Kitabı oku: «Pine Ridge statt Pina Colada», sayfa 3

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Reisefieber

Die letzten drei Wochen vor Sannahs Abreise vergingen wie im Flug. Sie brauchte dringend noch neue Stiefel zum Reiten, ihre alten fielen fast auseinander. In ihrem Schlafzimmer stapelten sich die Sachen für den Koffer. Die Auswahl würde schwierig werden, sie durfte ja nur zwanzig Kilo mitnehmen. Sannah beschloss, auf alles zu verzichten, was sie auch vor Ort kaufen konnte. Im Internet hatte sie einen Sprachführer für Lakota entdeckt und bestellt. Sie bildete sich nicht ein, diese Sprache in so kurzer Zeit lernen zu können, aber für ein paar Höflichkeitsfloskeln würde es schon reichen. Praktischerweise enthielt das Buch auch ein paar Benimmregeln. Jonas würde sich am Vorabend einquartieren, damit sie ihm noch einige Dinge erklären konnte. Mit jedem Tag steigerte sich ihre Vorfreude, und sie konnte es gar nicht abwarten endlich aufzubrechen.

Als Jonas schließlich mit Sack und Pack vor der Tür stand, flatterte sie herum wie ein aufgescheuchtes Huhn. Er sah sich dieses Schauspiel eine Weile lang an, dann drückte er sie in ihren Sessel.

„Jetzt komm mal wieder runter, du benimmst dich ja schlimmer als meine Schwester vor ihrer Hochzeit“, mahnte er.

Sannah grinste schief. „Wenn das der Vorabend meiner Hochzeit wäre, säße ich jetzt im nächsten Flieger zum Südpol“, versicherte sie ihm glaubhaft.

„Wie wäre es mit Abendessen?“, wechselte er das Thema. „Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.“

Sie kochten zusammen. Nach dem Abendessen hatte sich Sannahs Aufregung auf ein Normalmaß reduziert. Sie packte die restlichen Sachen in ihren Koffer, während Jonas sich im Gästezimmer häuslich einrichtete. Danach gönnten sie sich noch ein Glas Wein vor dem Kamin.

„Du wirst mir fehlen“, sagte Jonas.

„Und was genau wird dir fehlen? Meine Hektik oder meine schlechte Laune in den letzten Monaten?“, spottete sie.

„Alles“, antwortete er lakonisch. „Drei Monate sind eine lange Zeit.“

Fräulein Rottenmeier, die Stimme der Vernunft in ihrem Oberstübchen, prüfte mit kritischem Blick den Thermostaten der Kühlkammer nebenan. Alles im grünen Bereich, stellte sie beruhigt fest. „Es ist gut, dass ich hier rauskomme“, erklärte Sannah ernst. „Hier im Haus werde ich ständig an meine Eltern erinnert, und in der Klinik erinnert mich alles an Markus. Ist doch kein Wunder, dass ich kurz vorm Durchdrehen war. Ich konnte nie abschalten. Deswegen bin ich mir nicht mal sicher, ob drei Monate überhaupt reichen. Aber es ist ein Anfang. Ich muss endlich neu anfangen, wenn ich wieder auf die Füße kommen will, das ist mir jetzt erst klar geworden.“ Sie lächelte traurig. „Ihr werdet mir auch fehlen, du und Anne, aber drei Monate sind schnell vorbei und dann kann ich mich darauf freuen, euch wiederzusehen. Abgesehen davon, wird Anne schon dafür sorgen, dass dir nicht langweilig wird“, stellte sie lachend fest.

Jonas schmunzelte. „Sie ist ziemlich schräg“, meinte er.

„Manchmal“, erwiderte Sannah. „Aber sie ist auch einer der warmherzigsten Menschen, die ich kenne. Als ich damals mit dem Studium angefangen habe, fühlte ich mich völlig verloren in der Uni. Sie hat mich in der Mensa aufgelesen und unter ihre Fittiche genommen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ Sannah konnte kaum noch die Augen offen halten.

„Ab ins Bett mit dir, junge Dame!“, befahl Jonas. „Du hast zwei anstrengende Tage vor dir.“

„Ja, Papa“, entgegnete sie schelmisch.

