Kitabı oku: «Unendlich», sayfa 2
Für einige Momente ließ ich es zu, dass ich wieder in diesen Tagtraum verfiel und mir ausmalte, wie der morgige Abend verlaufen würde. Ich musste lächeln. Es würde perfekt werden. Ich wusste es. Es gab überhaupt keine andere Möglichkeit. Morgen würde es keine Notfälle und keine Ausreden mehr geben können, sondern nur noch ihn und mich.
„Warum ziehst du nicht das rote Kleid an? Das würde dir sicher gut stehen.“
„Das hier?“ Zweifelnd griff ich wieder danach. Achtlos hatte ich es einfach neben mir auf dem Bett liegen lassen.
„Das, mit dem du meintest, dass ich auf den Strich gehen könnte.“
„Ich will, dass Konstantin auf mich steht. Nicht, dass er glaubt, ich würde Geld dafür wollen.“ Ich warf Milena einen bösen Blick zu. „Außerdem sind meine Brüste mindestens zwei Nummern größer als deine.“
„Du übertreibst maßlos, Jo. Du bist nicht dicker als ich.“
„Das hab ich auch nicht gesagt. Ich habe nur größere Möpse.“
„Jetzt zier dich nicht und probier es an. Brezel dich ein bisschen auf für morgen Abend und mach dich schick“, drängte Milena mich. „Mit deinen blonden Haaren sieht das Kleid sowieso tausendmal besser an dir aus als bei mir.“
Zweifelnd stand ich auf und schlüpfte aus meiner Jeans und dem lockeren Pulli. Milena und ich hatten uns schon unzählige Male nackt gesehen, wir hatten keinerlei Hemmungen, uns voreinander umzuziehen. Sie kannte meine schönste Spitzenunterwäsche und ich die ihre. Wir hatten wirklich schon lange keine Geheimnisse mehr voreinander.
„Oh Gott, ist das schrecklich“, lachte ich sofort los, als ich mich im Spiegel sah. Der Rock war bei mir viel zu lang und der Ausschnitt viel zu tief und zu freizügig.
„Ich nehme alles zurück. Damit kannst du dir höchstens was dazuverdienen, wenn wir auf dem Heimweg falsch abbiegen“, prustete Milena und öffnete den Reißverschluss sofort wieder. „Aber schau ruhig meinen Schrank durch. Vielleicht findest du ja etwas anderes für morgen Abend.“
„Danke.“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Milenas Auswahl an Klamotten war unglaublich groß. „Was war eigentlich noch mit Timo und dir?“, fragte ich beiläufig und zog ein Shirt aus ihrem Schrank, nur um es dann wieder zurückzulegen.
Sie zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder ihrem Make-Up. „Nichts. Wir haben mal ein bisschen rumgemacht und dann meinte er, dass er in London studiert und das war es dann.“
„Was? Warum denn?“
„Was will ich mit einem Typen, der in einem ganz anderen Land wohnt?“
„Spaß? Du musst ihn ja nicht gleich heiraten. Außerdem habe ich gehört, dass er echt gut sein soll.“
„Natürlich will ich ihn nicht heiraten.“ Sie rümpfte die Nase. „Aber ich will nicht das Risiko eingehen, dass ich jemanden mag, mit dem es keine Zukunft hat.“
Ich rollte mit den Augen und zog ein Wollkleid mit schwarzen, langen Ärmeln aus ihrem Schrank. Probehalber hielt ich es vor meinen Körper.
„Bist du eine Nonne geworden, Jo? Ich dachte, du willst ihm zeigen, was er verpasst hat gestern.“
Seufzend hängte ich das Kleid wieder zurück. Sie hatte ja Recht. „Es ist Timo. Der ist auf nichts Festes aus. Ich kenne ihn schon gefühlt mein ganzes Leben.“
„Er ist es vielleicht nicht, aber das muss ja noch lange nicht für mich gelten.“
„Milena Groß!“ Jetzt war ich an der Reihe, grinsend meine Hände in die Hüften zu stemmen. „Willst du dich etwa fest binden?“
„Nee. Ach was. Ich hab nur keinen Bock auf Liebeskummer und den ganzen Kram, weil er so weit weg wohnt. Und ich ja nicht weiß, wann ich ihn wiedersehen kann“, imitierte sie meine Worte von vorhin.
