Kitabı oku: «Spiegelfluch & Eulenzauber», sayfa 2
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Anthea

Venetien, südlich der Alpen
Das Haus der Zauberin stand auf einer Lichtung inmitten eines Buchenwalds. Die Mauern waren aus grauem Naturstein, das Dach überwuchert mit Gräsern und Moos. Farn spross an der Nordseite und ein Kräutergarten wartete hinter einer Mauer.
Nichts und niemand regte sich. Es gab keine Vögel, die Fensterlöcher klafften dunkel unter dem Dach und der Regen hatte eine Pfütze vor der niedrigen Haustür hinterlassen. Hätte die Sonne geschienen, hätte der Ort vielleicht freundlicher gewirkt. Aber der Himmel blieb bedeckt und das trübe Licht lag wie ein Schleier zwischen den Bäumen. Es roch nach nasser Erde, nach Pilzen und verrottendem Laub.
Ich schickte einen Gedanken an den Wolf an meiner Seite. Einladend.
Auch nicht schlimmer als die Schlupfwinkel der anderen Zauberer, antwortete Matej.
Stimmt.
Über die Jahre hatten wir Dutzende Taschenmagier, Seherinnen und Fluchbrecher aufgesucht. Einmal trafen wir sogar eine Alchemistin, die für die Medici gearbeitet hatte, bis die Inquisitoren zu neugierig geworden waren. Begegnungen mit Hexen und Zauberern sollten mich also nicht mehr beunruhigen. Mein Kopf wusste das. Trotzdem hatte ich eine Gänsehaut.
Unter dem Dachfirst des Hauses hingen Windspiele aus Federn, Holz und Knochen, die leise im Wind klapperten.
Bis du dir sicher, dass wir hier anklopfen wollen?, fragte ich Matej.
Sie soll eine von der gutmütigen Sorte sein, sagte er. Warum zögerst zu?
Ich hatte angefangen, an meiner Unterlippe zu kauen. Als ich das bemerkte, ließ ich es sein. Ich weiß es nicht genau, gab ich zu. Ich habe ein komisches Gefühl.
Grezzana war das eigentliche Ziel unserer Reise in den Norden gewesen. Wir hatten dort einen Krämer getroffen, der unter dem Tisch mit okkulten Gegenständen handelte. Als er hörte, wonach wir suchten, hatte er uns den Hinweis gegeben, dass in den Wäldern über dem Ort eine Zauberin lebte.
Wenn ihr nach einem magischen Spiegel sucht, dann solltet ihr zur Barbagianna gehen. Sie kennt sich mit Zauberglas aus.
Ich fuhr mir mit der Zungenspitze über meine Unterlippe, ließ das Haus aber nicht aus den Augen. Matej nahm meine Bedenken ernst und das wusste ich zu schätzen. Die Barbagianna war der erste hilfreiche Hinweis seit Monaten. Wir konnten diese Spur nicht ignorieren. Also, was stimmte nicht mit mir? Nichts, was ich in Worte fassen konnte. Da war nur diese Ahnung, dass wir uns hier an einem Kreuzweg befanden. Wenn wir die Schwelle dieses Hauses überquerten, dann würde sich unser Leben ändern. Zum Besseren? Zum Schlechteren? Wenn ich das bloß wüsste.
Matej meldete sich zu Wort. Wir müssen keinen Handel mit ihr eingehen, wenn uns das, was sie anbietet, nicht gefällt.
Stimmt, gab ich zu. Wenn sie sich überhaupt auf einen Handel mit uns einlassen will. Viel haben wir nicht einzutauschen.
Das stimmt auch. Diesmal war es Matej, der zögerte. Es ist keine gute Idee, mit Zaubervolk zu sprechen, wenn man leere Taschen hat.
Ganz so schlimm ist es auch wieder nicht, sagte ich. Wir werden ihr schon keine Lebensjahre verkaufen müssen.
Matej schnaubte. Ein paar von meinen kann sie gern haben.
Ich wollte ihm widersprechen, als über unseren Köpfen eine Stimme fragte: »Braucht ihr noch lange?«
Erschrocken wirbelten wir herum. Auf einer Anhöhe hinter uns stand eine Buche, die sich mit ihren Wurzeln an einen Felsen klammerte. Auf diesem Wurzelgewirr hockte eine kleine, mollige Frau, deren graue Haare mit Federn und Holzperlen durchflochten waren. Sie kauerte auf den Fußballen, hatte die Arme auf den Oberschenkel verschränkt und musterte uns mit interessiertem Blick.