Am nächsten Morgen wurde es dann doch wieder hektisch. Annegret erschien zur verabredeten Zeit mit frischen Brötchen und werkelte in der Küche herum. Sannah lief kopflos durch das Haus und suchte ihre Handtasche, und Jonas hatte seine liebe Müh‘ und Not, den aufgeregten Hühnerstall in geordnete Bahnen zu lenken. Zu guter Letzt saßen dann doch alle Hühner abgefüttert, samt Handtasche und Koffer, im Auto. Vor Sannah lagen drei Flüge und zwei Reisetage. Hamburg – Frankfurt, Frankfurt – Denver, eine Übernachtung in Denver und von dort aus noch ein Flug nach Rapid City. Anschließend noch eine etwa zweistündige Fahrt mit dem Auto. Sannah hatte sich online am Flughafen in Rapid einen Langzeitmietwagen reservieren lassen. Irgendwann am späten Nachmittag Ortszeit würde sie dann ihr Ziel erreichen. Annegret nahm das zum Anlass, noch einmal darauf hinzuweisen, dass mehr Valla Pampa kaum noch möglich sei.

„Da ist man ja schneller am Amazonas!“, meckerte sie.

„Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, setze ich dich vorher noch kurz da ab!“, drohte Jonas grinsend und erntete einen dankbaren Blick von Sannah im Spiegel. Als Kleinste war sie auf die Rückbank verbannt worden.

Am Flughafen Fuhlsbüttel angekommen, ging dann alles ziemlich schnell.

Begleitet von Annegrets Besorgnis – „Pass auf dich auf und tue nichts Unüberlegtes!“ – und begleitet von Jonas‘ unerschütterlichem Optimismus –„Viel Spaß beim Ausreiten!“ –, verschwand Sannah in der Abflughalle.

„Nun ist sie weg“, stellte Jonas fest.

Annegret trocknete ein paar Abschiedstränen. „Hoffentlich geht alles gut“, meinte sie seufzend.

Jonas legte tröstend einen Arm um ihre Schulter. „Na klar! Sie wird eine Menge Spaß haben und auf andere Gedanken kommen. Das wird ihr guttun. Mittagessen bei mir?“, fragte er und grinste wieder mit seinem jungenhaften Charme.

„Gern“, sagte Annegret.

Zwei Tage später erreichte Sannah Rapid City. In Denver hatte sie schon Geld umgetauscht und musste jetzt nur noch den Mietwagen abholen. Sie hatte sich für einen keinen Geländewagen entschieden, man konnte ja nie wissen. Der Papierkram war schnell erledigt, und sie verfrachtete ihr Gepäck in den Kofferraum. Straßenkarte und Wegbeschreibung legte sie sicherheitshalber auf den Beifahrersitz, für den Fall, dass das Navi den Dienst versagte. Sannah atmete noch mal tief durch und fuhr los. Rechts von ihr lagen die Black Hills, links konnte man in weiter Ferne die Badlands erahnen. Die weite Landschaft zog in großen, wellenförmigen Hügeln aus Gras an ihr vorbei. Immer wieder unterbrochen von schroffen Felsen und kleinen Baumgruppen. Nach einer Weile tauchte ein Diner am Straßenrand auf. Sannah war müde und beschloss einen Kaffee zu trinken. Das Diner sah etwas heruntergekommen aus, auf dem staubigen Parkplatz standen ein paar Autos, hauptsächlich die hier üblichen Trucks. Sie parkte und stieg aus. Das Diner bestand aus einem langgezogenen Raum. Vorne war eine Art Tresen, weiter hinten befanden sich Tische und gepolsterte Sitzbänke. Hinter dem Tresen stand eine ältere, rundliche Frau und lächelte Sannah freundlich an. Am anderen Ende des Tresens saßen zwei Männer mittleren Alters in schmuddeligen Jeans und mit der obligatorischen Baseballmütze auf dem Kopf. Einer von ihnen pfiff anzüglich, als Sannah den Raum betrat. Hillbillys mit einem IQ knapp über dem Gefrierpunkt, lautete ihr Urteil und würdigte die Typen keines Blickes.

„Hallo“, sagte sie zur Kellnerin. „Einen Kaffee, bitte.“ Sannahs Englisch war fließend und akzentfrei.

