Kitabı oku: «Pine Ridge statt Pina Colada», sayfa 7

Yazı tipi:

Erkenntnisse

Sannah machte Frühstück und wunderte sich, dass Josh noch nicht aufgestanden war. Seinen mörderisch lauten Wecker hatte sie auch noch nicht gehört. Dafür klingelte das Telefon. Oben rührte sich nichts, also nahm sie das Gespräch an.

„Bei White Cloud?“ Es entstand eine kurze Pause, bis der Anrufer sich meldete.

„Mark Thompson hier, endlich erreiche ich Sie; ich versuche schon seit einer Woche, Josh zu sprechen. Ist er da?“

‚Blöde Frage‘, dachte Sannah, es war kurz nach sechs Uhr morgens. „Ich hole ihn, bleiben Sie bitte kurz dran, Sir“, antwortete sie stattdessen höflich.

„Danke!“, sagte Thompson erleichtert.

Sie legte den Hörer beiseite und lief etwas steifbeinig die Treppe hinauf. Der Muskelkater hatte sie voll im Griff. Auf ihr mehrfaches Klopfen reagierte Josh nicht, also öffnete sie die Tür einen Spalt breit.

„Josh? Telefon!“ Nichts. ‚Nie hat man eine Handgranate, wenn man eine braucht‘, dachte Sannah schmunzelnd. Sie ging zu seinem Bett und rüttelte ihn sacht an der Schulter. „Josh? Wach auf! Telefon für dich!“

„Mitten in der Nacht?“, brummte er ungehalten.

„Es ist Viertel nach sechs, du hast verschlafen. Ein Mr. Thompson möchte dich sprechen, scheint dringend zu sein.“

Josh öffnete mühsam die Augen und quälte sich aus dem Bett. „Shit, den hab ich völlig vergessen“, murmelte er zerknautscht und stapfte an ihr vorbei die Treppe runter. Dieses Mal wenigstens in Pyjamahose.

Sannah lief hinterher und kümmerte sich weiter ums Frühstück während er telefonierte. Ein paar Minuten später sank Josh schlaftrunken auf den Küchenstuhl und rieb sich die Augen.

„Ich brauche jetzt ganz dringend eine von deinen Koffein-Bomben“, stöhnte er und stützte seinen Kopf auf die Hände.

Sie stellte ihm eine Tasse vor die Nase. „Schlecht geschlafen?“, erkundigte sie sich.

Er schlürfte seinen Kaffee mit geschlossenen Augen. „Ich konnte nicht einschlafen, mir ging so viel im Kopf herum“, antwortete Josh ehrlich.

Sannah stellte French Toast auf den Tisch, setzte sich und sah ihn nur fragend an. Er machte sich nicht, wie gewohnt, über das Frühstück her, sondern starrte nachdenklich in seine Tasse. „Kennst du das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken, aber du hast keine Ahnung, wie du da wieder rauskommst?“

„Oh ja“, versicherte sie lächelnd. „Das kenne ich nur zu gut.“

„Und was hast du dagegen gemacht?“, wollte er wissen.

Sannah lachte kurz auf. „Ich bin, zum Entsetzen von dir und Annegret, in den Flieger gestiegen und hierher gekommen.“

„Hat es dir geholfen, hier zu sein?“, fragte er.

„Für den Moment, ja“, meinte sie. „Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das immer noch so sein wird, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich brauche einen Neuanfang, und ich fürchte mich ein bisschen davor, dass ich zu Hause wieder da ankomme, wo ich aufgehört habe. Ich hoffe, dass mir in diesen drei Monaten klar wird, was ich will. Bis dahin habe ich wenigstens meine Ruhe vor Annegrets gutgemeinten Ratschlägen.“

„Wieso war sie entsetzt darüber, dass du hierher kommst?“, fragte er erstaunt.

„Ich glaube, sie hat befürchtet, dass ich von irgendwem aufs Pferd gezerrt und verschleppt werde“, frotzelte Sannah mit einem Augenzwinkern. Sie wollte die katastrophalen Lebensumstände im Reservat nicht erwähnen, zumal es Josh deutlich besser ging, als dem Durchschnitt hier. „Annegret plädierte für Mittelmeer-Urlaub, Cocktails am Strand und braungebrannte Typen in engen Badehosen. Aber das ist ihre Vorstellung von Entspannung, nicht meine.“

Josh lachte und fing an zu essen. „Was hast du gegen braungebrannte Typen in Badehosen einzuwenden?“ Der Schalk blitzte in seinen Augen.