»Ich will euch ja nicht drängen«, sagte sie, »aber bei dem Wetter würde ich mich ganz gern in meine trockene Stube zurückziehen. Werdet ihr euch bald entscheiden, ob ihr mich besuchen wollt oder nicht?«
Hast du sie nicht gehört?, fragte ich Matej. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Wie hatte sie uns so überrumpeln können?
Nein, erwiderte er, und ich spürte, dass auch er beunruhigt war.
Wie kann das sein?
Ich weiß es nicht. Dann antwortete er verblüfft: Sie hat keinen Geruch.
Die Barbagianna seufzte und erhob sich. Sie trug eine löchrige Strickjacke über einem braunen Kleid, dessen Saum mit einer Borte aus Stickereien verziert war. Um ihre breite Hüfte schlang sich ein Gürtel, an dem ein Dutzend lederne Beutelchen baumelte. Sie verschwand kurz hinter dem Baum, dann kam sie hinter dem Felsen hervor und trat uns gegenüber. Sie stützte sich auf einen knorrigen Stab, ganz wie die Hexen auf den Kupferstichen, die ich in der Bibliothek von San Giacomo gesehen hatte.
Matej machte einen Schritt nach vorn und stellte sich zwischen mich und die Zauberin.
»Es ist sehr unhöflich, im Beisein einer Person über ihren Geruch zu reden.« Barbagianna verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Eine Linie von tätowierten Monden in verschiedenen Stadien zog sich zwischen ihren Brauen hinauf bis in die Mitte ihrer Stirn. »Natürlich ist es auch nicht nett, es in ihrer Abwesenheit zu tun. Aber da bekommt sie es wenigstens nicht mit.«
Sie versteht uns, sandte ich entsetzt.
»Dich ein wenig«, erwiderte Barbagianna, als hätte ich direkt zu ihr gesprochen. »Er ist schwieriger. Nun?« Sie hob eine Braue. »Seid ihr hier, um mit mir ein Geschäft abzuschließen oder nicht?«
Matej drehte sich zu mir um und sah mich abwartend an. Auch wenn er seine Gedanken im Beisein der Zauberin zügelte, spürte ich, wie sehr er diese neue Chance ergreifen wollte. Damit war die Entscheidung auch für mich getroffen. Ich nickte.
Barbagianna stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Gut, dann kommt mit.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging mit schwerfälligem Schritt auf das Haus zu.

Die Hütte der Barbagianna war bis unter das Dach gefüllt mit den Werkzeugen ihres Handwerks: Kräuterbündel hingen in dichten Reihen von den Balken, Tontöpfe füllten Regale, Bücher stapelten sich auf einem Tisch an der Wand und dazwischen standen Gläser, aus denen entweder Gartenblumen oder Vogelfedern herausragten. In einem Kamin glomm ein Kohlenfeuer und eine Handvoll Kerzen brannte in gusseisernen Ständern. Es hätte das absolute Chaos sein können, aber stattdessen schien jeder Kupfertiegel und jeder Kristall seinen Platz zu haben.
Kurz nachdem wir die Hütte betraten, tauchte eine junge Frau aus einem Hinterzimmer auf. Sie war schlank, ein wenig größer als ich, und hatte lange schwarze Haare, die ihr glatt über die Schultern fielen. Der einzige Schmuck, den sie trug, waren ein paar weiße und goldbraune Federn, die sie in eine ihrer dunklen Haarsträhnen geflochten hatte. Als sie uns sah, hob sie fragend die Brauen.
»Kundschaft«, erklärte Barbagianna und fuhr an uns gewandt fort: »Das ist meine Enkelin. Lelia.«
Ich nickte ihr zu. Lelia erwiderte den Gruß, aber ihr Blick huschte zu Matej und eine kleine Falte erschien zwischen ihren Brauen. Sein Auftreten hatte auf Menschen oft eine verstörende Wirkung. Kaum jemand rechnete damit, einen Wolf in seiner Stube begrüßen zu müssen.