„Gern“, antwortete die Frau und goss den Kaffee in eine Tasse. Sie schob Sannah noch Milch und Zucker zu. „Bei Ihrer Figur können Sie sich das leisten“, meinte sie lächelnd.

„Oh ja, Baby. Das kann sie!“, grölte es vom andere Ende des Tresens herüber. Sannah reagierte sicherheitshalber nicht, stufte die Tresen-Bewohner aber um einige zehntausend Jahre zurück. ‚Neandertaler‘, dachte sie boshaft.

„Halt die Klappe, Jack!“, schimpfte die Kellnerin und hielt Sannah solidarisch die Hand hin. „Ich bin Molly“, stellte sie sich vor und lächelte. Sannah ergriff die angebotene Hand.

„Hallo Molly, ich bin Sannah“, erwiderte sie freundlich.

„Auf dem Weg nach Pine Ridge?“, wollte Molly nun wissen. Sannah schlürfte ihren Kaffee und nickte.

„Ja, noch etwa eineinhalb Stunden, dann hab ich es geschafft.“

„Muss hart sein, nach Hause zu kommen, wenn man es aus der Rez raus geschafft hat“, meinte Molly mit mitleidigem Blick.

Sannah sah sie irritiert an. Es dauerte einen Moment, bevor sie begriff. Ihre schwarzen Haare, die braunen Augen und ihr dunkler Teint. Molly hielt sie für eine Lakota. Eine, die es geschafft hatte, sich ein Leben außerhalb der Reservation aufzubauen. Da Sannah keine Lust hatte diesen Irrtum aufzuklären, weil das nur weitere Fragen nach sich gezogen hätte, antwortete sie ausweichend: „Ich freue mich darauf, endlich mal wieder zu reiten.“

Molly gab sich damit zufrieden. Sannah trank ihren Kaffee aus und zahlte. „Schönen Tag noch, Molly“, wünschte sie.

„Gute Fahrt“, grüßte Molly zurück.

„Die würde ich nicht von der Bettkante schubsen“, grölte einer der Neandertaler sabbernd. Sannah drehte die evolutionäre Schraube um eine weitere Milliarde zurück. ‚Einzeller‘, dachte sie jetzt und wendete sich zum Gehen.

Die andere Amöbe lachte. „Träum‘ weiter, Jack. Die Kerle von der Rez würden dich nicht mal in ihre Nähe lassen.“

Na, das ließ ja hoffen. Sannah beeilte sich, zum Auto zu kommen und war froh, dass die Einzeller ihr nicht folgten.

Kurze Zeit später passierte sie ein Schild mit der Aufschrift „ENTERING PINE RIDGE INDIAN RESERVATION LAND OF THE OGLALA SIOUX.“ Durch Kaffee und Amöben wieder hellwach, bewältigte Sannah den Rest der Fahrt problemlos. Nur die Zufahrt zur Ranch hätte sie um ein Haar verpasst. Unkraut und Schlaglöcher stritten um die besten Plätze auf der Schotterpiste. Sie war heilfroh über den Geländewagen. Die Zufahrt nahm und nahm kein Ende. Nur die Stromleitung, die neben der Zufahrt an verwitterten Holzmasten hing, verriet ihr, dass irgendwo in der Nähe ein Haus sein musste. In der Umgebung wand sich ein kleiner Creek mäanderförmig durch die Landschaft. Deswegen blieb ihr größtenteils die Sicht durch Bäume und Büsche versperrt. Hinter einer Anhöhe tauchten endlich ein paar Gebäude auf. Das musste die Ranch sein. Im Norden durch eine schroffe Felsformation begrenzt, im Osten und Süden durch die Büsche und Bäume, lag sie versteckt, wie in einer Senke. Nur nach Westen war der Blick frei auf die offene, wogende Graslandschaft. Das Wohnhaus war alt und verwittert. Die Farbe blätterte ab, aber es war allem Anschein nach heil, was hier nicht selbstverständlich war. Auch die große Veranda und der verwilderte Garten waren ungewöhnlich. Die meisten Häuser, die Sannah auf ihrer Fahrt gesehen hatte, waren sogenannte Mobile Homes oder recht baufällige Holzhäuser, die mit Autowracks umstellt waren statt Garten. Bei der Wasserknappheit im Hochsommer wuchs hier ohnehin nicht viel. Hin und wieder sah man einen kleinen Gemüsegarten oder ein Feld, das bewirtschaftet wurde. Neben dem Wohnhaus war ein Hofplatz, dahinter lagen Stallgebäude und ein eingezäunter Reitplatz. Die Stallgebäude waren jüngeren Datums, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht sie zu streichen. Hinter den Gebäuden lagen, nach Westen gelegen, die Weiden, auf denen etliche Pferde in der Sonne standen und grasten. Beim Anblick der Pferde schlug Sannahs Herz schneller vor Freude. Bis auf die Pferde wirkte die Ranch allerdings wie ausgestorben. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Nur ein Truck parkte auf dem Hof. Sannah stellte ihr Auto daneben ab, stieg aus und sah sich um.