Sie durchschaute ihn. „Fragte der braungebrannte Typ in Pyjamahose“, gab sie zurück und grinste breit.

Josh warf ihr einen unschuldigen Blick zu. „Ich bin nicht braungebrannt, bei mir ist das Standard“, beteuerte er.

„Bei mir auch“, erwiderte sie, als ließe sie diese Ausrede nicht gelten, und nahm sich noch ein Toast „Ich habe nichts gegen braungebrannte Typen“, erklärte sie schmunzelnd. „Aber würdest du dich an einem überfüllten Strand, mit einem halben Eimer Alkohol in der Birne und lauter notgeilen Bikinimädchen um dich herum wohlfühlen?“

„Nein!“, antwortete er ohne zu zögern. „Aber an einem Strand wäre ich trotzdem gern mal. Ich war noch nie am Meer.“

„Es ist wunderschön“, erzählte sie schwärmerisch.

„Deine Freundin scheint dich aber nicht besonders gut zu kennen“, stellte er fest. „Ich kenne dich erst seit kurzem und weiß trotzdem, dass du nur im Sattel wirklich glücklich bist.“ Er lächelte und hatte wieder das Bild vom ersten Abend vor Augen.

„Genau wie du. Das können nur Menschen nachvollziehen, die mit dem Pferdevirus infiziert sind“, stimmte sie ihm zu und strahlte.

Josh liebte diesen Ausdruck in ihrem Gesicht. Für ihn war es jedes mal wie ein zweiter Sonnenaufgang.

„Manchmal muss man etwas riskieren und neu anfangen“, sagte Sannah nun ernst. „Auch wenn man Angst davor hat.“

Josh schluckte; es war ihm anzusehen, was ihn beschäftigte, oder meinte sie sich selbst? Er wechselte sicherheitshalber das Thema. „Ich muss mir wohl oder übel ein Cellphone zulegen, damit ich erreichbar bin. Verstehst du was von den Dingern?“

„Geht so“, sagte sie. „Ein Experte bin ich nicht, aber ich weiß halbwegs, worauf es ankommt.“

„Das reicht schon“, meinte Josh. „Und wenn wir sowieso in Pine sind, können wir auch gleich noch einkaufen. Ich möchte am Samstag mit den Kids ein Picknick machen, und für das Football-Spiel am Sonntag brauchen wir auch noch was zum Mitbringen.“ „Was bringt man denn da so mit?“, erkundigte sich Sannah.

„Einen Salat oder Frybread. Es gibt Büffel. Mike Stonefeather hat einen spendiert“, antwortete er und nahm sich noch einen Kaffee. „Einen ganzen Büffel?“, fragte sie erstaunt. „Hast du nicht gesagt, dass Büffelfleisch so teuer ist?“

„Er züchtet Büffel, außerdem ist das hier so üblich, wenn man heiratet, Vater geworden ist oder ein gutes Jahr hatte. Wir schenken allen anderen etwas, um damit unsere Dankbarkeit zu zeigen und etwas zurückzugeben. Wir nennen das Wóotuh‘an, Give away“, erklärte Josh.

Sie lächelte. „Das ist ein schöner Brauch. Ist er denn Vater geworden?“

Josh schlürfte seinen Kaffee und nickte mit einem verzückten Lächeln. „Mike hat endlich seine langersehnte Tochter bekommen. Tashina. Eine süße kleine Maus. Sie wickelt ihren Vater jetzt schon um den Finger“, schwärmte er.

Sannah hatte noch nie erlebt, dass ein Mann derart hingerissen von einem Neugeborenen sprach, erst recht nicht, wenn es nicht sein eigenes war. Mittlerweile hatte sie ihr vorschnelles Urteil über ihn revidiert. Er war weder ein Eisberg noch ein Griesgram, ganz im Gegenteil. Sie lächelte ihn versonnen an, irgendein Knoten war gestern geplatzt, sie waren sich nicht mehr so fremd.

Josh stand auf. „Ich sollte mich endlich mal anziehen, die Pferde müssen raus“, schalt er sich selbst.

„Keine Panik“, beruhigte ihn Sannah. „Die sind schon draußen.“ Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Womit habe ich den verdient?“, fragte sie lächelnd.

