Kitabı oku: «Retourkutsche», sayfa 5
Chufu nickte nur und stopfte sich die nächste Gabel mit Essen so vehement in den Mund, als wolle er sicher gehen, ja nicht antworten zu müssen.
»Aber du hast dich auf die Treppe gesetzt. Hast du denn keinen Espaçores?«
Chufu konnte zwar recht gut Portugiesisch, das Wort Espaçores hatte er jedoch noch nie gehört.
»Was ist ein Espaçores?«, fragte er darum zurück.
»Na, ein Platzhalter, einer, der dir den Sitzplatz freihält, bis du im Hörsaal eintriffst. Oder halten dich deine Eltern finanziell zu knapp, dass du dir keine leisten kannst?«
Chufus Gehirnwindungen schalteten rasch.
»Du meinst, man kann sich hier Leute mieten, die einem in den Hörsälen einen Sitzplatz freihalten?«
»Selbstverständlich«, kam ihre Klarstellung postwendend zurück, »jeder beschäftigt hier zwei oder drei Espaçores, wenn er sie sich leisten kann.«
»Und wie funktioniert das?«
»Espaçores sind Studenten aus ärmeren Familien. Sie verdienen sich ihr Studium, indem sie sich für Fächer einschreiben, für die sie sich gar nicht wirklich interessieren. Sie halten ihrem Auftraggeber stets einen Sitzplatz frei und bekommen dafür 200 Real pro Vortrag und Semester.«
»Und wie komme ich an meine eigenen Espaçores?«
»Das ist ganz einfach. Geh im Intranet der Uni auf die Seite mit den Arbeitsangeboten. Dort findest du haufenweise Studenten, die sich mit Nebenjobs ein wenig Geld hinzuverdienen möchten. Die Espaçores schreiben natürlich nicht direkt, dass sie für dich einen Sitzplatz freihalten wollen. Das würde die Uni unterbinden. Doch alle Espaçores führen in ihren Profilen nur die Lehrgänge auf, in denen sie sich angemeldet haben, die sie jedoch nicht wirklich interessieren und wo sie auch frühzeitig im Hörsaal sitzen können, um für dich einen Platz freizuhalten. Du kontaktierst also einfach diejenigen Studenten, die in ihrem Profil deine Studienreihe erwähnen. Der Rest ergibt sich dann von selbst und ist reine Verhandlungssache.«
Chufu blickte die Chinesin bewundernd an.
»Woher weißt du das alles, wenn du auch neu hier bist?«
Mei Ling lächelte verschmitzt.
»Ich bin die dritte in meiner Familie, die hier an der Uni studiert. Meine beiden älteren Schwestern haben mir einen ganzen Haufen an Tricks verraten, vor allem, wie man sich hier am besten durchschlägt.«
Chufu betrachtete die kontaktfreudige Mei Ling nun mit etwas anderen Augen. Ihr rundes Gesicht mit der wenig vorteilhaften Bubikopf-Kurzhaarfrisur konnte ihn weiterhin nicht begeistern. Doch Mei Ling besaß einen süßen, kleinen Mund mit frischen, rosafarbenen Lippen. Dieser Mund wies den gewissen Schwung auf, den Chufu mochte. Er versprach ein aufgewecktes Wesen mit hoher Intelligenz, aber auch einiges an Durchsetzungswillen und eine gehörige Portion an Humor und Selbstironie. Jedenfalls bildete sich Chufu all dies bei ihrem Anblick ein.
»Und welche Vorträge belegst du sonst noch?«, fragte er nun seinerseits die Chinesin interessiert und verriet ihr damit, dass er gerne mehr mit ihr gemeinsam hätte.
»Na, Pereira und Peres, und selbstverständlich auch Drummond, sowie Arruda.«
»Die ersten drei habe ich auch, doch statt Arruda habe ich Professor Freire«, gab Chufu zurück.