Eisberg voraus

Josh saß im Schatten seiner Veranda und beobachtete irritiert die junge Frau, die aus dem Wagen stieg. Das konnte unmöglich der angekündigte Besuch aus Deutschland sein. Aus der näheren Umgebung kam sie aber auch nicht. Er kannte hier jeden und hatte sie noch nie gesehen. Weil sich am Haus nichts rührte, ging die Frau erst einmal zu den Stallgebäuden.

„Mr. White Cloud?“, rief sie fragend. Kein Akzent. Josh konnte nun nicht länger in seiner dunklen Ecke sitzen bleiben und ging widerwillig auf sie zu.

Sannah hörte seine Schritte auf der Veranda und drehte sich um. Der Mann, der auf sie zukam, war gut und gern eins neunzig groß. Er trug Jeans, Stiefel und ein schmutziges Unterhemd. Die langen schwarzen Haare waren zum Zopf zusammengebunden, ein paar Strähnen wehten in sein schmales, kantiges Gesicht. Er bewegte sich mit der Eleganz einer Raubkatze auf sie zu und fixierte sie mit seinen schwarzen Augen. Sein Gesichtsausdruck war finster, und Sannah verspürte das Bedürfnis wegzulaufen. ‚Angriff ist die beste Verteidigung‘, dachte sie und lächelte, als er vor ihr stehen blieb.

„Mr. White Cloud? Ich bin Sannah Hammeken.“ Die Worte blieben ihr fast im Halse stecken. Offensichtlich war sie diesem Eisberg nicht willkommen.

Josh musterte die Fremde skeptisch. Sie hatten ihm keine blonde Kornnatter geschickt, sondern eine dunkle Klapperschlange. Noch schlimmer. Nur mit den Schuhen hatte er recht behalten, stellte er fest, als sein Blick auf ihre weißen Turnschuhe fiel. „Josh“, sagte er knapp und drückte ebenso kurz, aber fest ihre Hand.

Beim Anblick seiner Oberarme musste Sannah unweigerlich an Anne denken. Er war groß, dunkel und muskelbepackt bis zu den Ohren. Brusthaartoupet und Goldkettchen fehlten, aber das gab schlimmstenfalls Abzüge in der B-Note. Annes limbisches System würde Tango tanzen, Hormon-Cocktails mixen und einen spontanen Eisprung auslösen. Annes Ritter in glänzender Rüstung war ihr soeben, laut scheppernd, vor die Füße geknallt – nur halt im schmuddeligen Feinripp.

Sie verkniff sich ein Grinsen. Bevor das Schweigen peinlich wurde, deutete Josh mit vorgeschobener Unterlippe und Kinn auf das Wohnhaus. ‚Duckface‘, dachte sie, als sie seine merkwürdige Art, auf etwas zu zeigen, bemerkte.

„Dein Zimmer ist die Treppe hoch rechts. Ich muss jetzt die Pferde von der Weide holen“, stellte er fest, um einen Grund zu haben, ihr aus dem Weg zu gehen.

„Darf ich mit?“, bat sie mit großen Augen.

Er zögerte sichtlich. „Wenn du willst“, brummte er mürrisch. Dann und wann verirrten sich Touristen für eine Reitstunde auf seinen Hof und stellten meist die gleiche Frage. Die wenigsten schafften es überhaupt auf ein ungesatteltes Pferd und wenn doch, waren sie nach den ersten Galoppsprüngen wieder unten. Josh lief wortlos an ihr vorbei und verschwand im Stall. Als er wieder herauskam, drückte er ihr Zaumzeug in die Hand und deutete, wieder mit der Unterlippe, auf eine braune Stute, die auf der kleinen Weide direkt neben dem Stall stand.