„Hey! Was soll das denn heißen?“
„Dass es dich voll erwischt hat, Jo. So wie du Konstantin immer ansabberst.“
„Ja, und?“
Sie zuckte mit den Schultern, hatte aber ein breites Grinsen auf den Lippen. „Willst du es ernsthaft noch bestreiten, dass du auf ihn stehst?“
„Natürlich stehe ich auf ihn.“
„Seit über einem Jahr. Du bist verknallt, Jo. Sieh es endlich ein.“
„Nein, bin ich nicht“, protestierte ich. Ich hatte keine solchen Gefühle für Konstantin. Bisher war ich noch nie verliebt gewesen und so etwas empfand ich auch für ihn nicht. Ich begehrte Konstantin mehr als einen Mann zuvor, ja, das gab ich gerne zu, aber mit Liebe hatte das noch lange nichts zu tun.
„Ja ja, klar“, murmelte Milena.
Schnaubend holte ich ein weiteres Kleid aus ihrem Schrank und betrachtete mich damit im Spiegel. Nein, ich war nicht verliebt. Ich wollte ihn. Nackt. In meinem Bett. Das war ein riesiger Unterschied.
„Joanna? Wo willst du wieder hin?“ Mein Vater passte mich ab, als ich am nächsten Abend gut gelaunt die Treppe hinunterging.
Nicht mehr lange und ich würde Konstantin wiedersehen und noch mehr. Oh, hoffentlich noch viel mehr als nur das. „Ich gehe aus. Wir haben doch geklärt, dass ich schon lange volljährig bin und machen kann, worauf ich Lust habe, oder?“
„Wie war deine Klausur?“
„Gut. VWL ist nicht schwer.“ Ich zuckte mit den Schultern und holte meine schönen, hochhakigen Winterschuhe aus dem Schuhschrank, die super zu dem Outfit passten, das ich mir von Milena geliehen hatte.
„Sehr schön. Wir müssen kurz reden.“
Ich hielt nicht einen Moment inne. In den vergangenen beiden Tagen hatten wir beide schon mehr miteinander geredet als in dem kompletten letzten Jahr. „Ich habe es eilig.“ Ich hatte ein wenig Angst, dass ich keinen Platz mehr neben Konstantin bekommen würde, wenn ich zu spät dran war. Milena hatte versprochen, mir einen Platz freizuhalten, aber das würde sie nicht ewig machen können, ohne dass es auffällig wurde. „Können wir das nicht morgen machen?“
„Nein, jetzt. Solange du hier wohnst hast du dich an meine Regeln zu halten, Joanna.“
„Welche Regeln, Papa?“ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. Dank meinen hohen Schuhen waren wir fast auf Augenhöhe.
„Dass du mir zuhörst und nicht immer verschwindest, wie es dir passt. Du hast dich abzumelden, wenn du weggehst. Ich mache mir sonst Sorgen um dich, wenn du die ganze Nacht weg bist und ich nicht weiß, wo du unterwegs bist.“
„Gut. Ich gehe mit ein paar Kommilitonen in die Stadt rein. Wir wollen feiern, dass wir die letzte Klausur dieses Jahr geschafft haben. Ich komme wahrscheinlich erst spät wieder. Du wirst es nicht merken“, erwiderte ich knapp. Innerlich rollte ich mit den Augen.
„Und dein Studium hat Vorrang, verstanden? Meinetwegen kannst du so viel ausgehen wie dur möchtest. Solange du deine Klausuren bestehst“, fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt.
„Wo ist dann jetzt das Problem?“, murmelte ich und schaute auffällig auf meine Uhr. „Ich habe immer Einser und bin unter den besten zehn Prozent. War es das jetzt? Oder soll ich dir noch meine Klausuren zum Unterschreiben vorbeibringen?“
„Nein, eine Sache noch.“ Er holte tief Luft. „Komm bitte kurz mit ins Wohnzimmer.“
„Warum? Ich will weiter. Ich bin verabredet und kann nicht zu spät kommen.“
„Fünf Minuten, Joanna. Mehr nicht. Solange können deine Studienkollegen dich noch entbehren.“
Jetzt rollte ich offensichtlich mit den Augen. Genervt folgte ich ihm. Fünf Minuten mehr könnten schon über meine Zukunft mit Konstantin entscheiden. Aber davon hatte mein Vater natürlich keine Ahnung. Wie denn auch? Das letzte Mal war er vor zwei Jahren ausgegangen.