Die Barbagianna humpelte inzwischen zur Mitte des Raums. Dort lagen ein paar breite Kissen um einen niedrigen Tisch verteilt. Die alte Frau ließ sich hinter diesem Tisch nieder und wies mit der Hand auf die Kissen, die ihr gegenüber auf dem Boden lagen. Lelia verharrte noch einen Augenblick, dann ging sie zum Kamin und machte sich daran, das Feuer zu schüren.
Ich ließ mich auf einem der Kissen nieder, aber als Matej sich neben mich setzen wollte, winkte Barbagianna ihn ungeduldig zu sich. »Komm her.« Als er zögerte, winkte sie noch einmal. »Nun komm schon.«
Seine Augen wurden schmal. Warum?
»Was hat er gesagt?«, fragte Barbagianna. »Ich versteh ihn kaum.«
Ich räusperte mich. »Er möchte wissen warum.«
Barbagianna maß mich mit einem aufmerksamen Blick und auch Lelia drehte den Kopf, um mich anzusehen. Ich zwang mich, ihrer Prüfung standzuhalten. Fremde waren immer von meiner Stimme überrascht. Sie klang heiser, und sie brach häufig. Besonders, wenn ich versuchte, längere Sätze am Stück auszusprechen. Vielleicht lag es daran, dass ich einen Großteil meiner Kindheit schweigend verbracht habe. Vielleicht war es aber auch ein angeborener Makel. Eine Zeit lang hatte ich gehofft, dass meine Stimme wärmer und weicher werden würde, je öfter ich sie nutzte. Aber auch jetzt, neun Jahre nachdem ich mit dem Sprechen angefangen hatte, klang sie wie das Schaben eines Löffels in einem rostigen Topf.
Barbagianna durchbrach die Stille. »Ich will mir ansehen, ob man seinen Fluch brechen kann«, sagte sie.
Matejs Nackenfell sträubte sich, minimal nur, aber ich bemerkte es. Sag ihr, dass wir sie nicht dafür anheuern wollen.
Ich wiederholte seine Worte, aber Barbagianna machte eine wegwerfende Bewegung. Lelia hatte sich mittlerweile wieder abgewandt und hob einen eisernen Wasserkessel vom Fenstersims.
»Nennt es einen Gefallen«, sagte sie. »Eine, hm, Geste des Vertrauens.«
Sie sah Matej abwartend an. Wir wussten beide, dass es ihr nicht nur darum ging, unser Vertrauen zu gewinnen. Sie wollte wissen, ob wir bereit waren, auf sie einzugehen. Matej zuckte mit den Ohren, dann ging er zu ihr hinüber.
Barbagianna legte beide Hände an die Seite seines Kopfes und beugte sich vor. Sie intonierte keine Zauberformeln, benutzte keine Hilfsmittel. Sie starrte ihm einfach nur tief in die Augen. Im ersten Moment bemerkte ich gar nicht, dass ich die Luft anhielt, so gebannt war ich. Was, wenn sie es tatsächlich konnte? Wenn sie diejenige war, die Matej zurück in einen Menschen verwandeln würde? Ich hatte jedoch kaum Zeit, diese Fragen zu Ende zu denken, da lehnte sich Barbagianna auch schon wieder zurück.
»Hm.« Sie betrachtete Matej noch einen Augenblick lang, dann zuckte sie mit der Schulter. »Nichts zu machen, tut mir leid.«
Das hätte ich ihr gleich sagen können. Matej versuchte gleichmütig zu klingen, aber unter seiner Abgeklärtheit spürte ich einen winzigen Funken der Enttäuschung. Kaum war er da, war er auch schon wieder verschwunden. Matej erlaubte sich nicht mehr zu hoffen, aber manchmal, wenn er überrumpelt wurde, hatte er sich nicht ganz unter Kontrolle.
»Danke, dass Ihr es versucht habt«, sagte ich.
»Keine Ursache«, sagte Barbagianna. »Ein wirklich mieser Fluch ist das. Wer auch immer dich damit belegt hat, er muss dich wirklich gehasst haben.« Sie hob eine Braue. »Verwandtschaft?«
Matej neigte den Kopf.
Barbagianna nickte. »Dachte ich mir. Wenn deine Brut auch nur im Ansatz so hinterhältig ist wie meine …«
»Nonna«, protestierte Lelia. »Hör auf, über die Tanten zu lästern.«
Barbagianna lachte. »Wer behauptet, dass Blut dicker als Wasser ist, sollte meine Schwestern treffen. Harpyien sind angenehmere Gesellschaft.«
Matej kehrte auf meine Seite des Tisches zurück und nahm neben mir Platz. Lelia hängte den Kessel über das Feuer.