Sannahs Enttäuschung über den eisigen Empfang wich der Vorfreude auf einen Ausritt. Sie kletterte unter dem Zaun durch und kraulte der Stute den Hals. Das Zaumzeug hielt sie locker mit zwei Fingern über den Kopf des Pferdes und wartete geduldig, bis die Stute freiwillig das metallene Mundstück ins Maul nahm. Danach streifte sie sanft das Kopfstück über die Ohren, legte die Zügel um den Hals und führte es zum Paddock.

Josh beobachtete sie dabei, und ihm gefiel, was er sah. Er schwang sich auf sein Pferd und fragte von oben herab: „Schaffst du es allein rauf?“

Sannah ärgerte sich über seine überhebliche Art. Sie hatte jahrelang auf diese Weise ihr eigenes Pferd von der Weide geholt und würde sich jetzt sicher keine Blöße geben. Sie antwortete ihm nicht, nahm Schwung und saß oben, nicht so elegant wie Josh, aber immerhin.

Josh wendete sein Pferd und jagte im Galopp davon. Die Weide war riesig, und die Herde stand am anderen Ende; als Josh in Sichtweite kam, stoppte er sein Pferd und drehte sich um. Er hatte nicht erwartet, Sannah hinter sich zu sehen, aber sie hatte aufgeholt und kam kurz hinter ihm zum Stehen. Sie war ganz offensichtlich in ihrem Element. Der Wind hatte ihr Haar zerzaust, die Wangen waren gerötet von dem scharfen Ritt, ihre großen Augen leuchteten und sie strahlte über das ganze Gesicht. Ihr Anblick raubte Josh den Atem, und er sammelte sich für einen Moment. „Reite ruhig an die Herde heran“, erklärte er ihr. „Passe dich ihrem Tempo an, und flankiere sie nur. Wenn du hektisch wirst, werden sie es auch, und wir bekommen heute kein Pferd in den Paddock.“

Sannah nickte wortlos. Josh ritt langsam durch die Herde auf die andere Seite. Gemächlich setzten sich die Tiere in Bewegung. Zurück ging es nun deutlich langsamer. Sannah genoss das Bild, das sich ihr bot. Etwa zwanzig Pferde trotteten über einen Ozean aus Gras, der sich grenzenlos bis an den Horizont zu erstrecken schien. Der ewige Wind strich über die Plains, die Sonne stand schon tief und warf lange Schatten, die auf dem wogenden Gras ein Eigenleben entwickelten. Postkartenkitsch. Sannah seufzte glücklich. Genau dafür war sie hergekommen. Sie sah hinüber zu Josh, der sie nicht weiter beachtete. Er saß völlig entspannt auf seinem Pferd und ließ die Beine baumeln. Seine Aufmerksamkeit galt den Pferden. Nach einer Weile erreichten sie den Paddock. Sannah ließ sich vom Pferd rutschen und klopfte der kleinen Stute den Hals.

„Wie heißt sie?“, wollte sie wissen.

„Kimimila“ – Schmetterling, kam es knapp zurück.

‚Wie redselig‘, dachte Sannah. Und zum Lachen geht er bestimmt in den Keller! Sie brachte Kimimila zurück auf die kleine Weide. Als sie das Zaumzeug in den Stall bringen wollte, nahm Josh es ihr ab und drückte ihr einen Schlauch in die Hand. Er deutete auf die Tränke, vor der sich die Pferde versammelt hatten.

„Sie haben Durst“, brummte er, und für einen Moment huschte die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht, als Sannah etwas entgeistert mit dem Schlauch zur Tränke stapfte. Josh hatte beschlossen, die kleine Klapperschlange ein bisschen zu ärgern. Während sie die Tränke füllte, kümmerte er sich um seine Pferde. Josh bewegte sich mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen den großen Tieren und sprach mit dunkler, sanfter Stimme zu ihnen. Es war fast, als würden sie ihm andächtig lauschen, während er die Hufe kontrollierte, ihnen die Augen sauberwischte und nach kleinen Blessuren sah. Jedes Pferd wartete geduldig, bis es an die Reihe kam, begrüßte ihn freudig und schnaubte zufrieden. Über allem lag eine unglaubliche Ruhe und Harmonie. Josh strahlte diese Ruhe aus.