„Du bekommst Taschengeld, aber in Zukunft wirst du dafür auch etwas tun müssen.“
„Was? Ich dachte, ich soll mich auf mein Studium konzentrieren. Von einem Nebenjob war nie die Rede.“ Fassungslos schaute ich ihn an. Es war eine Diskussion vor knapp eineinhalb Jahren gewesen, als ich mein Studium begonnen hatte. Mein Vater hatte mir gesagt, dass es so vollkommen in Ordnung sei. Mein Studium hätte Vorrang. Und daran wollte ich auch nichts ändern. Mir gefiel mein Leben so, wie es jetzt war. Mit allen Freiheiten, die ich hatte und ohne jegliche Verpflichtungen. Ich würde noch lange genug arbeiten.
„Wenn du unter der Woche beinahe jeden Tag feiern gehen kannst, dann dürfte das kein Problem sein. Außerdem verlange ich nichts Unmenschliches von dir.“ Er holte tief Luft und blieb im Eingang zum Wohnzimmer stehen. Eine fremde Frau saß an unserem Esstisch, die sich jetzt langsam erhob. „Joanna, das ist Marianna Winter.“
„Freut mich. Aber du brauchst mir deine neue Freundin nicht vorzustellen. Eine Einladung zur Hochzeit reicht.“ Ich schaute nur kurz zu ihr rüber.
Mein Vater presste die Kiefer fest aufeinander, die einzige Reaktion, die er mir in den letzten Monaten gezeigt hattev. „Sie ist nicht meine Freundin. Sie ist wegen dir hier, Joanna.“
Kapitel 3 – Heute
Wie betäubt saß ich in Mariannas Auto und starrte aus dem Fenster. Sie fuhr langsam durch die dunklen Straßen unseres Vorortes. Ich konnte nicht sagen, wie lange wir schon unterwegs waren und was unser eigentliches Ziel war. Meine Gedanken kreisten nur um das, was passiert war.
Ich wollte weinen, aber es wollte keine einzige Träne kommen. Ich wollte trauern, aber die Trauer huschte an mir vorbei, ohne dass ich sie greifen konnte. Ich wollte an etwas festhalten, doch mein Leben glitt durch meine Finger, ohne dass ich es greifen konnte. Dabei war es nicht das meine, das auf dem Spiel stand.
Die Straßen verschwammen vor meinen Augen. Die aufgehende Sonne tauchte alles in ein angenehmes und warmes, orangenes Licht. Es wäre schön gewesen, wenn ich es gesehen hätte. Ich wollte nicht wieder daran denken, wollte nicht an die vielen Sonnenaufgänge, die ich erlebt hatte. An die darauf folgenden Sonnenuntergänge. An das schwindende Licht. An die Dunkelheit, die langsam vom Himmel Besitz ergriff. Nur, um am nächsten Morgen wieder abgelöst zu werden von den ersten Sonnenstrahlen. Wie oft hatte ich das alles schon gesehen? Wie viele Nächte war ich schon wach geblieben, nur um dieses Schauspiel zu beobachten?
Er hatte mir immer gesagt, dass das der Kreislauf des Lebens sei. Jeder Tag ging einmal vorüber, so wie jede noch so lang erscheinende Nacht wieder abgelöst werden würde von einer zarten Morgenröte. Nichts würde unendlich lange andauern.
Ein Sinnbild für das Leben. Alles war endlich.
Wer hätte schon gedacht, dass ich das einmal mit seinem Leben in Verbindung bringen würde? Ich nicht. Und er mit Sicherheit auch nicht. Bekam er das jetzt überhaupt noch mit? Konnte er noch denken? Fühlte er noch? Kämpfte er?
Der Wagen hielt an. Mein Blick wurde klarer, die Umgebung um mich herum nahm wieder scharfe Konturen an. Wir waren nicht am Krankenhaus. Wir waren noch immer in dem Vorort, in dem wir beide wohnten. Die Straße kam mir vage bekannt vor, auch wenn ich es im ersten Moment nicht einordnen konnte. Erst, als ich das junge Mädchen sah, das mit verheultem Gesicht auf das Auto zusteuerte, wusste ich es wieder. Die Erinnerungen liefen in meinem Kopf ab wie ein Film. Immer wieder hatte ich ihn damit konfrontiert. Es war einfach lächerlich gewesen. Lächerlich und unglaublich unwichtig.
„Was macht sie hier?“ Der Vorwurf in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Es berührte mich kaum. Ich hörte sie, aber es löste nichts in mir aus. Keine Wut, keinen Trotz, keine Eifersucht. Nichts. Sie war egal. Es hatte doch alles keinen Sinn mehr, wenn er nicht mehr hier war.