»Also gut«, sagte Barbagianna. »Warum seid ihr hier?«
3
Anthea

Die Geschichte des Spiegels klang wie ein Märchen: Es war einmal ein Mädchen, das von einer bösen Gräfin in einen Zauberspiegel gesperrt wurde. Fünfzehn Jahre verbrachte sie hinter dem Glas, gefangen mit den Leidensgenossinnen, die vor ihr dort eingeschlossen wurden. Der Spiegel verlangte die Lebenskraft von Mädchen und Frauen. Zum Tausch bot er ewige Jugend und ungebrochene Macht. Das war der Handel, den die Gräfin abgeschlossen hatte, und lange schien es so, als könnte ihr niemand Einhalt gebieten. Doch dann betrat eine Heldin die Bühne – die Stieftochter der Gräfin. Sie entdeckte das gefangene Mädchen im Spiegel und gemeinsam schmiedeten sie einen Plan. Die Stieftochter überlistete den Spiegel, befreite das Mädchen und sperrte stattdessen ihre böse Stiefmutter in das Gefängnis hinter dem Zauberglas.
Hier endeten Märchen für gewöhnlich und man konnte sich ausmalen, dass die Heldinnen nun glücklich lebten bis zum Ende ihrer Tage. Leider traf das in diesem Fall nicht zu. Die Gräfin wurde zwar unschädlich gemacht, aber die Macht des Spiegels blieb ungebrochen, so wie sein Hunger. Er begann, mit der Stieftochter zu sprechen. Margarethe, so hieß sie, wehrte sich. Sieben Nächte und sieben Tage lang, vermute ich, denn so ist es meistens in Märchen. Dann hörte sie ihm zu. Von da an dauerte es nicht lange, bis der Spiegel Margarethe ganz in seiner Gewalt hatte. Er versprach ihr wunderbare Dinge, alles, was ihr Herz begehrte. Wenn sie ihm nur das eine Mädchen zurückbrächte, das ihm entkommen war.
Dieses Mädchen war Myrsina und Myrsina floh. Bei Nacht und Nebel verschwand sie aus Margarethes Burg. Sie überquerte die Alpen, traf dort auf einen verwunschenen Wolf und landete schließlich in Mailand. Von da an verließen sie die Regionen um den Apennin nicht mehr. Sie reisten durch die nördlichen Territorien von Modena, Genua und Florenz, bewegten sich weiter nach Süden und wieder zurück. Immer auf der Flucht vor den Jägern, die Margarethe ihnen auf die Fersen gehetzt hatte.
Wie passte ich in diese Geschichte? Das ist schwierig zu sagen. Myrsina trat als mutige Heldin auf, Matej war der unglückliche Held. Ihre Gegenspieler waren Margarethe, eine Horde verzauberter Jäger und ein magischer Spiegel. Wer war ich in dieser Konstellation? Eine Nebenfigur? Eine Zeugin? Oder ein Opfer der Umstände?
Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Myrsinas Geschichte mein Leben änderte. Damals lebte ich bei den Viaggiatori, einer Gauklertruppe, die die nördlichen Territorien des Apennins bereiste. Sie waren meine Familie, auch wenn keiner von ihnen mit mir verwandt war. Marietta, eine in die Jahre gekommene Schaustellerin, hatte mich nach dem Tod meiner Mutter bei sich aufgenommen. Sie lehrte mich nähen und sticken und was sonst noch an Arbeiten in einem Gauklertross anfiel. Sobald ich alt genug war, sammelte ich nach den Aufführungen Münzen vom Publikum. Ich fütterte Pepino, das Pferd, das unseren Wagen zog, und half Marietta dabei, die Kostüme der anderen Gaukler auszubessern.
Ich war sieben Jahre alt, als wir Myrsina und Matej begegneten. Die beiden schlossen sich der Truppe an, nur für ein paar Tage, bis wir die Stadt Genua erreichen würden. Das war zumindest der Plan.