Völlig gebannt starrte Sannah auf die Szene, die sich vor ihr abspielte. Sie begriff, dass dieser Mann vielleicht keine Menschen mochte, aber seine Tiere liebte er dafür umso mehr. Sannah füllte unaufgefordert auch die Tränke auf der kleinen Weide, brachte den Schlauch zurück und drehte das Wasser ab. Etwas unschlüssig, was nun zu tun sei, blieb sie am Stall stehen. Josh klopfte sich notdürftig den Dreck von der Hose und lief, wie üblich wortlos, an ihr vorbei in Richtung ihres Autos. Er knallte die Heckklappe auf, hob ihren Koffer heraus und trug ihn auf die Veranda. Dort blieb er mit missmutigem Gesicht stehen und wartete. Sannah beeilte sich hinterherzukommen. ‚Hellsehen stand nicht in der Stellenbeschreibung‘, dachte sie gereizt. Vor der Tür angekommen, hielt sie es für höflich, die dreckigen Schuhe auszuziehen, und erntete dafür prompt einen Rüffel von Josh.

„Wenn du deine Schuhe hier stehen lässt, solltest du sie morgen früh gründlich ausschütteln.“

„Warum?“, fragte sie ahnungslos.

„Wegen der Taranteln“, sagte er trocken. „Für Schlangen sind deine Schuhe zu klein“, fügte er hinzu, als er amüsiert ihren entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte. Er öffnete die Fliegengittertür, Sannah ging hinein und stand in der Küche, die nahtlos ins Wohnzimmer überging. Dort war sogar ein Kamin, aus Natursteinen gemauert.

Josh ließ ihr keine Zeit sich umzusehen. „Die Treppe hoch und dann rechts“, wiederholte er knapp seine Wegbeschreibung. Sie lief die Stufen hinauf, während er mit Kennerblick ihr Hinterteil begutachtete. Diamantklapperschlange, lautete sein Urteil, als sie oben angekommen waren. Er stellte ihren Koffer ins Zimmer.

„Danke“, sagte Sannah und versuchte es noch mal mit einem Lächeln, doch es verwandelte sich in Schneeflocken, noch ehe es den Eisberg erreicht hatte.

Josh deutete mit unbeweglicher Miene auf eine Tür neben ihrem Zimmer. „Dort ist das Bad. Wenn du duschen möchtest, mach es bitte jetzt. Ich werde das Essen in den Ofen schieben und würde nach dem Essen selbst gern duschen. Der Boiler braucht eine Weile, bis das Wasser wieder heiß ist.“

Sannah nickte.

Josh lief die Treppe hinunter und verschwand in der Küche. Die Tatsache, dass Josh sich um das Essen kümmerte, verriet ihr, dass wohl keine Mrs. White Cloud auftauchen würde, um die wortkarge Eiszeit etwas aufzutauen. Sie suchte sich ein Handtuch aus dem Koffer und kramte Duschgel und Shampoo-Fläschchen von dem Hotel in Denver aus der Handtasche. Im Badezimmer bestätigte sich ihre Vermutung. Auf der Ablage über dem Waschbecken befand sich Zahnpasta, eine Zahnbürste, Rasierschaum, Deo und ein Rasierer. In einem kleinen Regal lag noch eine Haarbürste. Kein Anzeichen eines weiblichen Wesens. Sie war allein mit diesem Eisberg. Beklommen schlüpfte Sannah aus ihren dreckigen Klamotten und drehte das Wasser auf.

Josh hatte unterdessen Tiefkühllasagne in den Ofen geschoben, saß nun auf der Veranda und trank kalten Kaffee vom Vormittag. Seine Laune hatte sich etwas gebessert. Sannah war nicht so schlimm, wie er anfangs befürchtet hatte. Dieser schreckliche Akzent war ihm erspart geblieben, außerdem redete sie ohnehin nicht viel. Beim Reiten hatte sie sich recht geschickt angestellt. Um ehrlich zu sein: Sie war die Erste, die es überhaupt geschafft hatte, beim gestreckten Galopp über die Weide oben zu bleiben. Aber trotz allem war sie eine Klapperschlange und keine Kornnatter, wenn auch nur eine kleine. Er grinste, „Sintéchla cik‘ala“ bedeutete „kleine Klapperschlange“ in der Sprache seines Volkes. Ein passender Spitzname. Ihr Anblick auf dem Pferd ging ihm durch den Kopf. Er beschloss, sie weiter auf Abstand zu halten. Schöne Klapperschlangen waren, seines Erachtens, besonders gefährlich.