„Für deine Hilfe“, meinte er. „Ich halte das nicht für selbstverständlich. Außerdem hast du mir vorhin einen meiner besten Kunden gerettet. Er kommt morgen, um eins meiner Pferde zu kaufen, und bringt ein weiteres zur Ausbildung. Bis dahin habe ich noch einen Haufen Arbeit zu erledigen.“

Der Vormittag verging schnell mit den üblichen Arbeiten. Josh war schweigsamer als sonst und grübelte immer noch vor sich hin, während er die Pferde, die für den Verkauf bestimmt waren wusch und Mähne und Schweif gründlich bürstete.

Sannah half ihm dabei; sie ahnte nicht, was ihn beschäftigte, aber sie respektierte, dass er nicht reden wollte. Er würde schon von allein damit anfangen, wenn er so weit war, und so arbeiteten sie schweigend Seite an Seite. Ab und an warf er ihr einen neugierigen Blick zu. Er schätzte ihr Feingefühl und ihre Zurückhaltung.

Es war ein heißer Tag, die Temperaturen waren schlagartig in die Höhe geschnellt und die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel. In ihren schwarzen Jeans wurde es fast unerträglich heiß, und Sannah beneidete Josh um den Job, die Pferde zu waschen. Sie ließ die Bürste sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Josh hatte von vornherein auf ein T-Shirt verzichtet und war beim Waschen nicht darauf bedacht gewesen, trocken zu bleiben. Sie ging zu ihm und bat um den Schlauch.

„Dir ist doch nicht etwa warm?“, fragte er grinsend.

Noch bevor sie ihm antworten konnte, drückte er den Schlauch mit dem Daumen zusammen und hielt ihn über ihren Kopf. Ein Schwall kalten Wassers ergoss sich über sie. Sannah kreischte und versuchte, Josh den Schlauch abzunehmen. Doch er hielt ihn einfach hoch, und sie reichte nicht heran. Sie hätte ebenso gut versuchen können, eine Burgmauer zu stürmen. Er schlang den anderen Arm um ihre Taille und hinderte sie an der Flucht, während er unablässig Wasser über sie laufen ließ. Josh lachte über ihre kraftlosen Versuche, sich aus seiner Umklammerung zu winden, und drückte sie nur noch fester an sich. Das Wasser spritzte in alle Richtungen. Mit ihren Händen stemmte Sannah sich gegen seine Brust und prustete vor Lachen. Sie hatte längst begriffen, dass sie gegen ihn keine Chance hatte. Sie balgten weiter unbeschwert wie Kinder, bis sie keuchend um Gnade flehte.

„Was bekomme ich dafür?“, fragte er herausfordernd und ließ den Schlauch sinken, ohne jedoch seine Umarmung zu lockern. In seinen schwarzen Augen konnte Sannah lesen, woran er jetzt dachte. Das Raubtier war erwacht, und er konnte es nur mit Mühe im Zaum halten.

„Ich backe dir einen Kuchen“, versuchte sie die Situation zu entschärfen.

Sein Griff verstärkte sich nur. „So billig kommst du mir nicht davon“, sagte er lachend, doch es war ihm ernst.

Sie sah ihn nur an, zog ihn zu sich herunter und gab ihm einen unschuldigen Kuss auf den Mund.

„Darf ich mir jetzt was Trockenes anziehen, oder muss ich diesmal nass zum Einkaufen?“, fragte sie ihn lächelnd, noch ehe er wieder ganz zur Besinnung gekommen war.

Sein Arm glitt von ihrer Taille, und er ließ sie gehen. Das Grübeln hatte ein Ende. Josh war gerade klargeworden, was er wollte.

Sannah lief patschnass zum Haus und zog auf der Veranda ihre nassen Sachen aus, während Limbisia, ihr limbisches System, schon mal shoppen ging. Damenunterwäsche und Dessous, erstes Obergeschoss, links hinterm Grabbeltisch. In besagter Unterwäsche lief sie die Treppe hoch in ihr Zimmer und trocknete sich ab. Sie versuchte vergeblich, sich etwas zu beruhigen. Er hatte es wieder herausgefordert, aber sie war diejenige, die zu weit gegangen war. Ein Kuss auf die Wange hätte auch gereicht, stattdessen hatte sie der Versuchung nicht widerstehen können. Sie zweifelte daran, das sie jemals würde widerstehen können, sollte er es wieder versuchen, und das würde er, dessen war sie sich sicher. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

Sannah schlüpfte in eine Shorts und ein Top. Es war noch nicht ganz Mittag und würde sicher noch heißer werden. Vom Fenster aus konnte sie sehen, wie Josh das letzte Pferd zurück auf die kleine Weide brachte und den Schlauch zusammenrollte. Ihr limbisches System verfiel in einen wahren Kaufrausch und wühlte sich durch halterlose Seidenstrümpfe und Push-up-BHs.