»Oh je. Professor Freire? Die Hummel?«
»Was heißt hier Hummel?«
»Na, Professor Freire wird von den Studierenden seit vielen Jahren bloß noch Die Hummel genannt, weil er so fleißig wie eine ist, aber so chaotisch auftritt. Hast du schon einmal beobachtet, wie eine Hummel durch eine Blütentraube rauscht, wie sie von Nektarquelle zu Nektarquelle hetzt und dabei rücksichtslos die kleineren Honigbienen wegstößt und verdrängt? Das ist Professor Freire wie er leibt und lebt. Ich rate dir, mach dir immer gleich zwei oder drei Kopien von deinen Arbeiten, denn der Professor ist dafür berüchtigt, viele von ihnen zu verlegen, zu verlieren oder sonst wie zum Verschwinden zu bringen.«
»Vier von fünf ist aber auch ganz gut«, sinnierte Chufu laut, »so können wir uns jeweils gegenseitig unterstützen, falls du magst.«
Mei Ling nickte, wobei sich ihr Mund spöttisch verzog. Das konnte alles und nichts bedeuten, denn Chufu hatte keinerlei Erfahrung mit Chinesinnen, konnte Mei Ling nicht wirklich einordnen. Im Internat in Rosey gingen zwar auch über ein Dutzend Mädchen aus dem Land des Roten Drachens zur Schule. Doch keine von ihnen gefiel ihm so gut, als dass er nähere Bekanntschaft geschlossen hätte. Mit großer Freude registrierte Chufu jedoch, dass sich Mei Ling beim Essen an die westliche Etikette hielt und weder schmatzte noch mit offenem Mund kaute oder gar genüsslich rülpste und spuckte.
»Und woher kommst du so?«, fragte er sie neugierig.
»Mein Großvater ist vor mehr als fünfzig Jahren als junger Mann nach Brasilien ausgewandert. Er machte hier eine richtige Tellerwäscher-Karriere, wortwörtlich gemeint. Irgendwann konnte er sich mit einem eigenen kantonesischen Restaurant selbständig machen. Mein Vater hat daraus in den letzten zwanzig Jahren eine kleine Kette aufgebaut, besitzt heute ein gutes Dutzend Lokale in und um Rio. Und woher stammst du?«
»Ich bin auf den Philippinen geboren und von meiner Mutter direkt in einem Waisenhaus abgegeben worden. Ich kenne sie deshalb ebenso wenig, wie meinen leiblichen Vater. Mit vierzehn Jahren büchste ich dort allerdings aus und fuhr dann als Schiffsjunge zur See. Mit fünfzehn traf ich auf meinen heutigen Adoptivvater, auf Jules. Er hat mich zusammen mit seiner Partnerin Alabima adoptiert. Seither lebe ich vor allem in der Schweiz und kam nun als Student hierher nach Rio.«
»Alabima?«, plapperte die Chinesin munter drauflos, »ein echt ungewöhnlicher Name.«
»Ja, meine Mutter ist eine Oromo, eine Äthiopierin.«
»Dein Vater ist also weiß, deine Mutter schwarz und du bist gelb?«, stellte Mei Ling mehr fest, als dass sie ihn danach fragte, wobei sie verschmitzt lächelte.
»Genau. Wir sind weniger eine Patchwork-Familie als vielmehr ein richtiger Fleckenteppich.«
Mei Ling lachte schallend auf und Chufu grinste breit. Es schienen sich zwei Seelen gefunden zu haben.
Die Mittagspause ging leider allzu rasch zu Ende. Chufu begleitete Mei Ling zwar noch bis zum nächsten Hörsaal, wo ihr Espaçores bereits ungeduldig auf sie wartete, boxte ihr auch einen Weg durch die belagerte Eingangstüre frei, doch statt sich anschließend wiederum im Flur mit den anderen hinzusetzen, beschloss der junge Philippine, die nächsten zwei Stunden lieber für die Suche im Intranet nach ein paar persönlichen Platzhaltern zu nutzen.