Sannah öffnete die Tür des Badezimmers einen Spalt und prüfte, ob die Luft rein war. Sie wollte nicht, nur mit einem Handtuch bekleidet, Josh in die Arme laufen. Schnell huschte sie in ihr Zimmer und schloss die Tür. Nachdem sie sich angezogen hatte, räumte sie den Inhalt ihres Koffers in den kleinen Schrank und rubbelte sich die Haare trocken. Den Föhn hatte sie zu Hause gelassen. Als sie sich aufs Bett setzte, versank sie fast in der weichen Matratze. Das Zimmer war klein und gemütlich, die Möbel alt, aber gepflegt. Zwei Fenstergauben gingen nach Osten und Westen hinaus und boten zur einen Seite einen Blick auf die Bäume und Büsche an der Zufahrt zur Ranch, auf der anderen Seite einen atemberaubenden Blick über die Weiden. Der gemauerte Schornstein des Kamins zog sich vom Erdgeschoss an der Wand hoch zum Dach. Im Winter wäre es hier bestimmt mollig warm. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen unter dem Ostfenster. Das Bett stand unter der Dachschräge. Mehrere Traumfänger hingen an der Wand, einige von ihnen sahen uralt aus – handgeknüpft, mit Perlen aus Knochen und Horn verziert und mit Rohhaut umwickelt. Nicht wie dieser billige, kunterbunte Kitsch für Touristen, den man an jeder Ecke kaufen konnte. Auf dem Bett lag ein farbenfroher Quilt, eine Patchwork-Decke, mit einem komplizierten und sehr aufwändigen Sternmuster. Ebenfalls Handarbeit. Sannah streckte sich auf dem Bett aus und merkte, wie müde sie war. Aber auch hungrig. Ihre letzte Mahlzeit hatte aus einem Sandwich am Flughafen von Rapid bestanden. Der verlockende Duft des Essens hatte ihr Zimmer erreicht, und so rappelte sie sich mühsam aus dem Bett und ging in die Küche.

Durch die Fliegentür erspähte sie Joshs Stiefel auf dem Tisch und ging hinaus. Josh saß entspannt, mit geschlossenen Augen auf der Holzbank neben der Tür. Sein Kopf lehnte an der Hauswand, die Füße lagen auf dem Tisch. Er war mit der Kaffeetasse in der Hand eingeschlafen. Sannah lächelte. Schlafend sah er richtig friedlich aus. Sie wollte gerade wieder auf Zehenspitzen ins Haus schleichen, als er brummte: „Mit den Dingern solltest du besser nicht hier draußen rumlaufen.“

Sie erschrak, weil er wider Erwarten wach war.

„Welche Dinger meinst du?“, fragte sie irritiert. Er hatte die Augen immer noch geschlossen.

„Na, die Plastik-Latschen.“

Sie blickte auf die Flipflops an ihren Füßen. Langsam wurde er ihr unheimlich. „Woher weißt du …?“

„Man hört das Schlappen durchs ganze Haus“, erklärte er. „Hast du keine anständigen Stiefel?“

„Doch“, antwortete sie betreten.

„Dann zieh sie an!“, erwiderte er schroff und öffnete die Augen. Sie wollte an ihm vorbei ins Haus flüchten, als er nach ihrer Hand griff und sie festhielt.