Die beiden faszinierten mich. Myrsina trug bunte Kleider, Armbänder aus bemalten Holzperlen und band sich das walnussbraune Haar mit einem Tuch zurück. Sie färbte ihre Haare. Unter dem Braun war ihre Mähne so rot wie die Glut eines Feuers, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Matej war ihr treuer Begleiter und sein Anblick versetzte mir jedes Mal einen Schauder. Mit seinen goldenen Wolfsaugen sah er mich so an, als würde er genau wissen, was ich dachte. Manchmal glaubte ich sogar, eine tiefe Stimme zu hören, dumpf wie ein entferntes Echo. Erst viel später habe ich begriffen, dass ich Matej gehört habe, wenn er seine Gedanken mit Myrsina austauschte. Sie waren verbunden, diese beiden. Zusammengeknüpft wie die Fäden in einem Teppich.
Acht Tage lang teilten die beiden die Straße mit uns, dann verschwanden sie spurlos über Nacht. Kein Abschied, keine Erklärung. Ich weiß noch, wie sehr mich das verwirrte. Den ganzen Tag über trug ich die Eulenmaske, die Myrsina mir geschenkt hatte, an einem Band um den Hals. Während Marietta unseren Wagen lenkte, hielt ich von meinem Platz auf dem Kutschbock Ausschau nach Myrsina und ihrem Wolf. Stattdessen kam uns zur Mittagszeit eine Gruppe Männer in grünen Jagduniformen entgegen.
Ich hatte eine Scheu vor Soldaten, wie wohl jedes andere Vagabundenkind auch. Umso mehr überraschte es mich, dass Gian, unser Anführer, den Tross anhalten ließ. Marietta zügelte Pepino und Gian ging geradewegs auf die grün gekleideten Männer zu. Er sprach mit ihnen, fing an zu gestikulieren und wurde immer aufgeregter.
»Anthea, Kind«, sagte Marietta leise. Ich sah überrascht zu ihr hoch. Sie hatte die Stirn gerunzelt und ihre klugen dunklen Augen waren starr auf die Gruppe Männer gerichtet. »Wenn ich es dir sage, dann läufst du in den Wald und versteckst dich.« Eis sickerte mir direkt ins Herz. Jetzt fiel mir auch die Anspannung der anderen Gaukler auf. Clarice stand neben dem großen Ugolino und hielt ihren Wanderstab mit beiden Händen gepackt. Paolo wollte zu Gian gehen, aber Iacopo hielt ihn am Arm fest.
Mittlerweile war zwischen Gian und den Männern ein handfester Streit ausgebrochen. Einzelne Wortfetzen drangen zu uns herüber. »Es ist egal, ob sie noch hier sind! Eure Herrin hat eine Belohnung für jeden Hinweis versprochen«, rief Gian. Er war schon immer gut darin gewesen, seine Stimme wie eine Peitsche knallen zu lassen.
Marietta legte ihre Hand auf mein Knie und meine Brust zog sich zusammen. Von da an ging alles rasend schnell. Der vorderste Mann in Grün machte einen Schritt auf Gian zu und der zuckte zusammen. Clarice schrie auf und Ugolino rannte los, genauso wie Paolo. Iacopo rief seinen Namen, aber da zogen die Männer in Grün schon ihre Waffen. Gian tat etwas, was ich nie vergessen werde: Er taumelte rückwärts, blieb jedoch aufrecht stehen und breitete seine Arme aus. So, als wollte er sich schützend vor uns alle stellen. Der Pfeil, abgeschossen von einem der hinteren Jäger, traf ihn mitten in die Brust.
Ich sah noch, wie Paolo niedergeschlagen wurde, dann zerrte mich Marietta vom Kutschbock. Sie hatte Rheuma in den Füßen und der Sprung auf den Boden ließ sie beinahe zusammenbrechen. Trotzdem zerrte sie mich weiter in den Schutz des Wagens.
Schreie gellten über die Straße, während Marietta mich in Richtung des Waldes stieß. »Lauf, Mädchen, lauf«, drängte sie mich, aber ich klammerte mich an ihren Ärmel.