*
Jules traf vier Tage nach dem Anruf von Henry in Juárez ein. Sein britischer Freund hatte ihm mitgeteilt, dass er mit den Verhandlungen nicht weiterkäme und dringende Unterstützung bräuchte, um vielleicht doch noch einen Durchbruch zu erzielen.
Sie trafen sich im Lokal von Manuel und setzten sich nach der Begrüßung mit dem ehemaligen Polizeipräfekten an einen Tisch. Vorsorglich hatte Manuel an diesem Morgen seiner Küchenhilfe frei gegeben, würde sein Café an diesem Mittag gar nicht öffnen.
Zu Anfang hatte Jules seinen alten Freund Henry nicht einmal auf Anhieb erkannt, denn der fühlte sich in seiner neuen Rolle als alter Mexikaner pudelwohl. Aus seiner sonst straffen Körperhaltung war ein leichter Buckel geworden, Bewegungen führte er matt und langsam aus, vermied dabei jeden unnötigen Handgriff. Hinzu kamen die sehr dunkle Hautfarbe und das pechschwarze Haar, sowie eine Plastikeinlage in seinem Mundraum, die seine Backen etwas blähte und seinem Gesicht ein rundlicheres Aussehen verlieh.
Manuel brachte drei hohe Tassen gefüllt mit schwarzem Kaffee an den Tisch. Die beiden Europäer rührten sich vorsorglich ein paar Löffel Zucker hinein, bevor sie vorsichtig kosteten und dann zufrieden lächelten.
»Und wie stehen die Aktien?«, eröffnet Jules den Reigen.
Henry hatte dem Schweizer von Manuel und seinem Café in Juárez als seine erste Anlaufstelle in Mexiko bereits vor seiner Abreise erzählt. Denn eine der wichtigsten Grundsätze bei gefährlichen Einsätzen lautete, dass die Partner jeden Schritt im Voraus kannten und auf diese Weise auch mitdenken und im Fall der Fälle auch unverzüglich Hilfe leisten konnten.
»Manuel hat für uns das Hauptquartier des wohl gewichtigsten Drogenkartells hier in Juárez ausfindig gemacht. Ich habe den Ort vor ein paar Tagen überprüft. Die reagieren dort nervös, was zumindest zweierlei beweist. Sie bewachen das Gebäude äußerst scharf und sie haben darin wohl auch Einiges zu verbergen.«
»Können wir dort heimlich eindringen?«
Der Kopf von Manuel schüttelte sogleich ein Nein.
»Über einen Freund in der Stadtverwaltung habe ich uns die Baupläne aller Häuser in dieser Gasse besorgt. Doch es scheint, als ob man in den letzten zwei Jahren einige bauliche Veränderungen ohne Bewilligung und damit ohne offizielle Planunterlagen durchgeführt hat. Ein heimliches Eindringen wäre nicht nur schwierig, sondern mehr als gefährlich.«
»Vielleicht können wir jemanden bestechen?«
»Das Haus und die Gebäude daneben lassen wir seit ein paar Tagen überwachen und die ein- und ausgehenden Leute bis nach Hause verfolgen. Wir haben auf diese Weise zehn Mitarbeitende herausgefiltert, die sich täglich für einige Stunden dort aufhalten. Sechs davon sind bekannte Schlägertypen und wohl für die Bewachung und den Schutz zuständig. Die vier anderen dürften normale Büroangestellte sein. Es sind jedenfalls Leute, die polizeilich nicht registriert sind und mit ihren Familien in kleinen Mietwohnungen leben. Der Eigentümer des Hauses ist ein großer Baulöwe hier in Juárez.«
»Hat er das Gebäude vermietet oder gehört er zum Kartell?«
»Das ließ sich bisher nicht feststellen. Pancho Rosales, so heißt der Mann, hat sich jedenfalls die letzten Tage kein einziges Mal dort blicken lassen. Überhaupt konnten wir bislang noch kein einziges prominentes Gesicht aus der bekannten Drogenszene dort entdeckt. Es herrscht zwar ein reges Kommen und Gehen, doch es scheint eher ein Sammelplatz kleiner Ganoven, Informanten und Befehlsempfängern zu sein.«
»In Zeiten des Internets brauchen sich Bosse nicht mehr persönlich in ihren Hauptquartieren blicken zu lassen«, sinnierte Jules laut, »können wir einen der Angestellten vielleicht schmieren? Oder erpressen?«
Henry und Manuel schüttelten gleichzeitig ihren Kopf.
