall geworden: arbeitslos und Schulden und Auto im Eimer. Fünfhundert Kilometer weit weg von zu Hause. Mitten im Nirgendwo. Im Winter.
Und das war noch nicht alles.
Sophies Daumen schwebte über dem Display ihres Telefons. Der ihr eigene Widerwille gegen das Geldausgeben ließ sie zögern. Wenn ich jetzt telefoniere, dachte sie, dann handele ich mir Hunderte von Euro Kosten ein. Aber habe ich eine Wahl? Sie entsperrte die Tastatur ihres Handys, und dann erst fiel ihr auf, dass sie kein Netz hatte. Sie steckte nicht nur in einem Schlammloch, sondern auch in einem Funkloch.
Sie würde die ein oder zwei Kilometer zurück nach Grobitz laufen müssen. Dort funktionierte entweder hoffentlich ihr Handy, oder sie würde wieder bei Herrmann und Hilde klingeln, um bei ihnen zu telefonieren …