Kitabı oku: «Retourkutsche», sayfa 4
»Und die Polizei ist den Kartellen nicht gewachsen?«
Manuel lächelte bitter.
»Letzten Dezember hat eine Armeeeinheit Arturo Beltrán Leyva nahe Mexiko City aufgespürt und erschossen. Arturo war der Boss der Bosse des Beltrán-Leyva Kartells. Bei der wilden Schießerei kam aber auch ein junger Soldat ums Leben. Diesem gab die Regierung eine Woche später ein Staatsbegräbnis. Dadurch wurde sein Name landesweit bekannt. Nur Zwei Tage später drangen Bewaffnete in das Haus der Mutter dieses Soldaten ein, töteten sie selbst, zwei seiner Geschwister und eine zufällig anwesende Tante. Jedes Jahr werden hier im Norden von Mexiko mehrere tausend Menschen getötet, darunter ein Dutzend Journalisten. Mittlerweile wird in den Zeitungen und am Radio und im Fernsehen über die Erfolge der Polizei und der Armee gegen die Drogenkriminalität oft gar nicht mehr berichtet, aus lauter Angst, sich den Zorn eines der Kartelle zuzuziehen. Teile der Polizei und der Armee werden von den Kartellen geschmiert und verraten ihre loyalen Kollegen. Erst kürzlich musste der Polizeichef von Juárez seinen Posten wegen Bestechlichkeit räumen. Zwei Wochen später hat man ihn an der Grenze zur USA mit einer Lieferung Drogen erwischt. Ehemalige Drogenfahnder der mexikanischen Polizei haben sich vor Jahren dem Golf-Kartell angeschlossen. In der Zwischenzeit hat sich dieses einst mächtigste Syndikat von ganz Mexiko in das Zetas und das Beltrán-Leyva Kartell aufgeteilt. Die Zetas treten dabei besonders brutal in Erscheinung, kennen auch keinerlei Skrupel gegen völlig unbeteiligte Menschen. Sie töten, was ihnen in die Quere kommt, ohne jedes Gewissen.«
»Und wie sind die Kartelle hier in Juárez organisiert? Du sprachst von Jugendbanden?«
»Für das Juárez-Kartell streiten sich immer noch die Los Aztecas. Sie sollen über fünftausend Mitglieder zählen. Die anderen Kartelle bedienen sich wahlweise der Mexides und der Artistas Asesinos, zwei weitere große Gruppierungen und erbitterte Feinde der Los Aztecas. Aber es gibt auch noch andere, kleinere Banden. Du findest hier in Juárez an jeder Ecke Kontakt zu einem Sicario, einem Auftragsmörder. Wenn dein Opfer nicht besonders prominent und darum auch nicht von Leibwächtern beschützt wird und seine Ermordung kaum Aufsehen erregt, so kostet dich ein Mord nicht mehr als siebzig US-Dollar.«
Henry konnte über diese Aussagen nur den Kopf schütteln.
»Kennst du die Menge oder den Wert an Drogen, die von Mexiko aus in die USA geschafft werden? Von welchen Größenordnungen sprechen wir bei diesem Geschäft?«
»Janet Napolitano, die US-Heimatschutzministerin, meinte vor noch nicht langer Zeit in einem Interview, dass neunzig Prozent des Kokains aus Mittelamerika über Mexiko in die USA geschleust wird. Hinzu kommen tausende von Tonnen an Amphetaminen. Marihuana spielt mittlerweile eher eine Nebenrolle, auch wenn die Mengen gigantisch sind. Wie man sich erzählt, erreichten die Drogenlieferungen aus Mexiko in die USA letztes Jahr einen Wert von mehr als dreißig Milliarden Dollar. Der Straßenwert dürfte bei über einhundert Milliarden liegen. Nur etwa ein Drittel der dreißig Milliarden sollen als Bargeld zurück nach Mexiko geflossen sein, zwei Drittel jedoch in Form von Waffen und Kriegsmaterial. Denn damit bezahlen die mexikanischen Kartelle ihre Lieferanten aus Mittelamerika. Der Anbau von Kokain liegt dort meistens in den Händen von Terror-Organisationen wie zum Beispiel den FARC in Kolumbien.«
Henry dachte über die Erklärungen von Manuel gründlich nach. Sein Freund ließ ihm die Zeit, saß stumm am Tisch und wartete ab.