Einer der Jäger kam um die Ecke des Wagens, ein breiter Kerl mit hellen Augen. Marietta schob mich hinter sich und zog ihr Messer. Ich sah nicht, was passierte, spürte nur, wie Marietta zusammenzuckte und hörte sie keuchen. Dann schleuderte der Jäger sie gegen das Wagenrad und packte mich. Ich wehrte mich, als seine Finger sich in meine Arme bohrten. Ich zappelte und wand mich, wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. In meinem Kopf streckte ich mich verzweifelt nach jemandem, der mich würde hören können. Stumm und wild flehte ich um Hilfe, bis mein Blick auf Marietta fiel. Zusammengesunken saß sie auf dem Boden, mit dem Rücken an das Rad gelehnt. Sie presste beide Hände gegen ihren Bauch, aber das Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor und tränkte ihre Kleider. Der Jäger hob mich hoch und warf mich über seine Schulter, doch alles, was ich wahrnahm, war Mariettas kreideweißes Gesicht. Ich dachte, dass sie den Blick heben und mich ansehen würde, aber das tat sie nicht. Ich öffnete den Mund, aber da stülpte mir jemand einen Sack über den Kopf und alles wurde dunkel.
Ich weiß nicht mehr, wie die Jäger mich ins Castello di Prasco gebracht haben, oder wie lange ich dort war. Heute weiß ich zumindest, warum die Jäger mich entführt haben. Margarethe wartete in der Burg darauf, dass man ihr Myrsina brachte. Sie hatte eine stattliche Belohnung auf ihren Kopf ausgesetzt. Eine Belohnung, die Gian sich unter den Nagel reißen wollte. Als die Jäger seinem Ruf folgten und Myrsina nicht mehr vorfanden, war Gians Leben verspielt. Diejenigen von uns, die die Jäger nicht direkt auf der Straße abschlachteten, waren die Trostpreise, die sie der Dienerin des Spiegels mitbrachten.
Vielleicht wollte Margarethe uns befragen, uns jedes Detail über Myrsinas Reise mit uns abpressen. Und danach? Ich glaube, sie hätte die anderen getötet und mich dem Spiegel geopfert. Doch so weit kam es nie. Matej sagte mir später, dass mein stummer Hilferuf Myrsina erreicht hatte. Sie war zurückgekehrt und hatte beim Anblick der toten Viaggiatori beschlossen, Margarethe zu konfrontieren.
Vier von uns hatten den Überfall der Jäger überlebt. Iacopo, Paolo, Clarice und ich. Sie hatten uns in eine fensterlose Zelle im Keller des Castello gesperrt und dort saßen wir. schweigend. Die Schreie unserer Weggefährten hallten immer noch in unseren Ohren wider. In Wirklichkeit waren wir nicht lange dort, doch in meiner Erinnerung dehnten sich die Stunden in Gefangenschaft aus wie eine endlose Nacht. Ich saß neben Iacopo, der seinen linken Arm um mich gelegt hatte und mit seiner rechten Hand die von Paolo festhielt. Clarice kauerte etwas abseits, die Arme um beide Knie geschlungen.
Als die Jäger die Tür zu unserem Gefängnis öffneten, rückten wir instinktiv näher zusammen. Sie zerrten uns auf die Füße und stießen uns nach draußen, ohne ein einziges Wort der Erklärung. Ich weiß noch, wie ich mich an Iacopo klammerte, wie er mich festhielt, so fest, dass wir beide mehr stolperten als aufrecht gingen.
Man führte uns hinaus in den Burghof wie eine Herde Schafe auf dem Weg zum Schlachter. Sonnenlicht blendete mich und dann sah ich sie. Myrsina stand in der Mitte des Hofs, umringt von einem Kreis aus Jägern mit erhobenen Armbrüsten. Sie war allein. Eine kleine, blasse Frau, die kerzengerade in der Reichweite ihrer Häscher stand. Erst im zweiten Moment begriff ich, dass sie sich selbst ein Messer an die Kehle hielt.
Jetzt endlich sprach einer der Jäger, die uns in den Hof gescheucht hatten. »Geht«, raunzte er uns an.
Clarice stieß einen erstickten Laut aus, aber ich hatte nur Augen für Myrsina. Ihr Blick glitt zu uns herüber und für einen kurzen Augenblick wich die Spannung aus ihrem Körper. Vor Erleichterung oder vor Verzweiflung? Das habe ich mich im Nachhinein oft gefragt.
Etwas in mir loderte hoch wie ein Funke. Ich wand mich aus Iacopos Griff und wollte zu Myrsina laufen. Ich kam keine zwei Schritte weit, bevor Clarice mich am Kragen packte und weiterschleifte.
»Es ist zu spät für sie«, zischte sie. »Aber nicht für uns.«
Sie zog mich an dem Ring aus Jägern vorbei auf das offene Burgtor zu und die ganze Zeit über starrte ich zu Myrsina. Sie erwiderte meinen Blick.
