Kitabı oku: «Pine Ridge statt Pina Colada», sayfa 2
Gerüchteküche
Die nächste Woche verlief recht ereignislos. Der neue Kollege war nett und kompetent, so dass seine Einarbeitung gute Fortschritte machte. Sannah traf in der Kantine auf Jonas, der sein überladenes Tablett in ihre Richtung balancierte und sich neben ihr auf einen Stuhl fallen ließ. „Hallo Gasmann. Gab es bei euch mal wieder nichts zu essen?“, begrüßte sie ihn fröhlich. Jonas lebte immer noch in seiner alten Studenten-WG. Der Immobilienmarkt in Hamburg war katastrophal, bezahlbare Wohnungen kaum zu bekommen. Da er weder Lust noch Zeit hatte, einen Maklertermin mit fünfzig anderen Interessenten zu absolvieren, war er einfach in seiner WG geblieben und mittlerweile der amtierende Dinosaurier.
Jonas sah sie überrascht an. „Machst du jetzt doch die Umschulung zum Weihnachtsmann, oder haben sie dir nur neue Batterien eingebaut?“, fragte er und grinste mit seinem jungenhaften Charme. „Letzte Woche hast du noch Trübsal geblasen, und jetzt strahlst du wie ein Honigkuchenpferd.“
„Ich habe bald Urlaub“, erklärte sie erfreut.
Jonas begann sich mit seinem Nudelauflauf zu beschäftigen. Er kaute mit vollen Backen.
„Deswegen habe ich auch einen Anschlag auf dich vor“, kündigte sie an.
„Ich soll mit?“, nuschelte er und zwinkerte ihr zu.
Sie grinste schief. „Nein, du sollst bei mir einziehen“, konterte sie.
Jonas verschluckte sich fast und grinste sie breit an. „Einziehen? Weißt du, Süße, ich wollte dich ja erst mal zum Essen einladen und abwarten, wie es sich so zwischen uns entwickelt. Aber wenn du es so eilig hast, dass ich zu dir ziehe, bitte!“ Er hob ergeben seine Hände. „Verfüge über mich!“
Jetzt war es Sannah, die sich fast verschluckte. Fürsorglich klopfte ihr Jonas auf den Rücken und registrierte amüsiert, dass ihr Gespräch etliche neugierige Zuhörer gefunden hatte. Binnen einer halben Stunde würde die Gerüchteküche brodeln.
Er stopfte sich unbeeindruckt die nächste Ladung Auflauf in den Mund.
„Du wohnst doch immer noch in deinem kleinen WG-Zimmer“, fuhr Sannah fort. „Ich dachte, du passt ein bisschen auf mein Häuschen auf, gießt die Blumen und machst den Briefkasten leer. Dafür hättest du endlich mal genug Auslauf und ab und an ein Vollbad“, entgegnete sie mit einem kleinen boshaften Lächeln.
Jonas nahm nun den Nachtisch in Angriff. Vanillecreme, eine Krönung der chemischen Lebensmittelindustrie. Die Konsistenz erinnerte Sannah stark an Bauschaum. Zwischen zwei vollen Löffeln antwortete er: „Deine Topfpflanzen und ich werden in den drei Wochen viel Spaß haben.“
„Drei Monate“, verbesserte Sannah.
„Drei Monate?“, fragte er erstaunt. „Wo willst du denn hin? Zum Nordpol?“
Sie lachte. „Nein, auf eine Ranch in South Dakota. Heißt das also ja? Du spielst den Housesitter?“
„Na klar!“, meinte Jonas. „Wer weiß, ob ich je wieder die Gelegenheit erhalten werde, deine heiligen Hallen zu betreten. Außerdem bin ich es ja gewohnt, dass du meine Illusionen zerstörst“, jammerte er mit gespielter Leidensmiene.