»Von diesem Versuch würde ich dringend abraten. Denn damit würden wir nicht nur ihn, sondern auch alle seine Angehörigen in unmittelbare Gefahr bringen. Es gibt hier in Juárez immer wieder Fälle von Massenexekutionen ganzer Familien. Sobald die Drogenbosse an einen Verrat glauben, lassen sie sämtliche Menschen im Umfeld des möglichen Abtrünnigen töten. Falls uns also eine Bestechung gelänge, wären wir später vielleicht für den Tod einer großen Zahl von völlig Unschuldigen verantwortlich.«
»Also müssen wir persönlich ins Gebäude einsteigen. Vielleicht am besten am späten Abend oder in der Nacht, wenn nur noch die Wächter dort sind«, stellte Jules fest und wirkte dabei grimmig entschlossen.
»Oder ihr macht es am nächsten Sonntag, wenn alle das Fest zu Ehren der heiligen Jungfrau Maria feiern«, meinte Manuel trocken.
Henry und Jules sahen sich vielsagend an.
»Erzähl uns mehr darüber, Manuel.«
*
Es war eine eindrückliche Prozession, die sich an diesem frühen Sonntagnachmittag langsam durch die Straßen der fünftgrößten Stadt Mexikos zog. Zehntausende von Menschen säumten die Straßen. Ganz Juárez schien auf den Beinen zu sein, um der heiligen Mutter Gottes zu huldigen und ihren Segen zu erbitten. Sechs Priester trugen die fast zwei Meter große Marienfigur auf einem Gestell auf ihren Schultern. Sie musste sehr schwer sein, denn die Träger wurden durch andere Männer alle paar Meter reihum abgelöst. Hinter ihnen schritt eine Heerschar von Kirchenleuten, Ministranten und Offiziellen der Stadt. Sie alle trugen Blumensträuße in den Händen, wirkten gefasst, aber auch sehr fröhlich.
Henry und Jules waren als mexikanische Trunkenbolde unterwegs. Sie befanden sich an diesem Tag allerdings in guter Gesellschaft, denn der hohe Festtag war für manch anderen ebenso Anlass genug, sich schon vor dem Mittagessen mehrere Gläser Mezcal zu gönnen. Schwankend bogen Henry und Jules in die schmale Gasse zum Hauptquartier des Juárez Kartells ein, hatten sich ihre Arme gegenseitig eingehakt und grölten ein mexikanisches Volkslied. Neben der schlichten Eingangstüre mit der abblätternden Farbe blieben sie stehen. Jules drehte sich rülpsend zur Hauswand hin, zog den Saum seiner Baumwollhose etwas nach unten und schon bald plätscherte ein fröhlicher Strahl gegen den schmutzigen Verputz. Es dauerte keine zehn Sekunden, da sprang die Türe auf und zwei bullige Mexikaner stürmten heraus, schwangen ihre Fäuste und übergossen die beiden Trunkenbolde in der Gasse mit derben Flüchen. Henry drehte sich ohne Hast zu ihnen um, wirkte dabei völlig nüchtern. In seinen Händen hielt er zwei Tazer, löste sie auch ohne zu zögern aus, worauf die kleinen Pfeile mit den Kabeln auf die beiden Wachposten zu schossen, sich durch die Kleidung in ihre Haut bohrten und die ersten Stromwellen durch ihre Körper zucken ließen. Im selben Moment spurtete Jules auch schon los, umrundete die beiden zitternden und auf den Boden fallenden Mexikaner, ohne sich um sie zu kümmern, war auch schon durch die Eingangstüre in das Innere des Hauses verschwunden. Hinter einer Theke saß ein dritter Mann, der die Szene vor dem Haus auf einem Monitor fassungslos beobachtet hatte und eben dabei war, aufzuspringen, um vielleicht auch nach draußen zu stürmen. Jules erreichte ihn mit zwei Sprüngen, noch bevor der Mann seine Waffe aus dem Schulterholster ziehen und in Anschlag bringen konnte. Er setzte den Mann mit einem Ura-Zuki und einem anschließendem Kagi-Zuki außer Gefecht.