„Joanna hat durchaus ein Recht darauf, es zu wissen.“ Marianna klang erstaunlich ruhig.
„Nein, hat sie nicht.“ Ihre Stimme war erstickt. Sie weinte. Ich beneidete sie darum. Ich hätte meine Gefühle auch gerne auf diese Art und Weise gezeigt. Doch in mir war nichts, dem ich irgendwie hätte Ausdruck verleihen können. Ich fühlte nichts. Ich war wie betäubt. In mir war nur eine Leere. Als hätte mir jemand in nur ein paar Minuten all das geraubt, was das Leben für mich lebenswert machte.
„Es ist in Ordnung, Julia. Wir sind alle mit dem gleichen Ziel hier.“
Müde lehnte ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Sie fühlte sich kühl und glatt an meiner Stirn an. Die Welt raste wieder an mir vorbei, während sie im gleichen Moment still zu stehen schien. Würde sie sich überhaupt noch weiterdrehen ohne ihn? Hatte die Welt noch einen Sinn? Worin lag der Sinn in meinem Leben, wenn seines jetzt zu Ende sein sollte?
Wir passierten das Ortsschild. Die Straßen waren frei. Ich schloss die Augen, wollte wenigstens irgendetwas fühlen. Aber da war nichts. Keine Verzweiflung, keine Trauer. Ich war nur noch eine leere Hülle. Ich atmete. Ich existierte. Und selbst das schien im Moment noch zu viel zu sein, um es zu ertragen.
Keiner sagte mehr ein Wort. Die Sonne stieg langsam höher. Ich spürte die Wärme auf meinen Augenlidern. Sie ließ mich kalt.
Eine dumpfe Erinnerung kam in mir hoch. Die Erinnerung an die Hoffnung, die ich damals noch hatte. Und die Enttäuschung, als sie mit jedem Tag ein wenig mehr schwand. Genau konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wann ich sie verloren hatte oder wann ich aufgehört hatte, jeden Tag daran zu denken. Es war eine schwache Erinnerung an längst vergessene Zeiten. Verschwommen und unklar. Und verstärkte nur das, was ich jetzt fühlte.
Nichts.
Kapitel 4 – Dezember 2018
„Wo warst du denn?“ Ungeduldig drückte Milena mich, als ich endlich in dem Pub ankam, in dem wir uns mit dem Rest unserer Clique verabredet hatten.
Ich rollte mit den Augen. „Frag nicht. Mein Dad hat mich aufgehalten. Und dann habe ich auch noch den Bus verpasst.“
„Schon wieder?“ Mitfühlend verzog Milena das Gesicht. Sie hatte mir einen Platz neben sich am Ende des Tisches freigehalten. Uns gegenüber waren noch zwei Plätze frei. Kurz ließ ich meinen Blick über alle Anwesenden schweifen. Valentina lächelte mir kurz zu. Neben ihr saß ihr Freund Kristian, der sich angeregt mit zwei anderen Kommilitoninnen von uns unterhielt. Er selbst machte seinen Master in Architektur, begleitete seine Freundin aber auf viele von unseren Treffen. Ich mochte ihn gerne. Er war eine angenehme Gesellschaft. Milena saß rechts von mir und neben ihr Selina und Xenia, zwei beste Freundinnen, die zu dem Kern unserer kleinen Clique gehörten. Ihnen gegenüber saßen zwei Jungs die ich nur vage vom Sehen kannte. Wahrscheinlich die Freunde von Konstantin.
„Er ist noch nicht da“, raunte meine beste Freundin mir überflüssigerweise zu.
„Wer fehlt dann noch?“ Ich nickte zu dem zweiten freien Platz uns gegenüber.
Milena hob unwissend die Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht hat Valentina noch jemanden eingeladen.“
„Deinen Bruder vielleicht?“
„Um Gottes Willen, nein. Der hat hier nichts zu suchen.“ Sie rümpfte die Nase.
Eine junge Kellnerin kam vorbei und brachte die ersten Getränke vorbei. Milena und ich bestellten uns noch einen Gin Tonic.
„Was wollte dein Vater wieder von dir?“, griff sie das Thema wieder auf und wandte sich zu mir um. Der Rest vom Tisch redete noch über die Klausur. Wir beide hatten keine Lust, uns daran zu beteiligen. Ich wollte nicht so tun, als wäre sie schwer gewese und als wäre ich mir nicht sicher, ob ich bestanden hätte. Milena ging es da zum Glück ähnlich.