„Selber schuld!“, hallte es per Lautsprecherdurchsage durch das Kaufhaus im Oberstübchen. Limbisia zuckte nur kurz zusammen und widmete sich dann enthusiastisch den Tangas.

Einige Augenblicke später hörte Sannah, wie Josh die Treppe heraufkam. Sie wartete einen Moment, schnappte sich die Flipflops und verließ ihr Zimmer. Seine Zimmertür war geschlossen. Sie ging in die Küche, gönnte sich eine kalte Cola und hielt sich das Glas an die Schläfe. Josh kam ebenfalls in trockenen Klamotten die Treppe runter. Sannah hielt die Flipflops hoch. „Sind die okay für den Supermarkt, oder gibt es da auch Schlangen?“, fragte sie ohne darüber nachzudenken, um ja kein peinliches Schweigen entstehen zu lassen.

„Da gibt es auch Schlangen“, meinte er trocken. „Die längsten vor der Kasse.“ Er grinste schief. „Was hast du gegen deine Stiefel?“ „Es ist so heiß, und die Stiefel sind nass“, quengelte sie. „Außerdem sehen Shorts und Stiefel zusammen bescheuert aus“, fügte sie noch hinzu.

Josh schwieg.

„Was soll‘s, ich bin ja nicht auf einem Model Contest“, meinte sie kleinlaut, als er nichts erwiderte.

Sein Blick wanderte genüsslich über die Shorts und ihre langen Beine. „Da passt du auch nicht hin“, bemerkte er knapp und tippte sacht mit seinem Finger an ihre Stirn. „Zu viel Hirn“, stellte er fest.

„Danke für die Blumen“, erwiderte sie und war erleichtert darüber, dass er den Kuss nicht erwähnte.

Kurze Zeit später rumpelten sie wieder über die Zufahrt in Richtung Supermarkt. Sannah wackelte in ihren Flipflops zufrieden mit den Zehen. Josh wirkte entspannter als noch am Vormittag, allerdings schien er jetzt über etwas anderes nachzudenken. Er schwieg während der ganzen Fahrt. Sannah kaute auf ihrer Unterlippe. ‚Das hätte nicht passieren dürfen‘, dachte sie, während sie aus dem Fenster starrte und die Landschaft an sich vorbeiziehen ließ. Sein Schweigen sprach Bände, und diesmal war ihr ziemlich klar, was ihn beschäftigte. Die Straße zum Ort Pine Ridge führte an Wounded Knee vorbei. Auf einer Anhöhe lag der Friedhof mit den Opfern des Massakers vom 29. Dezember 1890. An diesem Tag nahm der Freiheitskampf der Sioux ein tragisches Ende, von dem sie sich bis heute nicht erholt hatten. Rund dreihundert wehrlose Männer, Frauen und Kinder wurden hier vom 7. Kavallerieregiment der US-Armee niedergemetzelt. Sannah erinnerte sich noch gut an das Foto des getöteten Häuptlings Spotted Elk, von den Soldaten abfällig Big Foot genannt. Es war das erste Foto eines Toten, das sie als Kind im Geschichtsunterricht zu Gesicht bekommen hatte. Sie fand es damals schon entwürdigend. Heute sah sie darin mehr eine stumme Anklage, stellvertretend für alle Gräueltaten die an den Ureinwohnern verübt worden waren.

Josh bog ab und fuhr die Anhöhe hinauf. Sannah schnürte es die Kehle zu. Sie fühlte sich gerade nicht dazu in der Lage, sich diesem Kapitel der Geschichte zu stellen. Oben angekommen parkte er den Wagen und öffnete das Handschuhfach. Er nahm zwei Zigaretten aus einer Schachtel und reichte ihr eine davon. Sie fragte nicht, sondern nahm sie nur an. Als er ausstieg, wehten seine langen Haare im Wind. Er hatte sie nach der Wasserschlacht offen gelassen, damit sie schneller trockneten. Sannah folgte ihm zögernd und sah sich um. Der Eingang zum Friedhof war ein großes Portal aus rotem Backstein und weißem Putz. Ein Bogen aus Metall spannte sich über den steinernen Pfosten und wurde von einem Kreuz gekrönt. Dahinter lag, eingezäunt von einem Maschendrahtzaun, das Massengrab, in dem die Opfer damals bestattet worden waren. Viele bunte Bänder und Schnüre mit kleinen Tabakbeuteln waren von Besuchern daran befestigt worden, die jetzt im ewigen Wind der Great Plains flatterten. Ein paar Touristen wanderten umher und machten Fotos.