»Du sagst, das Juárez-Kartell habe in letzter Zeit an Einfluss verloren, das Sinaloa-Kartell dagegen gewonnen?«
Manuel nickte.
»Doch die Los Aztecas, die größte lokale Jugendbande, unterstützt immer noch das Juárez-Kartell?«
Wiederum nickte der Mexikaner.
»Kannst du für mich herausfinden, wo das Juárez-Kartell sein Hauptquartier hat? Ich meine, wo es seine Buchhaltung führt?«
Manuel starrte seinen britischen Freund nachdenklich an.
»Willst du den Toro gleich bei den Hörnern packen? Vicente Carrillo Fuentes, der Boss des Juárez Kartells, ist zwar angeschlagen, doch noch längst nicht am Ende.«
Henry antwortete nicht, blickte seinen Freund bloß aufmunternd an. Der fuhr nach ein paar Sekunden in einem nachdenklicheren Tonfall fort.
»Ich müsste mich erst bei ein paar von meinen alten Bekannten umhören. Gibst du mir zwei, drei Tage Zeit dafür, ja?«
»Selbstverständlich, mein Freund. Doch ich hätte noch zwei weitere Bitten an dich.«
»Ja?«
»Könnte ich ein paar Tage bei dir unterkriechen?«
»Sicher. Das ist kein Problem.«
»Und kannst du mich in einen Mexikaner verwandeln?«
*
Spielleidenschaft ist etwas Großartiges, vor allem, wenn sie in der Hauptstadt des Gamblings, in Las Vegas ausgelebt wird. Dorthin hatte es nämlich Toni Scapia mittlerweile verschlagen.
Er hatte eine Suite im Bellagio bezogen, spielte jeden Abend für ein paar tausend Dollar Blackjack, verlor sie stets brav, war darum gern gesehen und wohnte deshalb auch vom dritten Tag an umsonst. Denn ein Casino-Hotel gab einen finanzkräftigen, glücklosen Spieler nicht so leicht aus seinen Fingern frei. Toni gab die Vorstellung eines reichen Müßiggängers, der mit seiner freien Zeit und dem vielen Geld nichts Sinnvolles anzustellen wusste.
Noch bevor er nach Las Vegas abgereist war, hatte er drei verschiedene Privatdetekteien auf die drei leitenden Mitarbeiter von Hecksmith & Born angesetzt. Den Name dieser Anwaltskanzlei hatte er von Jules erfahren. Sie schien auf Firmengründungen spezialisiert zu sein und verwaltete zwei der wegen möglichen Geldwäscherei-Vergehen verdächtigten Briefkastenfirmen. Die Privatdetektive sollten ihm nach zwei Wochen einen ersten Überblick über den Tagesablauf der drei Zielpersonen geben. An diesem Morgen bekam er zum Frühstück die ersten Berichte zugestellt.
Thomas Martin, der Leiter der Kundenbuchhaltung, pflegte enge Kontakte zu drei verschiedenen Edelnutten der Stadt, schien jede von ihnen einmal die Woche über den Mittag zu besuchen. Er lebte mit seiner Frau und den beiden Kindern in einer großzügigen Villa in einem der Neubaugebiete im Norden der immer weiter in die Wüste vordringenden Stadt. Dort hatte er alle Abende und Nächte verbracht, ging mit seiner Frau wohl eher selten aus. Thomas Martin verdiente bestimmt genug, um sich die kleinen Laster mit den Dirnen leisten zu können. Er bot Toni Scapia kaum genügend Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Erpressung.
Der zweite Kandidat war weit vielversprechender.
Alberto Valandera war erst vor zwei Jahren aus New York in die Wüstenmetropole umgezogen. Den Junggesellen ohne feste Freundin sah man fast jede Nacht für ein paar Stunden im MGM, wo er sich die Zeit mit No-Limit Texas Hold’em vertrieb, bei Big Blinds von zweihundert Dollar.
Toni setzte sich noch am selben Abend, als er von dessen Gewohnheit erfuhr, an den Tisch von Valandera. Während den nächsten drei Stunden wurde zwischen den Spielern nette Konversation betrieben und auch viele Chips ausgetauscht. Toni Scapia gab sich dabei alle Mühe, eine möglichst redselige Stimmung aufrechtzuhalten. Bewusst verlor er an diesem Abend ein paar tausend Dollar an seine Tischnachbarn, foldete immer wieder seine Gewinnhände vorzeitig oder bluffte unsinnig. Verlierer sind an Pokertischen nun einmal ganz besonders gerne gesehen, vor allem, wenn sie hartnäckig an der Sache dranbleiben und an eine künftige Glückssträhne glauben. Die sieben Männer und die beiden Frauen verabredeten sich auch für den nächsten Abend auf acht Uhr. Der Kick-Off zum Projekt Alberto Valandera war erfolgt.