Sie sah ihn erstaunt an. „Was denn für Illusionen?“
„Nun“, erläuterte Jonas sein Kopfkino. „Als du Urlaub gesagt hast, stellte ich mir vor, dass du deinen Luxuskörper in einen knappen Bikini steckst und dich lasziv an irgendeinem Tropenstrand aalst. Stattdessen habe ich jetzt das Bild von dir in derben Stiefeln und Kuhfladen vor meinem geistigen Auge. Bikini gefiel mir besser!“ Er grinste anzüglich.
Sannah stand auf und musterte ihn mit leichter Missbilligung. Dann beugte sie sich zu ihm herunter. „Bei mir läuft auch gerade Kopfkino. Dein muskulöser Body in einer eng anliegenden Badehose.“ Sie machte eine künstlerische Pause und schnurrte verführerisch: „Am Nordpol!“ Lachend verließ sie die Kantine und ließ Jonas frierend zurück.
Nach Dienstschluss beeilte sich Sannah noch, zum nahegelegenen Supermarkt zu fahren. Annegret war aus dem Urlaub zurück, und Sannah freute sich auf einen Mädelsabend. Vorher musste sie allerdings noch dringend ihre Weinvorräte aufstocken und etwas zu essen besorgen. Es war Freitagabend, und es konnte durchaus eine lange Nacht werden, je nachdem, was Anne so alles zu berichten hatte. Von ihren eigenen neuen Plänen ganz zu schweigen. Sie lief durch die Gänge und lud eine Kiste Rotwein in ihren Einkaufswagen, dazu noch Käse, Baguettes, Oliven und Knabberkram. Als sie an der Tiefkühltheke stand, dachte sie über Eiscreme nach.
„Nein“, entschied sie. Eiscreme gab es traditionell nur bei Liebeskummer, und der stand zum Glück nicht an.
„Ich mag Walnuss“, tönte es über ihre Schulter. Es war Jonas. Er stand, beladen mit einer Wochenration Pizza, hinter ihr und warf erleichtert seinen Einkauf in ihren Wagen. „Hatte keinen Euro für den Wagen, und meine Hände frieren gleich ab“, erklärte er.
„Und ich dachte, du akklimatisierst dich schon mal für die Arktis“, gab Sannah zurück.
Er warf ihr wieder seinen Dackelblick zu. „Bin ich auch zu deiner Party eingeladen?“, fragte er, nachdem sein Blick über ihre Einkäufe geschweift war.
„Sollte zwar ein Mädelsabend werden, aber warum nicht? Dann lernst du auch mal Anne kennen“, stimmte sie zu.
Jonas strahlte sie an. Gemeinsam zogen sie weiter durch die Gänge, und Jonas komplettierte seinen Einkauf noch mit einer üppigen Auswahl an Süßigkeiten.
„Für die WG!“, versicherte er, als er ihren Blick sah.
Als sie sich in Richtung Kasse begaben, lief ihnen eine der OP-Schwestern über den Weg. Sie sah die beiden mit wissendem Blick an und grüßte eine Spur zu freundlich. Die Gerüchteküche hatte Überstunden gemacht. Auch Sannah waren die Zuhörer in der Kantine nicht entgangen.
„Wieso habe ich gerade das Gefühl, einen Kinderwagen zu schieben?“, murmelte sie Jonas zu und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
„Weil am Montag unsere Verlobungsanzeige am schwarzen Brett hängt“, raunte er zurück. Er legte ihr demonstrativ den Arm um die Schultern und fragte laut und deutlich: „Ob die hier auch Ringe verkaufen, Schatz?“
Um Sannahs Fassung war es geschehen. Sie schüttelte sich vor Lachen, und die Schwester verschwand schnell um die Ecke des nächsten Gangs. Spätestens morgen früh würden in der Gerüchteküche die Sicherungen herausknallen.
Auf dem Parkplatz luden sie ihre Einkäufe gutgelaunt in Sannahs Auto. Jonas, der wie üblich zu Fuß unterwegs war, setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Wann kommt denn Annegret?“, wollte Jonas wissen.
