Kitabı oku: «Praxis und Methoden der Heimerziehung», sayfa 6

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Kapitel 2
Heimerziehung im Kontext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)
Die generelle Zielsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)

Das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII trat am 3. Oktober 1990 in den neuen und am 1. Januar 1991 in den alten Bundesländern in Kraft. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ist die Bezeichnung Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gebräuchlich.

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz folgt den Erkenntnissen der Sozialisationsforschung sowie neueren Ansätzen der Pädagogik und anderer Sozialwissenschaften. Der im Verhältnis zum alten Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) aufgetretene Perspektivenwechsel wird schon in § 1 des neuen Gesetzes deutlich:

Unter der Überschrift „Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe“ werden die Grundlagen und Zielsetzungen der Jugendhilfe zusammengefasst:

„(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

1.junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

2.Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen,

3.Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.“

Die Lebensweltorientierung als Leitnorm des KJHG stärkt eindeutig die Stellung der Eltern und unterstreicht damit den Wert der Familie. Gleichwohl war sich der Gesetzgeber durchaus bewusst, dass Rahmenbedingungen in Familien so ungünstig sein können, dass sie sich gefährdend auf das Wohl der Kinder auswirken. Natürlich ist nicht jede Abweichung von der klassischen Kernfamilie als defizitär oder pathogen zu verstehen. Kinder und Jugendliche, die Erziehungshilfen benötigen, entstammen jedoch häufig Lebensformen, in denen Familien von Langzeitarbeitslosigkeit, der Not, eine angemessene Wohnung zu finden und bezahlen zu können sowie weiteren Herausforderungen eines Lebens am Existenzminimum betroffen sind. Das ist häufig verbunden mit alleinerziehenden Elternteilen, teilweise nach Scheidung, die schon deswegen stärker vom Armutsrisiko betroffen sind (s. u. a. Pears/Capaldi 2001). Das Leben am Existenzminimum geht insgesamt mit einem erhöhten Risiko für psychische Belastungen einher, was auch durch den vierten Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung (Bundesregierung 2017) bestätigt wird, wonach insbesondere von Arbeitslosigkeit betroffene Familien, Alleinerziehende und deren Kinder, gefolgt von Familien mit Migrationshintergrund ein besonders hohes Armutsrisiko tragen (S. XXI – XXII).

Das Armutsrisiko von Kindern ist nach wie vor deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. So leben rund 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche in Haushalten mit geringem Einkommen (S. 248). Dies sind fast 20 % aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen.

Armut sowie die anderen vorgenannten familiären Situationen können negative Sozialisationsverläufe von Kindern und Jugendlichen auslösen und begünstigen. Da die Erziehungsverantwortung im KJHG primär bei den Eltern angesiedelt wurde, galt es, die Leistungen zugunsten der familiären Erziehung stark auszuweiten. Damit folgt dieses Gesetz auch systemorientierten Erklärungen, wonach Schwierigkeiten und auftretende Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen vorwiegend als Symptome der individuell vorhandenen Beziehungsstrukturen der Familie und des sozialen Systems zu verstehen sind.

Das Gesetz gibt nicht allgemeine Erziehungsziele vor, sondern spricht von individueller sozialer Entwicklung. Damit werden die Lebensbezüge der Menschen akzeptiert und ernst genommen. Auf diese gilt es sozialpädagogisch aufzubauen, die unterschiedlichen Leistungsangebote der Jugendhilfe sind umwelt- und lebensweltorientiert (Frankfurter Kommentar 2019, S. 360). Für die Heimerziehung bedeutet das Konzept der Lebensweltorientierung die Akzeptanz, Beachtung und Förderung früherer und gegenwärtiger örtlicher und sozialer Beziehungen der jungen Menschen. Deren individuellen Lebenswelten werden zum Ausgangspunkt einer ressourcenorientierten Entwicklungsförderung. Diese zielt auf eine Bewältigung der Anforderungen im Alltag ab, auf soziale Gerechtigkeit und letztlich auf eine Hilfe zur Selbsthilfe (Grunwald/Thiersch 2018, S. 906).

Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung

Die Absicht des Gesetzgebers war es, durch die Veränderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes bzw. Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) im Jahr 2005 einen besseren Schutz von jungen Menschen vor Kindeswohlgefährdungen zu erreichen. Spektakuläre Fälle von Kindstötungen, Misshandlungen und Vernachlässigungen hatten die Öffentlichkeit, Fachwelt und Politik aufgewühlt. Zwar war auch bislang bereits der Schutz von Kindern und Jugendlichen in diesem Gesetz berücksichtigt (§ 1 Abs. 3. Nr. 3: Jugendhilfe soll „Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen“), durch den neuen § 8a SGB VIII wurde diesem Schutzauftrag eine klare gesetzliche Grundlage gegeben (Frankfurter Kommentar 2019, S. 120 ff.).

„Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht infrage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten.“

Ebenso verpflichtend ist dieser Schutzauftrag für die Fachkräfte von Trägern und Diensten, welche Jugendhilfeleistungen anbieten. Sie sollen bei der Gefährdungseinschätzung eine erfahrene Fachkraft hinzuziehen, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken und das Jugendamt dann informieren, wenn dies nicht ausreichend gelingt. Erforderlichenfalls wird das Jugendamt sich wegen eines Sorgerechtsentzugs an das Familiengericht wenden. Bei dringender Gefahr und wenn eine Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann, ist das Jugendamt verpflichtet, nach § 42 SGB VIII das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.

„Eine der größten Herausforderungen in der Kinderschutzarbeit besteht darin, den Grenzpunkt zu lokalisieren, an dem die Nicht-Gewährleistung des Kindeswohls in eine Gefährdung des Kindeswohls übergeht und das staatliche Wächteramt aktiviert wird, da die freiwillige Hilfestellung zur Überwindung einer belastenden Situation nicht (mehr) zu greifen scheint. Der Gesetzgeber sieht keinerlei Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Hilfen vor, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist (…), sondern erst dann wenn die Schwelle zur Gefährdung überschritten wurde“ (Klees/Wiesner 2014, S. 87).

2012 wurde zur weiteren Stärkung des Kindeswohls außerdem das Bundeskinderschutzgesetz eingeführt. Es enthält sowohl Ausführungen zu Maßnahmen der Intervention auf der Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes bei Kindeswohlgefährdung, es stärkt aber auch die Prävention. Hier sind unter anderem Maßnahmen der Frühen Hilfen aufgeführt, wie Hausbesuche bei Familien, aber auch die stärkere Vernetzung verschiedener Fachkräfte sowie das Vorgehen z. B. von Ärzt*innen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019).

Erziehungshilfen im KJHG

Das KJHG bzw. SGB VIII regelt unter anderem differenziert die Hilfe zur Erziehung und verzichtet auf negativ besetzte und pädagogisch fragwürdige Begrifflichkeiten des alten Jugendwohlfahrtsgesetzes wie beispielsweise „Fürsorgeerziehung“ oder „Verwahrlosung“. Die Angebote der erzieherischen Hilfen sind als Leistungsangebote zu verstehen, auf welche bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen ein rechtlicher Anspruch besteht. Im Gegensatz zu Teilaspekten des alten JWG geht der Gesetzgeber nun nicht mehr von „Erziehungseingriffen“ aus, sondern betont durchgängig den freiwilligen Charakter der Hilfeangebote sowie die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Familien.

Unter der Überschrift „Hilfe zur Erziehung“ lautet § 27 Abs.1 des KJHG:

„Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.“

Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall, das engere soziale Umfeld des Kindes oder Jugendlichen ist dabei einzubeziehen. Somit ist wiederum der Bezug der Lebensweltorientierung vorhanden. Bei der Hilfe zur Erziehung wird insbesondere von der Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen ausgegangen.

Nachfolgend werden im Gesetz die Leistungsangebote der Hilfe zur Erziehung angeführt:

§ 28 Erziehungsberatung,

§ 29 Soziale Gruppenarbeit,

§ 30 Erziehungsbeistandschaft, Betreuungshelfer,

§ 31 Sozialpädagogische Familienhilfe,

§ 32 Erziehung in einer Tagesgruppe,

§ 33 Vollzeitpflege,

§ 34 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform,

§ 35 Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung.