Am wenigsten Greifbares ergab die Überwachung der dritten Person. Caspar Jakes war der General Manager der Anwaltskanzlei. Die Aufzeichnungen der Detektei über ihn zeigten vor allem auf, dass er in der letzten beiden Wochen je einmal nach Los Angeles und zweimal nach San Francisco geflogen war. Dorthin konnten ihm die Mitarbeiter der Detektei nicht folgen, denn das vereinbarte Spesenbudget gab die Zusatzkosten für die Flugtickets nicht her.
Toni fand die Flüge allerdings genügend verdächtig. Immerhin lebte die Anwaltskanzlei nicht von normalen Mandanten und trat kaum einmal vor einem Gericht auf, sondern lebte von der Gründung und Betreuung hunderter von Briefkastenfirmen. Und Leute, die hinter solchen Scheinfirmen saßen, trafen sich üblicherweise nicht persönlich mit ihren Anwälten und Treuhändern. Jules Tipp mit dieser Kanzlei schien Toni bereits zu diesem Zeitpunkt goldrichtig zu sein.
Bei der Auftragsvergabe hatte Scapia der betreffenden Detektei mitgeteilt, er sei Vertreter einer Gruppe von Anlegern, die durch Caspar Jakes vor Jahren ein paar Millionen Dollar verloren hätten. Vor Gericht konnte man ihm damals die ungetreue Geschäftsführung und den Betrug nicht nachweisen. Doch die Geschädigten hätten noch nicht aufgegeben, versprachen sich viel von einer lückenlosen Überwachung, um auf diese Weise mehr über ihn und sein neues Umfeld zu erfahren.
Toni erhöhte das Spesenbudget der Detektei auf unbestimmte Höhe. In Zukunft sollte die Agentur diesen Jakes notfalls auch auf eine Weltreise begleiten können oder an den Zielorten des überwachten Subjekts andere Detekteien einschalten. Damit war die Basis gelegt, die Tagesabläufe des General-Managers lückenlos aufzeichnen zu können.
Scapia kehrte an jedem der folgenden Abenden an die Spieltische im MGM zurück. Meist war auch Alberto Valandera dabei. Geschickt lenkte Toni das Gespräch immer wieder auf Themen wie Arbeit oder Privatleben, gab sich dabei als millionenschwerer Sohn eines reichen Industriellen zu erkennen, der er in Wahrheit ja auch war.
Valandera begann, sich für den Sonnyboy aus Florida stärker zu interessieren. Er lud ihn sogar zu sich nach Hause ein, für eine private Runde Poker mit einigen engen Freunden. So lernte Toni auch Thomas Martin persönlich kennen, sein drittes Zielsubjekt, das sich so gerne und regelmäßig mit drei Huren der Stadt abwechselnd vergnügte und der in den Augen von Toni nicht genügend Angriffsfläche für Korruption oder Erpressung bot.
Vor allem einer Erpressung gab Toni von Anfang an geringe Chancen, um an Informationen über die Klienten der Kanzlei zu gelangen. Denn erpresste Menschen taten oft verrückte Dinge, begingen Selbstmord oder versuchten gar, ihren Peiniger umzubringen. Sie waren viel zu unzuverlässig, um mit ihnen ernsthafte Geschäfte einzugehen. Und bei Korruption bestand immer die Gefahr eines Verrats, um sich selbst ab einem bestimmten Punkt zu schützen.
Über das stundenlange Beisammensein beim Spielen, dem Reden und Scherzen, begann dafür Alberto Valandera immer mehr Vertrauen zu Scapia zu fassen. Und als sie an einem der Abende nach dem Pokerspiel im MGM noch für einen Schlummertrunk an einer der Bars saßen, begann der Anwalt mit einer Art Lebensbeichte.
»Weißt du, Toni, ich bin im Grunde genommen ein ganz armes Schwein«, die Zunge von Alberto lag ihm bereits etwas schwer im Mund, zeigte den erhöhten Alkoholpegel nach dem dritten Scotch an, »ich hab mich mit Anteilen an den verdammten Madoff Fonds völlig verzockt. Mein ganzes Vermögen ist dabei draufgegangen. Und noch viel mehr.«
Scapia klopfte sanft auf die Schulter seiner Zielperson, zeigte ihm so seine Anteilnahme.