Ich konnte nicht anders als wieder genervt die Augen zu verdrehen. „Er meinte, er will jetzt feste Regeln aufstellen. Er hätte Angst um mich.“
„Wie süß“, bemerkte sie trocken. „Kurz vor deinem einundzwanzigsten Geburtstag.“
„Eben.“ Ich seufzte. „Er meinte, dass ich jemandem Nachhilfe geben soll, um mir mein Taschengeld zu verdienen.“
„Einem Kerl?“
„Ja.“
„Ist er wenigstens heiß?“
„Keine Ahnung, ich kenne ihn nicht. Und ich bezweifle, dass er so gut aussieht wie Konstantin.“ Missmutig verzog ich den Mund. „Mir wurde nur gesagt, dass er Benjamin heißt und in zwei Jahren sein Abitur macht.“
„Wie alt ist er dann? Fünfzehn? Sechzehn?“
„So irgendwie wahrscheinlich. Auf jeden Fall hält sich meine Motivation dafür wirklich sehr in Grenzen. Ich frage mich wirklich, was mein Vater sich dabei gedacht hat. Als ob ich Lust darauf hätte, irgendeinem kleinen Jungen Mathe und Englisch beizubringen. Da kann ich meine Zeit sehr viel besser nutzen. Wahrscheinlich hat er einen Anfall von Väterlichkeit und will die letzten Jahre nachholen.“
„Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm und er stellt sich gut an und es ist bald wieder vorbei“, versuchte Milena mich aufzumuntern und drückte meinen Arm. „Und bis dahin kannst du dich ja anderweitig ein wenig ablenken.“ Vielsagend zwinkerte sie mir zu.
„Hoffentlich. Ich habe mir extra Mühe gegeben mit meinen Haaren.“
„Also ich würde sofort mit dir nach Hause gehen“, lachte sie.
Dankend nahm ich von der Bedienung meinen Gin Tonic entgegen und nahm erst einmal einen großzügigen Schluck aus dem Glas. Der Alkohol beruhigte mich. „Oh man, ich bin so dumm. Wie war es bei der Agentur heute Nachmittag? Du hast noch gar nichts erzählt.“
„Nicht so gut. Sie meinten, sie würden sich melden, aber ich habe wenig Hoffnung.“ Milena verzog das Gesicht. Betrübt seufzte sie. „Naja, davon lasse ich mich auf jeden Fall nicht unterkriegen, ich probiere es weiter.“
„Das ist gut. Aber die haben wirklich einen Knall, wenn sie dich nicht nehmen.“ Ich schüttelte den Kopf. Es gab wirklich niemanden, der hübscher und fotogener war als sie.
„Vielleicht war ich einfach zu aufgeregt. Wahrscheinlich hat ihnen das nicht gefallen. Naja, wir werden sehen. Anfang Januar bin ich noch bei einer anderen Agentur eingeladen. Vielleicht läuft es da ja besser.“
„Mit Sicherheit. Aber vergiss mich bitte nicht, wenn du dann berühmt bist, ja? Oder muss ich dann auch über deinen Manager einen Termin bei dir ausmachen?“, scherzte ich, was Milena zum Lachen brachte.
„Leute, sorry für die Verspätung!“, rief Konstantin laut über den Tisch hinweg.
Er hatte sofort meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Für den Moment vergas ich sogar Milena und ihre angehende Modelkarriere. Konstantin sah schon wieder so unglaublich gut aus. Seine Wangen waren etwas gerötet, seine dunklen Augen funkelten und seine Haare… Oh, seine Haare sahen so perfekt aus wie immer. Zerzaust und etwas durch den Wind. Er sah so sexy und anziehend aus. Ich konnte kaum glauben, was er für eine Wirkung auf mich hatte. Das hatte ich so noch nie zuvor erlebt. Er stand noch einmal eine große Stufe über den anderen Kerlen, mit denen ich bisher etwas hatte. Mein Herz schlug schon wieder etwas schneller, nur weil er da war. Noch hatte er mich nicht gesehen und ich überlegte noch, ob ich einfach direkt aufstehen und ihn kurz umarmen sollte. Oder sollte ich ihn einfach küssen?
„Habt ihr etwa zu lange gevögelt?“, rief Kristian vom anderen Ende des Tisches aus mit einem breiten Grinsen im Gesicht, was den ganzen Tisch zum Lachen brachte.