Jules wirbelte herum. Seine Augen schienen überall zu sein. Gleichzeitig lauschte er angespannt. Im Haus rührte sich nichts. So stürmte der Schweizer auch schon wieder hinaus in die Gasse, packte wie Henry einen der beiden bewusstlosen Wächter unter den Schultern und zog ihn in den Flur, warf die Eingangstüre hinter sich zu.
Die beiden Europäer schnauften nach diesem explosionsartigen Kraftakt, sahen sich mit triumphierend blitzenden Augen an. Henry setzte sich hinter die Theke und kontrollierte über die installierten Bildschirme, ob sich in der Gasse draußen irgendetwas regte. Jules wandte sich den unteren Räumen zu, ging den Flur entlang und spähte in jedes Zimmer hinein.
Die Ablage in der kleinen Küche war mit schmutzigem Geschirr vollgestellt, das anschließende Bad roch muffig, danach folgte ein Raum mit einer Sitzgruppe, wohl der bevorzugte Aufenthaltsort für die Wachleute. Rasch kehrte er zurück zu Henry und gemeinsam verschnürten sie mit den mitgebrachten Textilklebebändern die drei bewusstlosen Männer, vergaßen auch nicht, sie sorgfältig zu knebeln. Danach gingen sie recht sorglos die Treppe hoch ins Obergeschoss.
»Noch drei Minuten«, sagte Jules nach einem Blick auf seine Armbanduhr zu Henry, denn sie hatten zuvor vereinbart, sich nicht länger als fünf Minuten im Gebäude aufzuhalten.
Oben betrat jeder von ihnen einen anderen Raum und sie begannen mit der Durchsuchung nach interessanten Akten oder Belegen. Rasch fanden sie heraus, dass die Personal Computer mittels Netzwerk mit einem Server verbunden waren. Jules fand ihn in einem der Nebenräume, schraubte ihn auf und entnahm die vier Festplatten, ließ sie in einem mitgebrachten Leinenbeutel verschwinden.
Einen stählernen, fast mannshohen Tresor ließen die beiden Männer unbeachtet. Es hätte viel zu lange gedauert, sein Schloss oder seine Panzerung zu knacken. Stattdessen wandten sie sich den vielen Schränken und Schubladen zu, rissen sie auf, wühlten darin herum und packten zusammen, was ihnen von Interesse schien. Auch Henry hatte einen Beutel dabei, der sich rasch füllte.
»Noch eine Minute, Abmarsch«, rief Jules laut, worauf sich Henry sogleich zu ihm gesellte. Gemeinsam knüllten sie irgendwelches Papier zusammen, warfen es auf einen Haufen. Darüber legten sie weiteres, brennbares Material, zwei Bürostühle, Aktenordner, einen wollenen Teppich. Jules zündete ein Streichholz an. Rasch züngelten Flammen empor, leckten nach den Sitzflächen der Stühle, die auch schon zu qualmen begannen.
Ohne Eile gingen die beiden Europäer die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Die drei Geknebelten waren mittlerweile erwacht und blickten ängstlich zu ihnen hoch. Jules holte ein Teppichmesser aus seiner Hosentasche und durchschnitt bei allen dreien die Klebebänder an den Fußgelenken. Die Wachposten taumelten mit ihrer Hilfe hoch und wurden von Henry und Jules widerstandslos nach draußen und auf die Gasse dirigiert. Hinter den Fenstern im Obergeschoss loderte bereits ein Flammenmeer. Eines davon stand offen und dichter, schwarzer Rauch quoll aus ihm heraus und in den Himmel empor. In der Ferne ertönte näherkommender Lärm einer Sirene. Ein aufmerksamer Nachbar hatte wohl bereits die Feuerwehr alarmiert.