»Ja, Madoff hat viele Menschen übers Ohr gehauen. Auch ich habe mehr als zweihunderttausend Dollar verloren. Wie schlimm ist es denn bei dir?«
»Grässlich. Ich sag’s dir ganz ehrlich, Toni. Im Grunde genommen bin ich längst bankrott und schlag mich bloß noch von Monat zu Monat mehr schlecht als recht durch.«
»Und trotzdem pokerst du weiter?«
»Ach, die paar Kröten jeden Abend spielen längst keine Rolle mehr. Mir sitzen ein paar Kredithaie aus Vegas im Nacken. Wenn ich nicht bald eine größere Summe herüberschiebe, bin ich fällig.«
»Wie viel brauchst du denn?«
»Sofort? Achthunderttausend. Das würde mich das nächste Vierteljahr über Wasser halten.«
»Und insgesamt?«
Alberto Valandera stierte sinnend auf das zu einem Drittel gefüllte vierte Glas mit bestem schottischem Whiskey.
»Noch einmal zwei Millionen«, gestand er seinem Drink.
Toni legte mitfühlend den Arm um die Schultern seines Opfers.
»Das ist aber mächtig viel Heu.«
Valandera nickte traurig, führte dann eher ruckartig als energisch die Hand mit dem Glas zu Mund, nahm einen kräftigen Schluck, ließ sie wieder auf die Theke zurückfallen. Dann wandte er sich Toni zu, rülpste laut und meinte: »Du sagst es.«
»Ich könnte dir vielleicht aus der Klemme helfen«, begann Toni das Netz dichter um sein Opfer zu spinnen.
Ein kurzer Funken voller Hoffnung zeigte sich in den Augen des leitenden Mitarbeiters der Anwaltskanzlei, verglühte jedoch sogleich wieder.
»Ach was. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ich könnte dir den Betrag eh nie mehr zurückzahlen. Ich verdiene weniger als zweihundertfünfzig Tausend im Jahr. Abzüglich der Steuern und der Hypothek fürs Haus bleiben mir davon bloß hundertzwanzig übrig. Zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben, sag ich dir. Ich bräuchte mehr als zwanzig Jahren, um meine Schulden abzustottern und dies ohne Zinsen. Dann wäre ich dreiundsechzig und hätte das letzte Drittel meines Lebens wie ein Hund zu leben. Nein, Toni, dieser Madoff hat mich erledigt.«
Wie viele andere Amerikaner hatte auch Alberto an der Börse gerne auf Sicherheit gesetzt. Die sehr regelmäßig im Kurs steigenden Werte der Madoff Fondsfamilie versprachen einen langfristig zuverlässigen Vermögenszuwachs. So investierte Toni nicht nur all sein verfügbares Geld, sondern sammelte zu niedrigen Zinsen zudem noch hohe Schulden an, um so den Geldsegen noch zu erhöhen. Das Platzen des Ponzi Systems von Madoff hatte ihn und viele weitere tausend Anleger finanziell ruiniert.
»Du könntest immer noch alle Brücken hinter dir abbrechen und irgendwo neu beginnen«, versuchte Toni ihm einen anderen Ausweg aufzuzeigen.
Alberto sah ihn aus stieren Augen an. Dann schüttelte er schwerfällig seinen Kopf.
»Aber Toni, ich bin doch Anwalt. Wie könnte ich mir eine neue Identität zulegen und gleichzeitig meinen Beruf weiterhin ausüben? Sobald ich mich an irgendeinem Gericht einschreiben ließe oder ein neuer Arbeitgeber mich überprüft, kriegen die mich doch sofort dran. Ich müsste mit etwas anderem beginnen. Und das kann und will ich nicht mehr.«
Toni Scapia überlegte sich, welcher nächste Schritt sein Opfer am ehesten in die von ihm gewünschte Richtung lenkte. Er wusste, er musste behutsam vorgehen. Sonst sprang ihm dieser Fisch wieder vom Haken.
»Komm, Alberto«, sagte er leise und eindringlich zu Valandera, »ich bring dich erst einmal zu dir nach Hause. Schlaf dich aus. Morgen Abend können wir weiter darüber reden und nach einer Lösung suchen.«
Scapia legte einen hundert Dollar Schein auf die Theke und stand vom Barhocker auf, fasste Valandera an den Oberarmen und zog ihn hoch. Widerstandslos ließ sich der Anwalt aus dem Kasino führen.