„Sannah!“ Er nannte sie zum ersten Mal bei ihrem Namen, und seine Stimme klang um einiges milder, als er bemerkte, dass er sie völlig aus der Fassung gebracht hatte. „Es ist wichtig, das du auf mich hörst. Wir sind hier nicht in Disneyland, sondern in der Wildnis. Hier draußen gibt es Taranteln und Schlangen. Sie kriechen überall hinein. In deine Schuhe, wenn du sie draußen stehen lässt, und auch ins Haus. Achte darauf, dass die Tür immer geschlossen ist. Egal, wie heiß es draußen ist, trage deine Stiefel. Greife niemals in dunkle Ecken oder unter Steine. Meide Erdlöcher und Sträucher, sie verstecken sich überall. Wenn du ein scharfes Rasseln hörst, mache einen großen Bogen drumherum. Du musst immer Augen und Ohren offenhalten. Der Biss einer Klapperschlange kann dich töten, wenn du das Gegengift nicht rechtzeitig bekommst.“

Josh sah sie ernst und eindringlich an, dann ließ er ihre Hand los.

Sannah setzte sich auf die gegenüberliegende Bank. Sie fühlte sich wie ein Kind, das gefährlichen Blödsinn angestellt hatte und nun zurechtgewiesen wurde. „Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Ich hab mich benommen wie ein dummes Huhn.“

„Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte er ruhig. „Gibt es bei dir zu Hause Giftschlangen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann bist du auch kein dummes Huhn“, lautete seine bestechend einfache Logik. In der Küche ratterte eine Eieruhr.

„Essen ist fertig“, verkündete Josh.

Während des Abendessens nahm Sannah ihn verstohlen etwas genauer in Augenschein. Er hatte eine hohe Stirn, gerade Augenbrauen und sanfte, mandelförmige Augen. Ähnlich wie ihre eigenen, nur noch dunkler, fast schwarz. Seine Oberlippe war voller als die Unterlippe. Eine lange Narbe zog sich vom Nasenflügel über die Lippen bis zum breiten, kantigen Kinn. Eine weitere Narbe lief über die halbe Stirn und endete rechtwinklig über dem Auge. Viele kleinere Narben waren über den Hals und seine breiten Schultern verteilt. Es sah aus, als wäre er kopfüber durch eine Glasscheibe geflogen. Sannahs berufliches Interesse war geweckt. In der plastischen Chirurgie gab es den Grundsatz: Je dunkler die Haut, desto stärker die Narbenbildung. Dem Kollegen, der diese Wunden behandelt hatte, war es gelungen, die Narbenbildung auf ein Minimum zu begrenzen. Es waren nur noch feine, helle Linien zu sehen, die Joshs Gesicht nicht entstellten. Am Anfang musste es allerdings schrecklich ausgesehen haben.

Josh schaufelte unterdessen unbeirrt die Lasagne in sich hinein. Und da man ja bekanntlich mit vollem Mund nicht spricht, fiel das Essen, wie erwartet, wortkarg aus. Sannah hatte sich nur die Hälfte ihres Anteils auf den Teller gefüllt und kämpfte trotzdem schon mit dem wachsenden Völlegefühl.

Josh deutete auf die verbliebene Hälfte in der Aluschale. „Isst du das nicht mehr?“

Sannah schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich platze gleich“, versicherte sie stöhnend.

Josh füllte sich den Rest auf seinen Teller und aß weiter. Als er fertig war, schob er seinen Teller beiseite und stand auf. „Kein Wunder, dass du so klein und schmal bist, wenn du die Hälfte stehen lässt.“

„Ich bin ein Mädchen, ich darf das“, protestierte sie.

Josh musterte sie von oben bis unten mit diesem seltsamen Blick aus Verwunderung und Misstrauen. „Ist mir auch schon aufgefallen“, bemerkte er mit einem gefährlichen Unterton. Da war es wieder: das Raubtier.

Sannah schluckte trocken. Er verschwand nach oben. Einige Augenblicke später hörte sie die Dusche rauschen. Da sie sich nicht recht nach oben traute, beschloss sie, den Abwasch zu machen und die Küche aufzuräumen. Nach einiger Zeit kam er mit nassen Haaren und in Jogginghose und Shirt wieder runter, setzte sich auf das alte Sofa mit einem etwas fadenscheinigen Bezug und schaltete den Fernseher an. Da er keinerlei Anstalten machte, sich mit ihr zu unterhalten, fragte Sannah nur: „Wann fängst du morgens an?“

„Um sechs“, brummte er zurück.

„Ich gehe schlafen, gute Nacht“, sagte sie, erhielt aber keine Antwort. Als sie wenig später im Bett lag, schwor sie sich, niemals mit diesem mürrischen Eisberg zu kollidieren.