Inklusive mich. Doch es verging mir augenblicklich, als ich Konstantins Miene sah. Er wirkte verlegen und schaute zur Seite. Es fühlte sich wie ein Schlag in den Magen an. Es war mehr als nur ein harmloses Necken gewesen.
Konstantin räusperte sich. „Also für alle, die sie noch nicht kennen: Das ist Amelie. Meine Freundin.“ Er legte seine Hand auf den Rücken eines zierlichen, blonden Mädchens, das mit ihren großen blauen Augen scheu in unsere Runde blickte.
Beinahe wäre mir mein Glas aus der Hand gerutscht. Mein Blick schweifte zwischen ihm und Amelie hin und her. Nein, das konnte nicht sein. Seit wann hatte er eine Freundin? Was war das zwischen uns gewesen am Donnerstag? Es war zwei Tage her, dass wir eng umschlungen getanzt hatten. Ich war mir sicher, dass zwischen uns mehr gewesen war. Genau wie vor einer Woche, als ich ihn einmal kurz in der Uni abgepasst hatte. Warum brachte er jetzt seine Freundin mit? Warum hatte er überhaupt eine? Er könnte schließlich mich haben.
Alle anderen begrüßten das Mädchen lautstark. Nur ich nicht. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Pärchen abwenden. Konstantin schaute in meine Richtung. Ich konnte seine Mimik nicht deuten. War es Bedauern? Sollte es eine Art Entschuldigung sein, als er kurz und kaum merklich die Schultern hob, bevor er sich neben seine Freundin an den Tisch setzte? Genau mir gegenüber. Wenn ja, war sie wirklich beschissen. Was dachte er sich dabei? Warum hatte er das getan? Er musste doch gewusst haben, dass ich auch hier war.
Es war kein guter Abend heute. Und er würde nicht besser werden. Eigentlich hätte ich es schon wissen müssen, als mein Vater mich abgefangen hatte. Ich hätte vor einer halben Stunde wirklich nicht gedacht, dass der Abend noch schlimmer werden könnte, doch bei dem Anblick der beiden musste ich mich beinahe übergeben. Warum brachte er sie mit hierher? Warum hatte er überhaupt jemand anderen als mich?
Ich nahm einen tiefen Zug aus meinem Glas. Alkohol war vielleicht nicht die beste Idee, aber mit Abstand die einfachste, um damit klarzukommen. Mit Konstantin und seiner Freundin, die aussah wie ein Engel mit ihren zarten Gesichtszügen, den langen blonden Haaren und den riesigen blauen Augen. Sie sah jung aus, deutlich jünger als ich. Ob sie überhaupt wusste, wen sie sich da geangelt hatte? Ich bezweifelte es. Sie sah nicht aus wie jemand, der das zu schätzen wusste oder sich dessen bewusst war. Konstantin brauchte jemanden wie mich. Ich wusste, wie man mit Kerlen umging. Und was wollte Konstantin mit einer wie ihr? Das passte einfach nicht. Er war niemand, der sich mit einem kleinen Mädchen abgab, das keine Erfahrung hatte. Warum auch? Was konnte so spannend mit ihr sein, dass er sich direkt auf eine Beziehung mit ihr einließ? Dem Gerede in der Uni nach war Konstantin niemand, der viel Wert auf feste und ernsthafte Sachen legte. Oder machte er das vielleiccht nur, damit sie ihn ranließ? Das würde Sinn machen. Und dann wären sie in zwei Wochen wieder getrennt.
Oder?
Alle anderen bestellten etwas zu essen. Ich verzichtete. Mir war der Hunger vergangen. Ich bestellte stattdessen noch einen Gin Tonic. Milena warf mir einen schiefen Blick zu, sagte aber nichts. Konstantin war mir egal. Ich wollte nur dieses dumme Gefühl vergessen, das sich in meiner Magengegend eingenistet hatte.
Mein Kopf dröhnte. Ein stechender Schmerz zog hinter meinen Schläfen bis in meine Augen. Neben mir raschelte die Bettdecke. Selbst dieses leise Geräusch fühlte sich in meinen Ohren unerträglich laut an und verstärkte das Pochen in meinem Kopf.
Und doch war ich froh, dass es so war. Es lenkte meine Gedanken weg von dem, was gestern Abend passiert war. Ich konnte es viel leichter verdrängen und hinter anderen Gefühlen verstecken. Schmerz zum Beispiel. Oder Übelkeit, die bei jeder Bewegung hochschwappte.