Satz 2 des § 27 sagt aus, dass Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt wird. Durch das Wort „insbesondere“ kommt zum Ausdruck, dass das im Gesetz aufgeführte Leistungsspektrum unterschiedlicher Erziehungshilfen keinen ausschließlichen Charakter haben kann. Es wird hier auch Raum gelassen für neue, noch zu entwickelnde Hilfeformen, und auch die sogenannten „Außenseitermethoden“ werden nicht von vornherein kategorisch ausgeklammert (Fegert 1996, S. 74 f.). Inzwischen werden Hilfen, die nicht unter eine der in den §§ 28 bis 35 aufgeführten Kategorien passen, auch als „Flexible Hilfe zur Erziehung nach § 27 KJHG“ geführt (s. z. B. Statistisches Bundesamt 2019). Diese wurden erstmals explizit von Klatetzki (1995) beschrieben und ermöglichen einen besseren Einsatz individueller, maßgeschneiderter Unterstützungen.

Bei den §§ 28 bis 31 handelt es sich um ambulante Erziehungshilfen; die Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32) versteht sich als teilstationäres Angebot; Vollzeitpflege und Heimerziehung (§§ 33 und 34) sind stationäre Erziehungshilfen; dagegen kann die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35) sowohl in ambulanter als auch in stationärer Form erfolgen.

Aufgrund der Betonung des Familienbezugs im KJHG sind ambulante Erziehungshilfen den stationären dann vorzuziehen, wenn die familiären Beziehungsstrukturen und Bindungen noch einigermaßen vorhanden sind und zu erwarten ist, dass durch ambulante Hilfen die Verhältnisse wieder stabilisiert werden können (Informationen zu Erziehungshilfen: s. z. B. Günder 2006, Macsenaere, Esser, Knab & Hiller 2014).

Heimerziehung im Kinder- und Jugendhilfegesetz

In § 34 KJHG wird die Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht geregelt. Der Gesetzgeber spricht von Heimerziehung und sonstigen betreuten Wohnformen und trägt damit dem Tatbestand Rechnung, dass Heimerziehung heute in sehr differenzierten Institutionen stattfindet.

„Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie

eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder

die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder

eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbstständiges Leben vorbereiten.

Jugendliche sollen in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden.“

Die in § 35 erwähnte Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung berücksichtigt die diesbezügliche pädagogische Differenzierung der Heimerziehung und meint damit beispielsweise auch länger andauernde Projekte der Erlebnispädagogik. Diese werden besonders eingesetzt für junge Menschen, die aufgrund ihrer individuellen (oft negativen) Sozialisationserfahrungen in der klassischen Gruppenform einer stationären Erziehungshilfe an Grenzen stoßen. Die Mitwirkung der beteiligten Personensorgeberechtigten und des Kindes oder Jugendlichen werden in § 37 festgelegt. Diese sind vor der Inanspruchnahme einer Hilfe zur Erziehung ausführlich zu beraten. Wenn eine Hilfe außerhalb der eigenen Familie erforderlich ist, so sind die Erziehungsberechtigten und der junge Mensch bei der Auswahl der Einrichtung oder der Pflegestelle zu beteiligen. Wenn nicht unverhältnismäßige Mehrkosten auftreten, so ist ihren Wünschen zu entsprechen.

Wenn Hilfe zur Erziehung über einen längeren Zeitraum zu leisten ist, soll nach § 36 ein Hilfeplan im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte und zusammen mit den Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen erstellt werden. Dies bedeutet für die Heimerziehung, dass Hilfepläne beispielsweise in Teamarbeit von Gruppenerzieher*innen, gruppenübergreifenden Diensten und den zuständigen Fachkräften des Jugendamtes zu erstellen sind, wobei Eltern und die betroffenen Minderjährigen zu beteiligen sind.