„Ich denke so gegen acht“, sagte Sannah. „Sie ist heute erst aus dem Urlaub zurückgekommen und hat sich bestimmt noch ein bisschen hingelegt.“
„Und dann schmeißt ihr noch am gleichen Tag eine Party?“, fragte Jonas erstaunt.
„Na klar!“, bestätigte sie. „Urlaubserinnerungen müssen erzählt werden, solange sie frisch sind.“ Die pikanten Details würden allerdings erst zur Sprache kommen, wenn Jonas wieder weg war. Das behielt sie aber für sich.
„Dann nehme ich mir für deine Urlaubsparty wohl besser gleich eine ganze Woche frei“, stellte Jonas fest. „Wie bist du eigentlich auf den Ranch-Aufenthalt gekommen?“
Sannah winkte ab. „Erzähle ich euch nachher! Anne weiß noch nichts davon. Sie wird mich heute sicher noch ins Kreuzverhör nehmen und mir den Prozess machen.“
„Anwältin?“, fragte Jonas.
Sie nickte. „Für Familien- und Eherecht, war damals echt hilfreich“, meinte sie verbittert.
Jonas schluckte trocken. Sannahs Ehe war ein sehr sensibles Thema, das in der Klinik möglichst vermieden wurde. Sannahs Exmann Markus war ebenfalls ein Kollege gewesen. Selbstbewusst und egozentrisch hatte er die deutlich jüngere Sannah um den Finger gewickelt. Die Hochzeit folgte schnell, nicht zuletzt, weil er sich davon finanzielle Vorteile versprach. Ihr Vater war ein erfolgreicher Immobilienmakler für die oberen Zehntausend der Hamburger Gesellschaft. Mit der Treue nahm es Markus nicht so genau, aber davon bemerkte Sannah zunächst nichts und hatte sich wie ein Opferlamm zur Schlachtbank führen lassen. Anfangs war noch alles gut, aber nach und nach kochte auch hier die Gerüchteküche hoch. Markus hatte mehrere Affären, und zwar so offensichtlich, dass auch Sannah nicht mehr die Augen davor verschließen konnte. Immer häufiger kam sie verheult zum Dienst, und ihre Kollegen mutmaßten, dass er sie auch schlagen würde. Eines Abends wurde daraus traurige Gewissheit, als sie mit Hämatomen, Platzwunden und einer schweren Gehirnerschütterung in der Notaufnahme eingeliefert wurde. Die Klinikleitung hatte Markus daraufhin fristlos gekündigt, und Sannah reichte die Scheidung ein. Jonas konnte nur zu gut verstehen, dass sie seitdem nichts von Männern im Allgemeinen und Kollegen im Besonderen wissen wollte. Er hatte das immer respektiert und ihr hilfreich zur Seite gestanden.
Bei Sannah angekommen, sah Jonas zum ersten Mal ihre kleine Villa. Sie war alt, mit verspielten Details, Gauben und Bogenfenstern. Eine kurze Treppe führte zur Eingangstür mit Schnitzereien und geschliffenem Glaseinsatz. Rosensträucher säumten den Weg und einen Großteil des Gartens. Idyllisch unter Kastanien gelegen, wirkte sie wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, das die Zeit verträumt hatte. Jonas lächelte, dieses Haus passte zu Sannah. Sie luden die Einkäufe aus dem Auto, und Jonas folgte ihr in die Küche. Sie deutete auf eine Tür, hinter der sich der Tiefkühler verbarg. Er räumte seine Pizzen ein, während sie den Teekessel auf den alten Gasherd stellte.
„Hast du Lust auf eine kleine Führung?“, bot sie an.
„Führung ist wohl der richtige Ausdruck“, meinte er fasziniert.
„Ich komme mir vor wie im Museum.“
Die Decken waren hoch, mit Stuck verziert. Die Böden bestanden aus Eichenholzdielen und in Flur, Küche und Bad aus weißen und schwarzen Steinfliesen. Die Badewanne hatte sogar noch Füße in Form von Löwenpfoten. Alle Räume waren liebevoll mit Antiquitäten möbliert. Jonas fühlte sich in eine andere Zeit versetzt. Im Wohnzimmer stand ein alter Flügel mit gedrechselten Beinen und geschnitzter Notenablage. Überall standen Tiffany-Lampen und tauchten die Räume in ein gedämpftes, behagliches Licht.