Sannah folgte Josh zum Mahnmal, das an der langen Seite des Grabes aufgestellt worden war. Damals in der Schule hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie eines Tages am Grab des Mannes stehen würde, dessen Foto und Schicksal sie so entsetzt hatte. Sie konnte spüren, wie die grausamen Ereignisse dieses kalten Dezembertages plötzlich wieder lebendig wurden. Josh fing an zu beten. Es war kein christliches Gebet, sondern ein altes Gebet seines Volkes.

„Mein Freund, ich sende meine Stimme zu dir, erhöre mich“, sang er leise. Sannah verstand ihn nicht, denn er sprach sein Gebet auf Lakota. Aber es klang wunderschön und traurig. Er wendete sich nach Westen und hob die Arme zum Himmel. Dem alten Glauben der Lakota zufolge reisten die Geister der Verstorbenen zurück zu den Sternen, um eines Tages wiedergeboren zu werden. Alles war ein immerwährender Kreislauf. Josh betete weiter und wendete sich in alle vier Windrichtungen, zum Himmel und zum Boden. Wieder schnürte sich Sannahs Kehle zu, und sein Anblick trieb ihr die Tränen in die Augen. Er stand mit wehenden Haaren und erhobenen Armen am Grab seiner Ahnen und ehrte die Toten. Ihr war fast, als könne sie die verzweifelten Schreie der Menschen, die hier gestorben waren, hören.

Die Touristen waren auf ihn aufmerksam geworden und hoben ihre Kameras, um diese Szene festzuhalten. Sannah warf ihnen einen vernichtenden Blick zu. Betroffen ließen sie die Fotoapperate sinken, als wäre ihnen jetzt erst bewusst geworden, wo sie sich befanden. Josh hatte sein Gebet beendet und ließ den Tabak der Zigarette vom Wind davontragen. Sie folgte seinem Beispiel. Als er sie ansah, bemerkte er die Tränen in ihren Augen und streichelte ihr zärtlich über die Wange.

„Eigentlich müsste ich dich trösten“, sagte sie mit zitternder Stimme.

Er nahm sie in die Arme und murmelte leise: „Das tust du gerade.“ Sie standen noch einen Moment lang schweigend am Gedenkstein, immer noch beobachtet von den Touristen. Josh ging ein Stück weiter, an den Rand des Friedhofs, wo sich einzelne Gräber befanden. Ein kleiner Trampelpfad führte dorthin. Dort stand ein einfacher Stein, ohne Kreuz, mit einer schlichten Inschrift: Joseph White Cloud.

Sannah blieb abseits stehen, um Josh nicht zu stören. Der Gedenkstein war öffentlich, das Grab seines Vaters jedoch war etwas sehr Persönliches. Josh hockte sich davor und entfernte ein paar trockene Blätter, legte Salbei und Tabak vor den Stein und hielt stumme Zwiesprache. „Iyótancila“ – Hab dich lieb, flüsterte er seinem Vater zu.

Sie wartete geduldig, bis er zurückkam.

Er legte ihr den Arm um die Schulter. „Danke“, sagte er nur, und sie gingen langsam zurück zum Auto.

Sannah brauchte den restlichen Weg nach Pine Ridge, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Erst der Anblick von genauso erschütternden, maroden Wohnhäusern holte sie zurück in die Gegenwart. Mitten im Herzen der USA fand sie sich in der Dritten Welt wieder. Man hatte diesen Menschen alles genommen. Ihr Land, die Büffel, ihre Kultur und Sprache und nicht zuletzt auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Alles, was geblieben war, war Trostlosigkeit und Resignation. Gemessen an dem, was sie hier sah, war Josh ein reicher Mann. Er verfügte über einen Stromanschluss und fließendes Wasser und musste auch nicht fürchten, dass sein Haus beim nächsten Sturm über ihm zusammenbrechen würde. Das bisschen abgeblätterte Farbe war da bestenfalls nur ein kleiner Schönheitsfehler.

Sannah kannte die Statistik, aber es mit eigenen Augen zu sehen, erschütterte sie bis ins Mark.

Josh parkte vor einem Laden für Handys, Computer und ähnlichen technischen Schnickschnack. „Was empfiehlst du mir?“, fragte er und riss sie damit aus ihren Gedanken.

„Irgendein robustes Outdoor-Modell, wasserdicht, mit Gorilla-Glas und nicht zu groß, damit es in die Hosentasche passt“, riet sie ihm.