Henry und Jules ließen die drei Mexikaner einfach stehen und machten sich mit ihrer Beute davon. Und während sie an der Mündung der Gasse zur Lerdo aus dem Blickfeld der Wachleute verschwanden, versuchten die drei immer noch, mit ihren Zähnen das Klebeband um ihre Handgelenke durchzunagen.
*
Auf ihrem Rückweg zum Café von Rodrigez betraten Henry und Jules ein recht nahe gelegenes, modernes Wohnhaus, in dem ihnen Manuel ein Appartement angemietet hatte. Sie zogen ihre Baumwollsachen und die Sandalen aus, schminkten sich ab und verwandelten sich zurück in europäische Weiße. Dazu gehörten sportliche Anzüge und polierte, schwarze Lackschuhe. Sie packten die gestohlenen Unterlagen in zwei Aktenkoffer und verließen das Haus wenig später in einem gemieteten schwarzen Mercedes mit amerikanischen Kennzeichen über die Ausfahrt der Tiefgarage.
Sie fuhren über die Good Neighbor International Bridge zurück in die USA. Die Zollbeamten prüften ihre Ausweise sehr genau, denn die beiden Europäer sahen mit ihren tiefschwarz gefärbten Haaren doch recht verändert zu den Abbildungen aus. Doch die Kontrolle der Passnummern über den Computer förderte nichts Negatives über die beiden an den Tag und so wurden sie durchgewunken.
Sie hatten sich am Tag zuvor ein Zimmer im Plaza Hotel genommen. Dort schlüpften sie erst einmal in bequeme Freizeitkleidung. Erst danach begannen die beiden, den Inhalt der beiden Aktenkoffer zu sichten.
Die vier Festplatten legten sie erst einmal beiseite. Ihr Inhalt war mit Sicherheit mit Passwörtern geschützt, eventuell sogar vollständig verschlüsselt. Ihnen sollte sich in den kommenden Wochen ein vertrauenswürdiger Spezialist in London widmen.
Die gestohlenen Papiere zeigten ihnen ein weites Feld verschiedenster Aktivitäten. Doch erst auf den zweiten Blick trat auch Verdächtiges ins Auge. Jules und Henry fanden Quittungen und Bankauszüge von fünf verschiedenen in Juárez ansässigen Firmen, einem Warenhaus, drei Restaurants und einer Wäscherei. Sie stellten sich gegenseitig Rechnungen aus, wohl zum Zweck der Geldwäsche beziehungsweise deren Vorbereitung. Von den Beträgen und Zeitpunkten her schien es, dass die Gelder ausschließlich von den drei Restaurants über die Wäscherei an das Warenhaus verschoben wurden.
Die mexikanische Steuerfahndung hätte bestimmt Freude an diesen Dokumenten bekundet. Für die Zwecke von Jules und Henry waren sie jedoch völlig wertlos, zeigten sie doch keinerlei Verbindungen hinüber in die USA. Höchsten die Bankverbindungen konnten ihnen unter Umständen nützliche Informationen liefern. Sie lauteten auf eine Filiale der früheren Wachovia Bank in El Paso. Die 1879 gegründete Bank verlor ihre Selbständigkeit im Zuge der Finanzkrise und wurde vor etwas über einem Jahr von Wells Fargo übernommen.
»Vielleicht können wir die Eigentümer der Firmen ermitteln und sehen dann etwas klarer«, meinte Henry aufmunternd.