Jonas deutete auf den Flügel. „Darf ich?“, fragte er vorsichtig. Sannah nickte nur stumm und strich mit ihren Fingern zärtlich über den schwarzen Lack. Jonas setzte sich und begann zu spielen. Als die melancholische Melodie von Claire de Lune durch die Räume schwebte, stiegen Tränen in ihre Augen, die seltsam entrückt in die Ferne blickten. Der scharfe Pfiff des Wasserkessels riss Sannah aus ihren Erinnerungen.
Nachdem sie gemeinsam das Abendessen vorbereitet hatten, saßen sie mit einer Tasse Tee vor dem Kamin, der wohlige Wärme verbreitete. Sannah hatte zu ihrer fröhlichen Art zurückgefunden.
„Ich wusste gar nicht, das du so gut spielst“, sagte sie lächelnd. Jonas blickte betrübt zu Boden. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich damit zum Weinen bringe, hätte ich es gelassen.“
Sannah schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut. Der Flügel gehörte meiner Mutter. Seit ihrem Tod hat niemand mehr darauf gespielt. Es war schön, ihn wieder zu hören.“
Cowboys und Kuhfladen
Es klingelte an der Tür. „Jetzt geht es rund!“, rief sie gut gelaunt. Annegret stürmte, sonnengebräunt und eingehüllt in eine Wolke Parfum, durch die Tür. Annegret Marquardt, genannt Anne, war der Prototyp einer Karriere-Barbie: Groß, blond, attraktiv, erfolgreich, energisch und mit allen Wassern gewaschen, ließ sie sich kein X für ein U vormachen. Aber sie hatte auch eine verborgene Seite. Fürsorglich, mütterlich und stets besorgt wachte sie über die Menschen, die ihr lieb und teuer waren. Während Sannahs Scheidung hatte Annegret für sie gekämpft wie eine Löwenmutter um ihr Junges. Sie hatte Markus vor Gericht in der Luft zerfetzt und bluten lassen.
Stürmisch drückte sie Sannah an sich. „Ach, Süße, ist das schön dich zu sehen. Das nächste Mal musst du mitkommen. Es war todlangweilig. Nur Rentner und Quallen.“
„Nein, danke!“, wehrte Sannah lachend ab. „Ich habe andere Pläne.“
Annegret warf ihren Mantel auf den Stuhl und machte ein erstauntes Gesicht. „Habe ich in der kurzen Zeit etwas verpasst?“ In diesem Moment kam Jonas grinsend um die Ecke, und sie hob erstaunt die Augenbrauen.
„Wie es scheint, habe ich tatsächlich etwas verpasst“, stellte sie fest, lächelte gefährlich und musterte Jonas von oben bis unten. Er hielt ihrem Blick amüsiert stand.
„Das ist Jonas. Mein Kollege!“, sagte Sannah mit Nachdruck.
„Geht ihr doch schon mal ins Wohnzimmer! Ich hole das Essen.“
Während des Essens berichtete Annegret von ihren Urlaubserlebnissen. Schrill, bunt und wortgewandt schilderte sie ihre Kämpfe mit Quallen und älteren Herrschaften, die bereits morgens um sechs die Liegestühle am Pool mit Handtüchern besetzten. Sannah und Jonas lachten Tränen, als sie berichtete, wie sie den Handtüchern den Garaus bereitet hatte.
Nach dem Essen erklärte sich Jonas freiwillig bereit, den Abwasch zu machen, und verschwand in der Küche.
„Erklärst du mir jetzt mal, was hier los ist?“, fragte Annegret mit vielsagendem Blick.