Josh nickte. „Klingt vernünftig“, sagte er und stieg aus.

Drinnen erlebte Sannah einen kleinen Kulturschock. Der Unterschied vom Elend draußen und der blau-weißen Hightech-Glitzerwelt im Laden erschien ihr geradezu obszön. Hinter dem Tresen stand ein weißer, pickeliger Jung-Yuppie und taxierte seine Kundschaft auf die zu erwartende Provision.

„Hi!“, begrüßte er die beiden. „Mein Name ist Frank McDonald, Sie sind sicher an den neuesten Modellen unserer Smartphones interessiert.“

„Nein“, meinte Josh knapp und brachte damit die Verkaufsstrategie des Yuppies gewaltig ins Wanken.

Sannah grinste in sich hinein. Die gleiche Masche hatte auch sie am Anfang völlig verunsichert. Josh unterbreitete seine Wünsche und der Yuppie machte ein enttäuschtes Gesicht, als er Josh ein paar Modelle zeigte. Nach einem unauffälligen Seitenblick zu Sannah, die ihm zunickte, entschied er sich für ein handliches und solides Gerät der mittleren Preiskategorie.

„Das kostet mit Prepaid-Karte zweihundertneunundvierzig Dollar“, erklärte McDonald. „Wenn Sie allerdings einen Vertrag mit zwei Jahren Laufzeit abschließen, gibt es das Gerät gratis.“

Das Wort „gratis“ erweckte, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, bei Josh Misstrauen. Der Yuppie legte den Vertrag auf den Tresen und hielt Josh einen Kugelschreiber hin. „Eine Unterschrift, und Sie sind jederzeit und überall erreichbar“, leierte er sein Sprüchlein herunter.

Josh nahm den Kugelschreiber, legte ihn demonstrativ beiseite und begann den Vertrag zu lesen. Er konzentrierte sich gezielt auf das Kleingedruckte. McDonald wurde sichtlich nervös. Als Josh fertig war, stemmte er seine Hände auf den Tresen. Nun war er mit seiner Statur ohnehin schon beeindruckend genug, da er aber wegen der frühsommerlichen Hitze nur ein Unterhemd trug, war das Spiel seiner Oberarmmuskulatur nur schwerlich zu übersehen.

„Sie mögen mich vielleicht für einen Hinterwäldler halten, Sir“, lächelte Josh süffisant. „Aber ich bin Geschäftsmann. Also tun Sie mir und sich selbst doch den Gefallen und lassen diesen Knebelvertrag ganz schnell unter dem Tisch verschwinden. Entweder machen Sie mir ein akzeptables Angebot, oder ich sehe mich gezwungen, zur Konkurrenz nach Rapid zu fahren.“

Der Yuppie schluckte trocken und nestelte an seinem Schlips herum.

„Das ist doch kein Knebelvertrag, Sir“, versuchte er zu widersprechen, was er allerdings gleich danach bereute.

Josh hob eine Augenbraue, und sein Gesichtsausdruck wurde eine Spur unfreundlicher. „Ach nein? Eine Preissteigerung von einhundert Prozent nach einem Jahr, auf die Sie mich nicht hingewiesen haben, nenne ich sogar Betrug! Haben Sie also ein anderes Angebot?“, fragte Josh betont freundlich.

Sannah hatte ein diebisches Vergnügen daran, zu sehen, wie Josh den kleinen Möchtegern-Betrüger souverän und mit ausgesuchter Höflichkeit an die Wand nagelte. McDonald beeilte sich, einen anderen Vertrag auf den Tisch zu legen. Josh las diesen wieder aufmerksam durch und griff anschließend zum Kugelschreiber.

„Warum nicht gleich so?“, fragte er zufrieden.

„Möchten Sie, dass ich ihnen das Gerät gleich einrichte?“, bot der kleine Wicht nervös an.

„Nein, danke!“, antwortete Josh. „Das erledige ich allein.“

„Aber für geschätzte Vertragskunden gibt es doch sicherlich noch eine Wunschnummer und ein passendes Etui gratis?“, mischte Sannah sich ein.

„Aber natürlich!“, presste McDonald hervor, während Josh den Vertrag ausfüllte und grinste. Sie kaufte sich noch einen Internet-Stick für ihren Laptop, um ein paar E-Mails schicken zu können.