Konstantin und Amelie. Amelie und Konstantin. Konstantin und seine Freundin. Konstantin, wie er seine Freundin küsste. Amelie, wie sie danach selig lächelte und den Blick kaum von ihm wenden konnte. Er wollte einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden. Verdammt, was sollte das? Ich hatte ihn haben wollen. Nur Sex. Nicht mehr. Ich war nicht verknallt in ihn. Und trotzdem war da dieses miese Gefühl in meiner Magengegend.
„Jo? Bist du wach?“, fragte Milena neben mir. Ich hatte ihr den Rücken zugedreht und starrte mit offenen Augen an die Wand.
„Ja.“ Konstantin hatte es schon wieder in meinen Kopf geschafft. Viel früher als mir lieb war. Und mit ihm ein Schmerz, der viel tiefer ging als der in meinem Kopf oder die Übelkeit in meinem Magen. Ein Schmerz, der sich nur temporär mit Alkohol betäuben ließ und danach noch viel schlimmer zurückkam. Was für ein mieser Verräter.
„Wie fühlst du dich?“
„Ich hätte vielleicht doch etwas essen sollen gestern“, erwiderte ich langsam und schloss meine Augen wieder. Die Welt begann wieder, sich viel zu schnell zu drehen.
„Soll ich dir etwas bringen?“
„Nein. Schon gut.“
Milena schwieg. Sie lag ganz still neben mir und rührte sich nicht. Es war das erste Mal, dass sie mich so erlebte. Wir kannten uns tatsächlich noch nicht so lange, dass wir wussten, wie wir mit dem Liebeskummer der anderen umgehen sollten. Nein, es war kein Liebeskummer, korrigierte ich mich in Gedanken sofort. Ich war nur niedergeschlagen, weil meine Pläne mit Konstantin nicht aufgegangen waren. Es war kein Liebeskummer. So etwas hatte ich nicht.
Nur mein verräterisches Herz hatte davon noch nichts mitbekommen.
Scheiß auf das Ding. Wer brauchte das schon?
„Danke“, sagte ich nach einer Weile leise.
„Für was?“
„Dass du mich nach Hause gebracht und hier geblieben bist.“
„Ich bin deine beste Freundin. Das ist selbstverständlich“, erwiderte sie schlicht. „Dafür brauchst du mir nicht zu danken.“
„Trotzdem. Danke.“
„Willst du darüber reden?“
„Über was?“
„Konstantin.“
„Nein“, antwortete ich schnell. Etwas zu schnell. Ich bemühte mich, tief ein- und wieder auszuatmen. Hinter meinen Schläfen pochte es unaufhörlich. „Er interessiert mich nicht mehr. Er hat eine Freundin. Und damit ist er maximal uninteressant für mich geworden.“
„Deshalb hast du dich auch gestern abgeschossen und die beiden den ganzen Abend über ignoriert?“
Fuck, was musste sie ausgerechnet jetzt so aufmerksam sein? „Nein.“
„Jo, sei wenigstens ehrlich. Dann ist es bestimmt nicht mehr so schlimm.“
„Es ist nicht schlimm. Ich bin enttäuscht. Das ist alles“, beharrte ich und setzte mich ruckartig auf. Die Welt um mich herum drehte sich viel zu schnell. Für einen Moment wusste ich nicht, wo oben und unten war. Es legte sich wieder, bevor mir übel wurde.
„Komm, lass uns etwas essen. Dann geht es dir vielleicht auch etwas besser danach.“ Milena war schon aufgestanden und hatte sich ihren Pulli übergeworfen, bevor ich mich überhaupt rühren konnte. „Dein Vater ist doch nicht da, oder?“
Langsam schüttelte ich den Kopf. Die Schmerzen in meinem Schädel nahmen wieder zu. „Er hat Schichtdienst. Er ist ja fast nie da.“
„Sag mal, hast du gestern nicht auch gesagt, dass du heute zu diesem Benjamin musst? Oder ist das erst nächste Woche?“
„Echt? Hab ich das?“ Ich runzelte die Stirn. Ab einem gewissen Zeitpunkt waren meine Erinnerungen an den Abend nur noch verschwommen und vage. Verdammt. Ich hätte es mir aufschreiben sollen. „Scheiße, das kann echt sein. Oh Gott, warum habe ich da zugesagt?“
„Weil du weiteren Stress mit deinem Vater vermeiden möchtest.“ Ungerührt stand Milena da, die Hände in die Hüften gestemmt. Ihre Lippen zuckten etwas. Immerhin eine, die ihren Spaß hatte. „Soll ich dir noch mehr über gestern Abend erzählen? Du warst eigentlich recht witzig.“
„Nee du, lass gut sein. Ist vielleicht besser so, wenn ich nicht mehr alles so ganz genau weiß.“ Stöhnend fasste ich mir an den Kopf.