Sannah machte ein unschuldiges Gesicht. „Nichts ist los. Jonas ist mir beim Einkaufen zugelaufen. Er war schon halb erfroren, da hab ich ihn mitgenommen“, schilderte sie kichernd und erntete einen strafenden Blick von ihrer Freundin.
„Er ist ein lieber Kollege“, fügte Sannah hinzu.
„Ist er Kollege McDreamy oder Kollege McSexy?“, hinterfragte Annegret mit einem vielsagenden Grinsen, schenkte Wein nach und lümmelte sich aufs Sofa.
„Weder noch“, antwortete Sannah bestimmt.
„Schade, ich hatte gehofft, du hättest endlich mal einen netten Kerl kennengelernt und würdest wieder anfangen zu leben“, resümierte Annegret enttäuscht.
Sannah verdrehte die Augen. Da war er wieder, der Spruch. Diesmal in der Variante Nr. 256.
Jonas war mit dem Abwasch fertig und kam mit einer Schüssel voll Schokolade und Toffees wieder ins Wohnzimmer. Sannah schenkte ihm ein dankbares Lächeln, nicht nur für die geleistete Hausarbeit, sondern vor allem, weil er sie davor bewahrte, dass Anne dieses leidige Thema noch weiter vertiefen konnte. Dafür ließ er die nächste Bombe platzen.
„Jetzt erzähl doch mal von deinen Urlaubsplänen!“, forderte er Sannah auf, während er anfing Schokolade zu futtern.
Annegret riss begeistert die Augen auf. „Du willst in Urlaub fahren? Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Endlich hörst du mal auf meinen Rat“, jubelte sie. „Wo willst du hin?“
Sannah nahm einen Schluck Wein. „Ich fahre für drei Monate auf eine Ranch in South Dakota.“
Annegret entgleisten die Gesichtszüge. Sie hatte Mühe sich wieder zu sammeln. „Aha, und ich nehme mal an, dieser charmante Mensch“, sie deutete auf Jonas, „ist dein behandelnder Ohrenarzt?“
„Wieso Ohrenarzt?“, fragte Sannah irritiert.
„Weil ich dir drei Wochen Villa Palma empfohlen habe und nicht drei Monate Valla Pampa!“
Jonas fing schallend an zu lachen und ließ dabei fast die Schüssel mit der Schokolade fallen. Annegret rettete sie mit beherztem Griff und machte sich über die Toffees her.
„Um die Handtuch-Brigade in ihre Schranken zu weisen?“, verteidigte sich Sannah. „Nein, danke! Du hast selber gesagt, es war langweilig. Nur Rentner und Quallen.“
Jonas rang nach Luft. „Kein großer Unterschied zu Cowboys und Kuhfladen“, bemerkte er lachend. Bei dem Wort „Cowboys“ wurde Annegret hellhörig. Sie kannte Sannahs Vorliebe für Pferdeställe. Während der Studienzeit hatte sie oft genug ihre liebe Not gehabt, Sannah vom Misthaufen wegzuzerren oder sie aus dem Sattel zu bekommen.
„Wenn man auf Dreck und Schweiß steht“, meinte sie und grinste schalkhaft in Sannahs Richtung.
Sannah betrachtete die beiden anderen auf dem Sofa. Da saß sie nun, die Rentner-auf-Qualle-Fraktion. Süßigkeiten futternd, mit der gleichen gespannten Haltung, gemeinsam die Schüssel haltend. Sie musste grinsen. Die zwei waren sich offensichtlich einig. „Was zum Teufel willst du da?“, fragte Jonas.
Annegret klopfte ihm zustimmend auf den Schenkel, was Jonas mit einem Lächeln quittierte.
‚Fehlt nur noch, dass er gleich Männchen macht‘, dachte Sannah amüsiert.
„McSweety und ich sind einer Meinung“, bestätigte Annegret.
„Was willst du da? Dort laufen lauter Hinterwäldler mit Waffen herum und schießen auf alles, was sich bewegt“, gab sie mit besorgter Miene zu bedenken.