*
Die Hitze flimmerte in der schmalen Gasse, die von der Lerdo zur Ramón Corona führte. Ein alter Mexikaner ging sie langsam, fast schleppend und gefährlich schwankend entlang, musste sich immer wieder mit einer Hand an der brüchigen Fassade abstützen, um das Gleichgewicht zu halten. Vor einer schäbig wirkenden Haustüre blieb er pendelnd stehen, neigte sein Gesicht gegen die Sonne, schien sich zu konzentrieren.
Der ehemals braune Anstrich des Türblatts hatte sich größtenteils gelöst, hatte Wellen geworfen und war teilweise abgeblättert. Darunter trat mürbes, von der Sonne grau gebranntes Holz hervor.
Der Alte würgte plötzlich ruckartig, beugte sich heftig nach vorne und kotzte einen langen Schwall seines Mageninhalts klatschend auf den Asphalt vor der Türe. Ein zweiter, etwas kürzerer Auswurf folgte gleich darauf dem ersten. Danach wischte sich der alte Mexikaner mit dem Handrücken unbeholfen über den verschmierten Mund und murmelte ein »Madre mia«.
Der betrunkene Alte machte zwei torkelnde Schritte nach links, umging so den Teich aus Kotze. Da öffnete sich hinter ihm die schäbige Holztür und zwei junge, schlanke Männer in sportlichen Anzügen traten heraus, bedachten den Betrunkenen mit einem Haufen wüster Flüche und Beschimpfungen.
Mit drei langen Schritten hatten sie ihn eingeholt, packten ihn an seinem Hemd aus grobem Wollstoff und zerrten ihn zurück zur Türe. Klatschend landeten zwei Ohrfeigen in seinem Gesicht, dann wurde er auch noch kräftig durchgeschüttelt.
»Mierda de Cerdo, du verkommenes Schwein. Schau dir bloß die Scheiße hier an. Los, wisch das weg.«
Der Alte stand hilflos zwischen den beiden jungen Männern, wurde von diesen brutal zu Boden gedrückt und landete tapsig wie ein Tanzbär neben seiner eigenen Kotze auf Händen und Knien. Verstört blickte er hoch zu den Gesichtern der beiden, schien nicht zu verstehen, was sie eigentlich von ihm wollten. Seine Augen bettelten jedoch um Schonung und mit dünner Stimme meinte er »Bitte tun Sie mir nichts, apreciados Señores míos.«
»Du sollst die Kotze aufwischen, Borrachin. Mit deinen Händen.«
Mit schwankendem Oberkörper betrachtete der Betrunkene ohne Verständnis den unappetitlichen Inhalt aus seinem Magen, hob ergeben die Hände, nestelte dann doch sein Hemd aus dem Hosenbund hervor und begann unbeholfen, den Brei vom Asphalt zu schaben und in einer Hemdkuhle vor seinem Bauch zu sammeln.
Als das meiste Unverdaute aufgewischt war, ließen ihn die jungen Männer endlich aufstehen. Stöhnend kam der Alte hoch, schwankte danach unsicher davon, die tropfende Hemdkuhle mit beiden Händen umfasst, als hielte er einen kostbaren Schatz vor seinem Bauch. Das meckernde Lachen der jungen Männer folgte ihm.
*
Als der Air France Flug 444 in Rio de Janeiro aufsetzte, atmete Chufu Lederer befreit auf. Nicht dass er sich unwohl an Bord des Airbus 332 gefühlt hätte. Keineswegs. Als junger, gutaussehender Mann in der Business Klasse war er von den beiden hübschen Stewardessen geradezu verwöhnt worden. Auch kannte der junge Philippine keinerlei Flugangst. Sein befreites Aufatmen betraf vielmehr den seit Wochen herbeigesehnten Aufenthalt in Brasilien. Endlich hatte er die elterlichen Fesseln in der Schweiz abgeworfen und war wieder einmal auf sich allein gestellt, so wie früher als Waisenjunge und später als Schiffsjunge auf einem Tanker. Hier an der Copacabana würde er als freier Student ein oder auch zwei Semester verbringen, umschwärmt von Dutzenden braungebrannter, knackiger Mädchen. So jedenfalls stellte sich der junge Mann sein zukünftiges Leben vor.