„Vielleicht“, stimmte sie mir nach einem kurzen Zögern zu. „Also los jetzt, ich krieg langsam Hunger.“
„Warum bist du überhaupt so fit?“ Seufzend schwang ich die Beine aus dem Bett. Wieder blieb ich erst einmal für einige Sekunden sitzen und wartete, bis die Welt aufhörte, sich viel zu schnell zu drehen und ich einigermaßen sicher aufstehen konnte.
„Im Gegensatz zu dir habe ich gestern Abend nicht zu viel getrunken und davor auch etwas gegessen“, erwiderte sie und wartete geduldig, bis ich es endlich geschafft hatte, mir einen weiten Pullover überzuziehen. Schwankend stand ich an meiner Kommode. Den Blick in den Spiegel vermied ich absichtlich. Ich wollte nicht wissen, wie ich aussah. Es reichte schon aus, wenn ich mich schrecklich fühlte.
Auf dem Weg nach unten ließ mich zu allem Überfluss auch noch mein Gleichgewichtssinn im Stich. In meinem Leben lief gerade aber auch wirklich überhaupt nichts zusammen.
„Ich mache dir keine Vorwürfe, dass du gestern Abend ein bisschen zu viel getrunken hast“, sagte Milena sanfter.
„Danke.“
„Ich meine, du magst ihn. Auch wenn du es dir nicht eingestehen willst. Ich kann es total verstehen. Konstantin ist heiß, sexy und hat dieses gewisse Etwas.“ Sie redete einfach weiter, dabei wünschte ich mir, dass sie einfach aufhören würde, ihn zu erwähnen. „Und einen Korb auf diese Art und Weise zu bekommen ist einfach nicht schön.“
„Aber warum tanzt er dann überhaupt so mit mir, wenn er doch eine Freundin hat?“ Erschöpft ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. Wieder waren da die Gefühle, die ich den ganzen gestrigen Abend versucht hatte zu ertränken. Konnten die mich nicht endlich in Ruhe lassen? Ich hatte keine Lust auf das alles, ich wollte das nicht in meinem Leben haben. „Warum tut er so etwas? Ich verstehe das einfach nicht.“
„Vielleicht ist das seine Masche.“ Milena zuckte mit den Schultern und holte eine Pfanne aus dem Schrank hervor. „Keine Ahnung. Manche Jungs sind einfach absolute Machos, die nicht genug bekommen können.“
„Oder er hat sie erst kurz vorher kennengelernt und so. Sie sah ja schon aus wie ein Mauerblümchen.“
„Absolut verklemmt und nichtssagend“, stimmte Milena mir zu. „Optisch passen die ja mal so gar nicht zusammen. Pass auf, in ein paar Wochen ist er wieder Single und steht bei dir vor der Tür. Du bist total sein Typ und er steht sowas von auf dich. Ich hätte echt darauf gewettet, dass er dich mit nach Hause nimmt nach der Party bei Valentina.“
„Gut, dass du es nicht getan hast.“ In mich zusammengesunken saß ich da und schaute Milena zu, wie sie Rühreier und Toast machte. Unser Katerfrühstück, das sich in den letzten anderthalb Jahren etabliert hatte. Ich würde ihr gerne glauben, dass es so war. Aber im Moment konnte ich es nicht. Ich fühlte mich kraftlos und verletzt. Zurückgewiesen. Wann war mir das das letzte Mal passiert? Ich wusste es schon gar nicht mehr.
Ich wollte nur Antworten. Von Konstantin. Warum er so etwas tat, wenn er doch eine Freundin hatte. Es machte alles keinen Sinn. Und vielleicht würde ich es nie erfahren. Und das machte mich noch ein wenig mehr verrückt.
Drei Stunden und eine Kopfschmerztablette später war es soweit. Ich stand vor der Haustür der Winters. Ihr Haus war gerade einmal drei Straßen weiter, so konnte ich dieser ganzen Sache wenigstens etwas Positives abgewinnen. Vorsorglich hatte ich meine alten Mathe- und Englischunterlagen unter dem Arm. Dann konnte ich wenigstens so tun, als sei ich motiviert und vorbereitet. Immerhin bekam ich Geld von den Winters, da sollte ich nicht allzu verkatert und lustlos wirken.