„Ich werde in der Pine Ridge Reservation eine Fotodokumentation machen. Kann, mit ein bisschen Glück, ab und zu mal reiten und mir die Gegend ansehen, und wenn ich zurück bin, halte ich einen Vortrag für den Spendenverein“, erklärte Sannah sachlich.
„Mein Gott, Sannah, redest du etwa von einem Indianer-Reservat?“, rief Annegret entsetzt. „Weißt du überhaupt, was für katastrophale Zustände dort herrschen?“
„Natürlich weiß ich das“, erwiderte Sannah ruhig. „Die Arbeitslosenquote liegt bei rund achtzig Prozent, mehr als drei Viertel der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Sie kämpfen mit Alkohol- und Drogenproblemen und leiden, bedingt durch billige und schlechte Nahrung, an Diabetes. Die Selbstmordrate ist viermal höher als der normale Durchschnitt, die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfzig Jahren und die Säuglingssterblichkeit ist ebenfalls deutlich höher als normal. Von den teilweise menschenunwürdigen Wohnbedingungen ganz zu schweigen. Immer wieder erfrieren in den harten Wintern einige Menschen, weil sie nicht genug Geld für das nötige Gas zum Heizen aufbringen können. Das ist nicht nur katastrophal, das ist auch beschämend für ein Land, das so arrogant ist, sich selbst die Nummer eins zu nennen“, ereiferte sie sich. „Ich würde nie in den USA einfach nur Urlaub machen wollen, aber dort in Pine Ridge kann ich meinen Beitrag leisten und etwas Sinnvolles tun.“
Annegret schwieg betroffen. Sannah wusste offensichtlich nur zu gut, worauf sie sich eingelassen hatte.
„Ist das dieses Horsemanship-Projekt, von dem du mal erzählt hast?“, brach Jonas das Schweigen.
Sannah nickte.
„Finde ich super! Ist genau dein Ding!“, meinte er.
Sannah lächelte ihn dankbar an.
Nach dem hitzigen Gespräch verabschiedete sich Jonas und rief sich ein Taxi.
„Jetzt schon?“, maulte Annegret enttäuscht.
Er nickte. „Ich habe Wochenenddienst. Wenn man seine Patienten wohlbehalten schlafen legen will, sollte man selbst ausgeschlafen sein.“ Er gab Sannah einen Kuss auf die Wange. „Danke für den schönen Abend, wir sehen uns am Montag.“ Dann gab er auch Annegret einen Kuss. „Hat mich sehr gefreut dich kennenzulernen. Wir sehen uns, wenn wir die junge Dame in ihren Flieger setzten.“ Jonas griff noch mal beherzt in die Schokoladenschüssel. „Wegzehrung!“ Er grinste und verschwand.
Nachdem Jonas gegangen war, machten es sich die Frauen gemütlich. Sie lümmelten vor dem Kamin und reduzierten die Bestände an Knabberkram und Wein. Ganz wie in alten Studentenzeiten. „Jetzt mal ehrlich“, bohrte Anne neugierig nach. „Da läuft wirklich nichts zwischen dir und ihm?“
Sannah warf ein paar Erdnüsse ein und schüttelte den Kopf. „Nein, da läuft gar nichts. Ich weiß, was du jetzt sagen willst, er ist lieb und süß, er sieht gut aus, hat Charme und Humor. Aber es funkt nicht bei mir. Ich bekomme keine weichen Knie. Er ist einfach nicht mein Typ.“
„Du hast doch überhaupt keinen Typ. Jedenfalls keinen klar erkennbaren“, stichelte Annegret.
Sannah schmiss ihr zur Strafe ein Kissen an den Kopf. „Dafür ist dein Typ umso klarer erkennbar. Eine Kreuzung aus Antonio Banderas und Schwarzenegger. Gern auch mit gut gefüllter Badehose und Brusthaar-Toupet mit eingewebtem Goldkettchen“, frotzelte Sannah lachend zurück.