»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, entgegnete Jules ein wenig frustriert, »doch was haben wir von unserem Sonntagsspaziergang auch anderes erwarten können? Die Vielfalt an Indizien zeigt uns zwar, dass es sich um eine recht große Organisation handeln muss. So gesehen passt sie in unser Beuteschema. Doch wir stehen immer noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Schau dir das hier an«, und damit pflückte er aus den Schriftstücken vor sich eines heraus und hielt es Henry vor die Nase. Auf dem Papier waren von Hand fünf Namen und daneben Beträge notiert.
»Bestechungsgelder?«
»Könnte durchaus stimmen. Wir werden die Liste erst einmal Manuel zeigen. Wer weiß, vielleicht kennt er einige der Leute?«
»Dann war unser Überfall ein Schlag ins Wasser?«
»Das werden wir erst wissen, wenn die Festplatten geknackt und ihre Inhalte analysiert sind. Bis dahin bleibt uns erst einmal wohl nur Manuel mit seinem Wissen und seinen Verbindungen.«
Sie verließen das Hotel zu Fuß, nahmen sich jedoch ein Taxi bis zum Grenzübergang Paso del Norte, gingen zu Fuß und als gewöhnliche Tagestouristen über die Brücke und suchten das Lokal von Manuel auf. Bei ihrem Eintreffen war das Café recht gut besetzt. Mexikanische Familien genossen Kuchen oder Eis, Limonade oder Kaffee, ließen den feierlichen Sonntagnachmittag gemütlich ausklingen. Henry und Jules setzten sich an einen Tisch nahe der Theke und wurden von Manuel erst einmal wie gewöhnliche Gäste mit Kaffee und Torte bewirtet.
Es dauerte über eine Stunde, bis endlich die letzten Einheimischen gegangen waren und sich die drei ungestört unterhalten konnten.
»Und? Hat’s funktioniert?«, die Stimme des ehemaligen Polizeipräfekten verriet neugierige Ungeduld.
Jules zog das Papier mit den fünf Namen und Beträgen aus der Jackeninnentasche und legte es ausgebreitet vor Manuel hin.
Der stierte auf das Blatt und pfiff dann leise durch die Zähne. Dann deutete er auf den ersten Namen, hinter dem ein Betrag von 5’000 Dollar stand.
»Emanuel Hernandoz ist der stellvertretende Bürgermeister von Juárez. Und das hier«, er deutete auf den zweiten Namen der Liste, Oswald della Padrosa, »ist der Polizeikommandant im dritten Revier. Bei den beiden nächsten bin ich mir nicht sicher, doch es könnten zwei Abgeordnete des Stadtrates sein. Doch ihre Namen sind recht häufig in und um Juárez. Dieser Fünfte hier jedoch, Rosaro Alamandera, der mit den siebzigtausend Dollar, den kenne ich nicht.«
»Und was sagt dir die Höhe der Beträge? Kannst du daraus irgendwelche Rückschlüsse ziehen?«, wollte Henry von ihm wissen.
»Fünftausend oder zehntausend Dollar könnte das Geld für kleinere Gefälligkeiten sein, zum Beispiel eine verratene Polizeirazzia in einem Bordell oder das Durchwinken einer mittelgroßen Menge an Drogen am Zoll.«
»Und siebzigtausend?«
»Der Auftragsmord an einem hohen Politiker?«, mutmaßte Manuel laut, »doch für siebzig Tausend Dollar kannst du hier in Mexiko auch über zwei Tonnen Marihuana kaufen.«
»Dann könnte dieser Rosaro Alamandera ein Drogenanbauer für das Juárez-Kartell sein?«
»Nein, nein. Der Einkaufspreis im Landesinneren beträgt keine sechstausend Dollar pro Tonne. Doch hier in Juárez, direkt an der Grenze, müsste man als amerikanischer Importeur bereits fünfunddreißig bezahlen, um es danach auf eigenes Risiko über die Grenze zu schaffen, wo es anschließend zum fünffachen Preis auf den Straßen verkauft wird.«
»Wofür könnte das S hinter der Zahl stehen?«
»S? Vielleicht für Soborno?«
Die drei blickten sich an.