Neu geregelt werden durch das KJHG auch die rechtliche Zuständigkeit und damit die Finanzierung der Heimerziehung. Nach dem alten JWG konnte im Einzelfall je nach pädagogischer Etikettierung und Gefährdungseinschätzung entweder das örtliche oder das überörtliche Jugendamt zuständig sein. Gemäß § 85 KJHG ist nun stets das Jugendamt für die Gewährung von Leistungen zur Hilfe zur Erziehung zuständig, in dem das Kind oder der/die Jugendliche seinen/ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese örtliche Zuständigkeit ist im Sinne einer regionalen Inanspruchnahme, Verantwortung und Sorge zu begrüßen. Sie kann jedoch zu einer pädagogisch unreflektierten Vermeidung von Heimerziehung führen, wenn generell oder in einzelnen kommunalen Haushalten besondere finanzielle Probleme vorhanden sind. In der Praxis wird tatsächlich ein großer Unterschied in der Gewährung von verschiedenen Hilfen durch die Jugendämter unterschiedlicher Kommunen beklagt. So stellt der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung heraus, dass die Anzahl der gewährten Hilfen in den Kommunen mit den meisten Bewilligungen viermal so hoch ist wie in den Kommunen mit den niedrigsten Bewilligungen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017, S. 436). Die Personensorgeberechtigten haben nach § 27 KJHG Anspruch auf Förderungsmaßnahmen der Hilfe zur Erziehung für ihr Kind, wenn ansonsten das Wohl des Kindes gefährdet wäre und wenn die beanspruchte Hilfe für seine Entwicklung und Neigung notwendig ist. Insofern könnten Eltern im konkreten Einzelfall Heimerziehung für ihr Kind auch einklagen. Da Eltern von Kindern, die auf Heimerziehung angewiesen sind, in der Regel aber aus unterprivilegierten Schichten stammen und/oder sich in sehr schwierigen Lebenslagen befinden, ist diese Klagemöglichkeit wohl eher theoretisch, sie wird in der Praxis kaum einmal vorkommen.

Ähnlich verhält es sich, wenn die Maßnahme Heimerziehung für junge Erwachsene über das 18. Lebensjahr hinaus fortgesetzt werden soll. Nach § 41 KJHG soll jungen Volljährigen (in begründeten Einzelfällen auch über das 21. Lebensjahr hinaus) Hilfe für ihre Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden. Die individuelle Situation des jungen Menschen bestimmt, ob und wie lange die Hilfe notwendig ist. Dies gilt entsprechend für die Maßnahme Heimerziehung oder Betreutes Wohnen. Gegenwärtig kann allerdings immer häufiger beobachtet werden, dass Jugendämter nicht mehr bereit sind, junge Erwachsene über das 18. Lebensjahr hinaus in stationären Institutionen der Jugendhilfe weiterhin zu fördern (Nüsken 2008). Die jungen Menschen könnten auch hier versuchen, ihr Recht auf Jugendhilfe einzuklagen, aber die wenigsten werden diesen Schritt tun.

Einbezug seelisch Behinderter

Der Gesetzgeber hat in § 35a des KJHG ausdrücklich auch solche Kinder und Jugendliche aufgenommen, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Diese, bezogen auf die Gesamtgruppe der Kinder und Jugendlichen, welchen Hilfe zur Erziehung gewährt wird, relativ kleine Gruppe hat Anspruch auf Eingliederungshilfe und im Bedarfsfall auch Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, somit auch auf stationäre Erziehungshilfen. Mit der Berücksichtigung seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher im KJHG beendete der Gesetzgeber den jahrzehntelang andauernden Streit, ob diese Minderjährigen durch Maßnahmen der Sozial- oder der Jugendhilfe gefördert werden sollen. Im Zuge der Novellierung des KJHG (1. Oktober 2005) wurde der § 35a ergänzt. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat nun hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit die fachliche Stellungnahme eines/einer entsprechenden Fachärzt*in oder Psychotherapeut*in einzuholen. Als seelisch behindert werden jene Personen angesehen, die als chronisch psychisch krank gelten und die oftmals längere Aufenthalte in Psychiatrien durchlebt haben. Bei ihnen wurde eine psychische Störung festgestellt, welche die Voraussetzungen erfüllt, ihre Teilhabefähigkeit wesentlich zu beeinträchtigen. Der Begriff der seelischen Behinderung ist nicht als statisch zu verstehen, sondern z. B. gesellschaftlichen Veränderungen und Einstellungen unterworfen (Kronenberger 2017, S. 743). Bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich aus traditioneller Sichtweise vor allem um solche mit autistischen und anderen psychotischen Syndromen, mit Persönlichkeitsstörungen auf der Grundlage schwerwiegender Neurosen oder mit Befindlichkeiten nach hirnorganischen Erkrankungen. Mueller berichtet, dass bei 61 % fremduntergebrachter seelisch behinderter jungen junger Menschen Verhaltens- und emotionale Störungen, bei 16 % neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen vorlagen (2000, S. 127). Eine Einrichtung der Heimerziehung, in der seelisch behinderte Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, benötigt die entsprechenden Voraussetzungen und personellen Rahmenbedingungen, damit erzieherische und therapeutische Prozesse erfolgreich verlaufen können und eine Integration als Zielsetzung realistisch bleibt.