Als sie den Laden verließen, freute Sannah sich diebisch. „Der macht heute Abend noch einen Termin bei seinem Therapeuten. Nur gut, dass du das Kleingedruckte gelesen hast. Ich wäre glatt darauf hereingefallen“, gab sie zu.

Josh grinste boshaft.

„Genau darauf spekulieren diese Geschäftemacher. Mit dem Wort Gratis wird der Kunde angelockt, und dann schnappt die Falle zu. Dass er im Endeffekt fast doppelt so viel bezahlt hat, merkt er erst hinterher. Immer das gleiche Scheißspiel. Mit miesen Verträgen kennen wir uns mittlerweile aus“, sagte er spöttisch.

„Woher kennst du dich damit so gut aus?“, fragte Sannah.

„Ich habe Betriebswirtschaft studiert. Da lernst du schon im ersten Semester, die Leute zu betrügen. Lass uns was essen gehen, ich habe Hunger“, antwortete er.

„Du hast immer Hunger“, stellte sie fest.

Nach einem Taco gegenüber vom Sioux Nation Shopping Center, erledigten sie die restlichen Einkäufe. Das Shopping Center war deutlich größer als der kleine Tante-Emma-Laden im Nachbarort. Aber auch hier waren die Preise gesalzen. „Warum ist das hier überall so verdammt teuer?“, wollte sie wissen.

„Ganz einfach“, erklärte Josh. „Angebot und Nachfrage. Es gibt auf der ganzen Rez nur diesen einen großen Supermarkt. Viele Leute haben kein Auto oder können sich die weite Fahrt nach Rapid nicht leisten. Sie sind also darauf angewiesen, hier einzukaufen. In den kleinen Läden bekommt man nur das Nötigste, aber längst nicht alles. Also werden hier die Preise hochgeschraubt, weil es keine Konkurrenz gibt. Und den Einwohnern bleibt nichts anderes übrig, als zähneknirschend zu bezahlen. Das war schon immer so und wird sich wohl auch nicht ändern.“

Sannah war fassungslos. Das Reservat war von der Fläche her etwa halb so groß wie das Bundesland Rheinland-Pfalz und hatte etwa vierzigtausend Einwohner; ein Supermarkt deckte nicht mal ansatzweise den Bedarf.

In ihr kochte die Wut hoch. Die Not anderer auszunutzen, um auch noch den letzten Cent aus ihnen herauszupressen, war in ihren Augen einfach nur widerwärtig.

„Hast du eine Idee, was wir zum Picknick mit den Kids mitnehmen?“, wechselte Josh das Thema.

„Wie wäre es mit Stockbrot und Würstchen?“, schlug sie vor.

„Was ist Stockbrot?“, fragte er erstaunt.

„Du nimmst Bambusstäbe oder schneidest Weidenruten, wickelst den Brotteig drumherum und röstest den langsam über dem Feuer, die Würstchen auch. Schmeckt klasse und macht riesigen Spaß. Ich habe das als Kind immer geliebt. Wir saßen am Feuer, haben gegessen und uns Geschichten erzählt.“

Josh stellte sich Sannah als kleines Mädchen vor und lächelte. „Klingt gut, den Kids wird das bestimmt gefallen“, stimmte er zu und steuerte die Fleischtheke an.

Auch im Supermarkt stellte Sannah fest, dass die meisten Leute mit diesem eigenartigen Duckface auf etwas deuteten, statt mit dem Finger darauf zu zeigen.

„Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Menschen!“, hatte ihre Großmutter sie immer ermahnt. Wie es aussah, war man im Reservat sogar noch höflicher und zeigte mit dem Finger nicht einmal auf nackte Würstchen. Sannah schmunzelte. Das ergab zumindest mehr Sinn als diese dämlichen Selfie-Grimassen. Ihrer Großmutter hätte das jedenfalls gefallen.

Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg nach Hause. Sannah war froh, wieder im Auto zu sitzen. Der Tag hatte sie aufgewühlt, und sie sehnte sich nach der Ruhe und Abgeschiedenheit der Ranch.

„Was hast du heute noch zu tun?“, fragte sie Josh.

„Ich muss gleich noch die Ausbildungspferde bewegen und mein Telefon einrichten, was auch immer das bedeutet“, führte er aus und grinste etwas hilflos. „Hilfst du mir?“

„Na klar!“, meinte sie.

Auf der Ranch angekommen, teilten sie sich wieder die Arbeit mit den jungen Pferden und holten auch zusammen die Herde von der Weide. Beim Abendessen fielen Josh fast die Augen zu.