„Besser als nichts!“, stellte Anne kichernd fest. „Du würdest deinen Ritter in glänzender Rüstung ja nicht mal erkennen, wenn er dir laut scheppernd vor die Füße fällt!“
Schlangen und Fohlen
Zur gleichen Zeit saß Joshua White Cloud auf seiner Veranda und trank Kaffee. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und starrte missmutig auf seine Stiefel. Nachdem er die Post durchgesehen hatte, näherte sich seine Laune dem Gefrierpunkt. Sie würden eine Frau schicken. Ausgerechnet. Bald würde eine Susannah Sowieso auf der Ranch auftauchen und seinen Frieden stören. Insgeheim hatte er gehofft, dass niemand im vielbeschäftigten Deutschland Zeit und Mühe investieren würde, um hierher zu kommen. Doch da hatte Josh sich offenbar getäuscht. Susannah. Er assoziierte diesen Namen automatisch mit einer biederen Hausfrau Mitte fünfzig, blond und im doppelten Sinne blauäugig. Sie würde den ganzen Tag, mit Kamera bewaffnet und in ungeeigneten Schuhen, hinter ihm herrennen und ihn mit diesem schrecklichen Akzent nerven. Tolle Aussichten. Mal abgesehen davon, dass Frauen ohnehin nur Ärger mit sich brachten.
Josh klassifizierte Frauen in zwei Kategorien: in die rötlichen Kornnattern, die zwar harmlos waren, aber eine echte Plage werden konnten, und die zwar unauffälligeren, aber dafür umso gefährlicheren Klapperschlangen. Letztere schlugen erst gewaltigen Krach und bissen dann zu, wenn man dumm genug war, ihnen nicht aus dem Weg zu gehen. Ihr Gift verursachte unerträgliche Schmerzen und bleibende Narben. Beide Arten wollte er nicht im Haus haben. Am liebsten hätte er die ganze Sache abgeblasen, aber den Kindern zuliebe tat er es nicht. Er wollte die Spender nicht verärgern. Das Projekt, das er im Bereich Manderson White Horse Creek betreute, war auf die Spenden angewiesen. Er bot für die Horsemanship kostenlosen Reitunterricht an. Leider hatte er keine Reithalle, sodass dies nur in den schneefreien Monaten möglich war. Es gab mehrere solcher Zentren über die ganze Reservation verteilt. Im Winter bastelte er mit den Kindern oder lehrte sie die alten Traditionen seines Volkes. Er arbeitete gern mit den Kids, nicht nur weil er hoffte, sie damit von den Drogen fernhalten zu können, sondern auch, weil er etwas weitergeben wollte, das für seine Vorfahren selbstverständlich gewesen war: die Liebe zu Pferden. Früher waren Pferde aus dem traditionellen Leben der Lakota nicht wegzudenken gewesen. Sein Volk hatte sie als Packtier, für die Jagd und für den Krieg genutzt. Ein Krieger hatte eine enge Bindung zu seinem Pferd, es war ein Teil seiner Familie. Er musste sich in jeder Situation auf sein Pferd verlassen können, oder er war tot. Diese Bindung entstand durch jahrelange geduldige Arbeit. Nur so bildeten sich gegenseitiges Vertrauen und Respekt. Ein solches Pferd war kostbar. Heutzutage nannte man es Horsemanship. Viele wollten es lernen, doch nur sehr wenige beherrschten diese Kunst. Josh hatte sich über die Grenzen des Reservates hinweg einen Namen gemacht. Etliche Kunden von außerhalb brachten ihm ihre Tiere zur Ausbildung und nahmen nicht selten selbst Unterricht. Davon konnte er ganz gut leben und sich seinen Traum von der eigenen Pferdezucht erfüllen. Diese Tiere waren sein Leben, seine Arbeit und seine Familie. Mehr brauchte er nicht. Sein Blick wanderte von den Stiefeln hinüber zur Weide, wo die ersten Fohlen des Jahres zwischen ihren Müttern herumtollten. Sein Ärger verflog, und er lächelte.