Ende Woche begann bereits der Karneval, wohl die beste Zeit, um sexuelle Kontakte mit den herrlichsten Mädchen der Welt zu knüpfen, wie ihm einige seiner Mitschüler im Internat Le Rosey in Rolle immer wieder begeistert erzählt hatten. Als junger, gesunder Mann freute sich Chufu auf eine Zeit voller neuer, unbeschwerter sexueller Erfahrungen.
Seine Gastfamilie wartete vollzählig in der Ankunftshalle auf ihn, zeigten bei seinem Auftauchen ein breites Lachen, freuten sich über den Asiaten aus der Schweiz. Die Ferreiras hatten drei fast erwachsene Töchter und so fiel die Begrüßung erfreulich herzlich aus, mit vielen Küsschen auf viele weiche Mädchenwangen. Die hübscheste von ihnen, Ricarda, lehnte sich bei ihrer Begrüßung so stark an seinen Körper, dass Chufu ihre erregten Brustwarzen durch sein Hemd auf seiner Haut spüren konnte. Die Siebzehnjährige wurde jedoch sogleich von ihrem Vater unsanft am rechten Oberarm gepackt und zur Seite gezerrt, was sie mit einem ärgerlichen Ausruf und anschließendem Schmollmund in Richtung ihres Papas quittierte.
Ei, ei, ei, das kann ja heiter werden, dachte sich Chufu wenig respektvoll, als er in die nun verkniffenen Gesichter der Eltern Ana und Luís blickte, eine läufige Tochter und zwei strenge Zerberusse zu ihrer Bewachung.
*
Zwei Tage danach klingelte Toni Scapia vergeblich an der Türe der etwas außerhalb von Vegas gelegenen Villa von Alberto Valandera. Nachdem der Anwalt am ersten Abend nach ihrer Aussprache in der Bar nicht im MGM erschien und gestern über Tag auch nicht telefonisch in der Kanzlei erreichbar war, machte sich Scapia große Sorgen.
Toni drückte erneut auf den Knopf und wiederum erschallten die wuchtig-tragenden Glockenklänge von Big Ben durch das Innere des Hauses. Hinter der undurchsichtigen Glasfüllung der Türe zeichnete sich jedoch weiterhin weder ein näherkommender Schatten noch irgendeine andere Bewegung ab.
Toni Scapia ging um das Haus herum, gelangte so in den Garten. Er hoffte nicht vergebens, denn die Terrassentüre stand offen. Irgendwo musste auch noch ein Fenster geöffnet sein, denn die weiße Gardine wurde vom Wind immer wieder erfasst und weit nach draußen gedrückt.
»Alberto?«, rief Toni in das Innere des Hauses, hatte den Vorhang zur Seite gedrückt und sah in ein Wohnzimmer mit modernen Möbeln und abstrakten Bildern an den Wänden.
Keine Antwort.
»Alberto!«, wiederholte er lauter und zwingender.
Nichts.
Toni schritt über die Türschwelle und durch den großzügigen Raum hinüber in den Flur, rief dort abermals nach seinem Bekannten.
Etwas unschlüssig starrte er die Treppe hoch, die ins Obergeschoss führte, stieg dann die Stufen fast bedächtig nach oben, gleichermaßen getrieben und gehemmt durch dasselbe, unbestimmte, aber auf jeden Fall bange Unbehagen.
Er öffnete eine Türe nach der anderen, fand ein Gästezimmer, ein Klo, noch ein Gästezimmer und danach Alberto, tot auf seinem Bett liegend. Eine hässliche Wunde klaffte an seiner Schläfe. Neben seinem Kopf lag in seiner erschlafften, rechten Hand die großkalibrige Pistole.
Toni war erschüttert, konnte gleichzeitig seine Augen kaum vom schwarz umrandeten, dunkelrot-braunen Loch im Schädel des Toten nehmen, aus der nicht allzu viel Blut geflossen war. Er hockte sich neben Alberto auf die Matratze und betrachtete mit einem verloren wirkenden Blick den überschuldeten Anwalt, der im Selbstmord wohl den einzig gangbaren Weg für sich gesehen hatte.
Wie rasch doch ein Menschenleben enden konnte?