„Der psychisch auffällige junge Mensch benötigt demnach Schutz auch innerhalb der Einrichtung vor Übergriffen, unnötiger Ablehnung, Abwertung und Ausgrenzung durch in Betreuungsverantwortung stehende Fachkräfte, Eltern, Schule etc.“ (Mueller 2000, S. 128).

Fegert gibt in einer Abhandlung zum § 35a zu bedenken, dass die Anwendung des Begriffs „Seelische Behinderung“ im Kindes- und Jugendalter sehr problematisch sei, da beim Behinderungsbegriff die Chronizität des Leidens immer eine große Rolle spiele. Er legt daher sein Hauptaugenmerk auf den Bedrohungsgedanken.

„Dies bedeutet, dass eine umfassende Diagnostik, die neben der Feststellung der jeweiligen psychopathologischen Symptomatik auch eine differenzierte Einschätzung des Entwicklungsstandes, des Intelligenzniveaus, körperlicher Begleiterkrankungen oder Grunderkrankungen, und unterschiedlicher psychosozialer Risiken beinhaltet, eine Feststellung zulässt, ob die Kinder bei Unterbleiben geeigneter Hilfs- und Entwicklungsmaßnahmen von einer Entwicklung bedroht sind, die sie in ihren Beziehungen beeinträchtigt, die ihr Leistungsniveau herabsetzen, die ihre spätere Teilnahme am regulären Arbeitsprozess infrage stellt, und die sie subjektiv mehr oder weniger erheblich beeinträchtigt (je nach Krankheitsbild teilweise schweregradunabhängiger, völlig unterschiedlicher Leidensdruck)“ (Fegert 2004, S. 210).

Außerdem weist er darauf hin, dass viele bestehende Behinderungen wie beispielsweise Körperbehinderung, Sprachbehinderung, Lernbehinderung und geistige Behinderung sehr häufig mit sekundären psychischen Beeinträchtigungen einhergehen, auf deren Grundlage sich eine psychische Behinderung entwickeln kann (Fegert 2004, S. 212 f.). Die zuletzt genannten Behinderungsformen werden jedoch vom § 35a nicht erfasst, da dieser Personenkreis der Eingliederungshilfe gemäß dem BSHG unterliegt. Dennoch muss zumindest die Einbeziehung seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher in das Leistungsangebot des KJHG als zu begrüßender Fortschritt gewertet werden, da im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ihnen alle Rechte und Freiheiten vergleichbar zu Kindern ohne Behinderung garantiert werden müssen (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2017a). Eine Einbeziehung aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in das Kinder- und Jugendhilfegesetz, also die sogenannte „Inklusive Lösung“, ist bisher aber noch nicht umgesetzt worden (Beauftragter der Bundesregierung für Belange von Menschen mit Behinderungen 2017b), obwohl damit eine Ungleichbehandlung aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten und Hilfesysteme vorliegt.

Das neue Bundesteilhabegesetz macht deutlich, dass Behinderung als Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigung und umwelt- oder einstellungsbedingten Barrieren zu verstehen ist. Hilfen zur Erziehung für alle Kinder und Jugendlichen könnten hier ansetzen, insbesondere um umweltbedingte Barrieren abzubauen. Allerdings müssen dafür die öffentlichen und freien Träger der Erziehungshilfe ihre personellen, räumlichen und fachlichen Standards erweitern und benötigen eine gute Lösung, die allen Schnittstellenproblematiken gerecht wird, um den hohen Verwaltungsaufwand zu rechtfertigen, der mit der Umstellung der Systeme verbunden ist (Finke 2019, S. 14).

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