Du hörst mich, oder? Ihre Frage klang hell wie ein Glöckchen in meinem Kopf.
Ich nickte stumm.
Matej. Mein Wolf. Myrsina drehte sich, um mich weiter im Blick zu behalten. Ich habe ihn in eurem Wagen eingesperrt. Lass ihn heraus. Kümmere dich um ihn. Er wird jemanden brauchen.
Ich hörte ihre Worte und gleichzeitig spürte ich all das, was hinter ihnen steckte, spürte ihre Gefühle wie einen Sturm, der durch mich hindurchtoste; Myrsinas Trauer und ihren verzweifelten Wunsch, dass wenigstens Matej gerettet werden würde. Ihre Angst und ebenso ihre bodenlose Erschöpfung. Beinahe war sie erleichtert, dass nun alles ein Ende finden würde.
Ich wollte meine Hand nach ihr ausstrecken. Stattdessen sandte ich ihr meine Zustimmung.
Ich verspreche es.
Was hätte ich anderes antworten können? Was hätte ich anderes tun können, als ihre Bitte wie ein Leuchtfeuer in meinem Herz einzuschließen? Clarice zerrte mich durch das Burgtor und ich verlor Myrsina aus den Augen.
Bis heute weiß ich nicht, ob Myrsina mein Versprechen gehört hat oder nicht.

Was danach passierte, haben wir uns mühsam zusammengereimt. Die Burgleute redeten, wie sie es immer tun. Sobald alles vorüber war, machten die Gerüchte die Runde: Eine böhmische Gräfin war eines Tages im Castello aufgetaucht und hatte den Burgherrn dazu gebracht, ihr die Burg zu überlassen. Die Gräfin war bildschön gewesen, darüber waren sich alle einig. Aber im gleichen Atemzug erzählten sie, dass man eine Gänsehaut bekommen hatte, wenn sie sich näherte. Ein gespenstisches Geflüster hatte sie wie ein Schatten begleitet. Und dann war sie so gewaltvoll ums Leben gekommen. Man musste damit rechnen, sagten die Leute, dass ihr Geist das Castello nie mehr verlassen würde.
Hier ist die Geschichte, wie ich sie mir vorstelle: Myrsina, die ihr Leben gegen unseres eingetauscht hatte, ging in die Burg, um sich Margarethe zu stellen. Niemand durfte sie begleiten, Margarethe wollte mit ihr allein sein. Die Burgleute warteten voller Anspannung, was nun geschehen würde. Viele beteten, dass die seltsame Gräfin das Castello wieder verlassen würde. Als die Nacht hereinbrach und immer noch niemand Margarethes Gemächer verlassen hatte, betrat einer der Jäger schließlich die Stube seiner Herrin. Dort fand er Margarethes Leiche mit durchgeschnittener Kehle. Über ihr ragte der Spiegel auf, unversehrt und stumm. Von Myrsina fehlte jede Spur. Die Jäger luden den Spiegel auf einen Karren und zogen mit ihm nach Norden, zurück zu Margarethes Burg. Zumindest glaubten wir, dass das ihr Ziel war.
Matej war überzeugt davon, dass Myrsina wieder in den Spiegel gesperrt worden war. Einen Beweis hatte er nicht, aber für ihn war es der einzige mögliche Grund, warum sie nicht zu ihm zurückgekehrt war. Sein unerschütterlicher Glaube daran, dass sie lebte und er sie befreien konnte, trieb ihn an, bestimmte jede seiner Handlungen von dem Moment an, als ich ihn aus dem Wagen befreite.
Seit zehn Jahren waren wir nun auf der Suche nach dem Spiegel. Manchmal fragte ich mich: Was, wenn Myrsina nicht eingesperrt war? Oder wenn sie an dem Ort hinter dem Spiegel gestorben war? Aber dann erinnerte ich mich daran, wie sie in jenem Burghof stand, wie sie sich die Messerspitze an die Kehle drückte und sich damit selbst als Geisel hielt. Ich wollte ihr helfen. Wenn es auch nur die kleinste Chance gab, sie zu retten, dann wollte ich es versuchen.
Welche Rolle ich dadurch in unserer Geschichte spielte, wusste ich allerdings immer noch nicht.