Man war beruflich erfolgreich, vielleicht sogar äußerst beliebt. Alles schien einem möglich. Die Welt stand einem offen. Und dann wurde man von einem betrügerischen Gernegroß in einen Abwärtsstrudel gerissen, aus dem man sich nicht mehr selbst befreien konnte. Frühere Freunde entpuppten sich plötzlich als eher lockere Bekannte, die einen lieber verleugneten als unterstützten. Immer mehr private Kontakte brachen weg. Man fühlte sich allein gelassen mit einem gänzlich wertlos gewordenen Leben.
Toni erblickte auf einem der Nachttische ein gerahmtes Foto mit Alberto und einer Frau darauf. Beide strahlten in die Kamera, standen auf einer Hochseejacht. Er hielt noch die mächtige Angelrute in seinen Händen. Am Haken hing ein Barrakuda. Es war wohl eine Szene aus glücklichen Tagen, eine Momentaufnahme des persönlichen Triumphs. Hatte ihn seine Freundin oder Frau nach dem finanziellen Absturz verlassen? Es musste wohl so sein. Wie sonst hätte sich Alberto fast jeden Abend im Kasino herumtreiben können?
Im Bericht der Detektei stand nichts über seine Familienverhältnisse. Doch die Pleite von Madoff lag mehr als ein Jahr zurück. Genügend Zeit für eine endgültige Trennung oder eine Scheidung.
Toni Scapia schüttelte seine trüben Gedanken ab, konzentrierte sich darauf, was als Nächstes zu tun war.
Hatte er irgendetwas im Haus berührt? Ja, die Türgriffe zu den Räumen hier oben. Mechanisch erhob er sich, strich mit der Hand den Abdruck seines Hinterns auf dem Laken glatt, ging hinaus auf den Flur, zog dort ein Taschentuch hervor und begann alle Fingerabdrücke von den Klinken abzuwischen. Zurück in seinem Hotel würde er auch seine Kleidung komplett auswechseln und die alte wegwerfen. Auch das Hotelzimmer würde er nun wechseln. Denn kein Polizist und schon gar kein Special Agent eines Geheimdienstes sollte eine Verbindung zwischen ihm und dem Haus von Alberto Valandera und damit zu Hecksmith & Born herstellen können.
Erst am späteren Nachmittag wurde Toni so richtig bewusst, dass ihm von seinen drei Zielpersonen gerade mal eine übrig geblieben war. Seine volle Aufmerksamkeit musste nun Caspar Jakes gelten. Hoffentlich überbrachte ihm die Detektei endlich nützliche Informationen über die eigentlichen Ziele des General-Managers der Kanzlei in Los Angeles und San Francisco.
*
»Dein Tipp mit dem Haus in der Quergasse war goldrichtig, Manuel«, berichtete Henry wenig später seinem mexikanischen Freund, während er sich mit den Fingerkuppen vorsichtig die dunklen Linsen vor seinen Pupillen entfernte, »ich hab ihnen vor die Tür gekotzt und kam danach kaum drei Schritte weit, schon waren zwei Bewaffnete draußen und hatten mich am Wickel. Eine Kamera konnte ich zwar nirgendwo entdecken, doch sie scheinen diese Türe oder auch die gesamte Gasse ständig zu überwachen.«
Manuel verzog sein Gesicht zu einem unglücklichen Lächeln.
»Du gehst zu große Risiken ein, Henry. Was wäre gewesen, wenn sie entdeckt hätten, dass du gar kein Mexikaner bist? Du hast dich zwar recht gut zurecht gemacht und das Bräunungsmittel tat ein Übriges. Doch du weißt genau, dass die Poren deiner Gesichtshaut viel zu fein für einen Einheimischen sind. Hätten sie dich genauer betrachtet, sie hätten bemerkt, dass du kein Mexikaner sein kannst. Zumindest hätten sie Verdacht geschöpft.«
Henry musste bei diesen mahnenden Worten breit lächeln.
»Wer schaut schon einem stinkenden Betrunkenen genau in sein mit Kotze verschmiertes Gesicht? Nein, nein, Manuel, meine Tarnung wäre nur aufgeflogen, wenn ich eine der Augenlinsen verloren hätte. Und dafür haben sie den alten Saufkopf nicht hart genug angefasst.«
»Und was willst du als Nächstes unternehmen? Auch wenn du dir nun sicher bist, wo du ansetzen kannst, so ist das WIE doch noch völlig offen?«
Manuels Fragen waren berechtigt. Wie sollte Henry jemals in die so scharf bewachte Höhle des Löwen vordringen, ohne entdeckt und getötet zu werden?