„Du solltest lieber gleich schlafen gehen“, meinte Sannah. „Um dein Telefon können wir uns auch morgen kümmern.“

Er nickte nur, zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Nach dem Essen schlurfte er die Treppe hoch und fiel ins Bett. Sannah kochte sich einen Tee und genoss die abendliche Ruhe auf der Veranda. Es war ungewohnt, allein hier draußen zu sitzen, und trotzdem seltsam vertraut. Sie stellte erstaunt fest, dass ihr Hamburg nicht fehlte, sie die Ranch aber schmerzlich vermissen werden würde. Nicht nur die Ranch, sondern vor allem Josh. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Um sich abzulenken holte sie ihr Laptop, schrieb Annegret und Jonas eine Mail und speicherte die Fotos vom Reitunterricht der Kinder ab. Dabei entdeckte sie dann auch die Fotos, die Josh gemacht hatte. Sie waren gut geworden, bemerkenswert war allerdings, dass auf vielen davon nichts vom Pferd zu sehen war. Es waren fast nur Aufnahmen von ihr.

In Deutschland stand Annegret am Morgen vor Sannahs Haus in Blankenese und klingelte Sturm. Sie war mit Jonas zum Frühstück verabredet, aber der lag scheinbar noch im Bett. Endlich öffnete sich die Tür.

„Ist ja gut, ich bin doch schon da“, beschwerte sich Jonas über das Klingelinferno.

„Schon ist gut“, bemerkte Annegret schnippisch und rauschte mit einer großen Tüte vom Bäcker an ihm vorbei. „Hast du verschlafen?“, fragte sie.

Er grinste sie mit seinem jungenhaften Lächeln an. „Nein, um ehrlich zu sein, hatte ich vergessen, dass du kommst. Ich war gerade im Garten.“ Sie bedachte ihn mit einem empörten Blick. Eine Annegret Marquardt vergaß Mann nicht ungestraft. „Soll das heißen, es gibt nichts zum Frühstück?“, zeterte sie hinter ihm her, während er gelassen wieder in den Garten ging.

Ihr Blick fiel auf den Esstisch, wo sich nur ein Haufen Fachliteratur stapelte. Sie stöckelte in ihren High-Heels hinter ihm her. Als sie die Terrasse betrat, verrauchte ihre Empörung schlagartig. Jonas hatte die Gartenmöbel auf den Rasen gestellt, der Tisch war gedeckt und mit frischen Rosen dekoriert, eine Flasche Sekt stand in einem alten, silbernen Sektkühler. Bleikristall funkelte in der Morgensonne. Auf Tellern und in kleinen Schüsseln waren diverse Leckereien angerichtet und warteten nur auf Annegrets frische Brötchen.

„Wenn du mit Meckern fertig bist, zieh die Mordinstrumente aus und setz dich. Ich hole den Kaffee“, konterte Jonas schmunzelnd. Annegret war sprachlos, und das passierte wirklich ausgesprochen selten. Sie zog ihre Schuhe aus und lief barfuß über den Rasen. „Womit habe ich das verdient?“, fragte sie, als Jonas mit der Kaffeekanne zurückkam.

„Na, mit Meckern jedenfalls nicht! Genau genommen hast du es dir noch gar nicht verdient. Das sind Vorschusslorbeeren. Aber ich bin mir sicher, deinem hübschen Köpfchen fällt noch etwas Schönes ein“, sagte er breit grinsend und stupste ihr mit der Fingerspitze an die Nase.

Ihr blieb der Mund offen stehen, sie war es gewöhnt, dass ihr die Männer zu Füßen lagen. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie die meisten davon nicht sonderlich ernst nahm. Männer waren Spielzeug, wenn sie langweilig wurden, tauschte man sie aus.

Jonas war anders, er brachte sie in die Defensive, noch bevor sie überhaupt ihr Netz gesponnen hatte. Er dachte nicht im Traum daran, ihr zu Füßen zu liegen, sondern begegnete ihr auf Augenhöhe. Das war eine völlig neue und dementsprechend reizvolle Erfahrung für sie. Auch wenn Jonas so gar nicht ihrem Typ entsprach. Mit seinen blonden Haaren, dem rötlichen Vollbart und den grünen Augen hatte er absolut nichts Südländisches an sich. Viel eher sah er aus wie Hägar, der Wikinger, fehlte nur die Streitaxt. Sein Selbstbewusstsein war allerdings auch ohne Axt mehr als groß. Annegret schmunzelte. Er hatte sie herausgefordert und sie war mehr als bereit den Fehdehandschuh aufzunehmen.