*
Der erste Tag an der Universidade Federal do Rio de Janeiro begann für Chufu Lederer mehr als harzig. Das Einschreibe-Prozedere am frühen Morgen verlief noch ohne Probleme für ihn, doch im ersten Hörsaal, wo Professor Alessandro Purrin Aspekte der Psychoanalyse lehrte, war der Andrang an Studenten so groß, dass für Chufu bloß noch ein unbequemer Platz auf einer Treppenstufe weit oben übrigblieb. Und im nächsten Vortragsaal rund zwei Stunden später war es sogar noch voller. Es blieb ihm und weiteren rund zwanzig Studenten keine Alternative. Sie mussten sich auf den Flur vor dem Hörsaal hinsetzen. Bei offener Türe versuchten sie, möglichst viel von dem mitzubekommen, was drinnen gesagt wurde. Den Rest mussten sie sich zusammenreimen, vor allem all das, was der Professor über den Beamer als Bilder und Grafiken an die Wand warf und kommentierte.
Frustriert saß Chufu später beim Mittagessen an einem der langen Tische, schaufelte das einfache, aber schmackhafte Einheitsmenü in sich hinein und überlegte, ob er nicht Alabima und Jules anrufen und seine Ausland-Studier-Übung heute noch abbrechen sollte.
Normalerweise gab Chufu zwar nicht so leicht auf. Jules hatte ihn, seitdem sie zusammenlebten, eigentlich ständig auf Ausdauer getrimmt. Nicht nur das körperliche Training dreimal die Woche mit einigen Elementen des Kampfsports, sondern auch seine geistige Beweglichkeit und vor allem den absoluten Durchhaltewillen wurden von seinem Adoptivvater immer wieder auf die Probe gestellt und gefördert. Chufu hatte seine unvollständige Schulbildung in wenigen Jahren auf Vordermann gebracht, die Matura in der Schweiz in Rekordzeit geschafft und sich für das Studium der Psychologie entschieden, was Alabima und Jules vollkommen unterstützten.
»Es kann nichts schaden, wenn du nicht nur instinktiv, sondern auch professionell hinter die aufgesetzten Fassaden anderer Menschen blicken kannst.«
Das waren die Worte von Jules, als er vom Studienwunsch von Chufu das erste Mal hörte. Und seine Eltern widersetzten sich auch nicht seiner Bitte, sich an der Universität in Rio de Janeiro einzuschreiben, auch wenn ihnen ein halbes Jahr recht kurz erschien, um Portugiesisch zu erlernen. Doch nun schienen alle seine Träume hier in Brasilien bereits geplatzt zu sein.
»Ist hier noch frei?«, ließ ihn eine helle, weibliche Stimme in seinem Rücken aus den dunklen Gedanken aufschrecken. Überrascht drehte er seinen Kopf und blickte in zwei schwarze Mandelaugen in einem runden, asiatischen Gesicht.
»Na... Natürlich«, stotterte er eine Zustimmung und rückte sein Tablett zum Zeichen seines Einverständnisses ein wenig zur Seite.
»Hallo, ich bin Mei Ling«, plapperte die junge Frau fröhlich drauflos, setzte ihr Tablett neben seinem ab und streckte ihm eine kleine, etwas fleischig runde Hand mit kurzen Fingern entgegen. Sie fühlte sich warm und weich an, drückte jedoch recht kräftig die seine.
»Ich heiße Chufu Lederer«, murmelte er, während sie sich auf den Stuhl neben ihn setzte.
»Bist du auch neu hier am Institudo de Psicologia?«, war ihr Anknüpfungspunkt für eine Unterhaltung.
»Ja, heute erster Tag«, gab Chufu etwas mundfaul zurück.
Die Chinesin besaß zwar ein freundliches, gewinnendes Wesen, doch ihr Vollmondgesicht und die etwas pummelige Figur entsprachen in keiner Weise seinem Geschmack bei Frauen. Überhaupt hatte er während dem gesamten Morgen noch kein einziges weibliches Wesen erblickt, das seiner Vorstellung von Brasilien auch nur im Geringsten nahekam. Vielleicht lagen vor allem darin seine Enttäuschung und der Grund für die so rasch aufgekommene Frustration. Denn Studieren ohne Spaß machte nirgendwo auf dieser Welt wirklich Freude.
»Du bist doch auch in der Vorlesung von Professor Purrin gewesen, oder?«, verriet die Chinesin den Grund, warum sie sich gerade neben ihn hatte setzen wollen.