»Das würde dann aber bedeuten...?«, begann Henry und Jules nahm ihm das Wort aus dem Mund, »... ja, genau das würde es bedeuten.«
*
Chufu hatte sich nach zwei Wochen gut eingelebt. Ricarda, die fast erwachsene Tochter der Ferreiras, brachte ihn zwar immer wieder ins Schwitzen, denn schon zweimal traf er sie splitternackt in seinem Bett an, als er abends auf sein Zimmer ging. Nicht etwa, dass Chufu ein Kostverächter gewesen wäre und das Mädchen war mehr als nur hübsch. Doch er wollte unter keinen Umständen einen Familienkrach verursachen. Denn ein kurzes Abenteuer mit der kessen Tochter konnte seine sofortige Rückkehr in die Schweiz erzwingen. Also zeigte er der Kleinen die kalte Schulter und schlief beide Male im Wohnzimmer auf dem Sofa. Ricarda rächte sich jedoch an ihm und beschuldigte ihn bei ihren Eltern, er sei ihr gegenüber zudringlich geworden. Doch Ana und Luís kannten ihr kleines Biest viel zu gut und glaubten den ehrlichen Beteuerungen des jungen Philippinen. So war mittlerweile auf dieser Front eine Art von Waffenstillstand eingetreten.
Mit Mei Ling verstand sich Chufu dagegen prächtig. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Sie war intelligent und ihm in Diskussionen auf jedem Gebiet ebenbürtig. Dazu besaß sie eine ganze Menge an Sarkasmus und Schalk. Was für eine explosive Mischung.
Bald einmal verbrachten die beiden den größten Teil ihrer Freizeit zusammen, besuchten den Zuckerhut und die Copacabana, wo Chufu zwar endlich die brasilianischen Schönheiten in ihren knappen Tangas und den aufregenden Kurven bewundern konnte, diese Mädchen aber gleichzeitig mit der geistreichen Chinesin verglich, die ihre üppige Körperform mit gut zehnmal so viel Stoff und mit einem altmodisch wirkenden Bikini zusammenhielt.
Chufu war ein sportlicher junger Mann, besaß einen durchtrainierten Waschbrettbauch und für einen Asiaten eine wohl ausgeprägte Arm- und Beinmuskulatur. Er war hochgewachsen, über eins achtzig und bewegte sich mit der natürlichen Kraft eines jungen Bullen. Mehr als eine der Schönheiten am Strand warf ihm lockende Blicke zu, worauf ihn Mei Ling jeweils spöttisch musterte und sichtlich auf seine Reaktion wartete. Ja, die Chinesin begann damit, ihn immer öfters zu necken und aufzuziehen.
»Wäre die nicht was für deine Lenden?«, begann sie gerne eine ihrer Attacken auf sein Selbstbewusstsein.
»Welche meinst du?«
»Na, die sehr Dunkelhäutige dort, die mit den drei rosa Schuhbändel, die sie statt einem Bikini trägt. Ich meine den Hungerhaken mit der mehr als reichlich gestopften Oberweite und den Fett-abgesaugten Oberschenkeln.«
Auch wenn Mei Ling die abwertende Beschreibung der jungen Frau recht selbstsicher vortrug und bestimmt auch so meinte, hörte Chufu doch auch einen fremden Beiklang aus ihrer Stimme heraus. Keine Frau der Welt bezeichnete sich selbst als schön und ihre eigenen Vergleiche mit anderen Frauen fielen meist zu ihren Ungunsten aus, vor allem an einem solchen Sandstrand, an dem sich die Schönen der Stadt in aller Pracht präsentierten und nach männlicher Beute Ausschau hielten.
Chufu drehte sich zu Mei Ling um und legte seine rechte Hand freundschaftlich auf ihren linken Oberschenkel.
»Äußere Schönheit ist nicht alles«, stellte er trocken fest und versuchte dabei, seiner Stimme Überlegenheit zu verleihen.
»Aber die männlichen Hormone kommen durch sie doch ganz schön in Wallung«, gab sie spitz zurück.
Chufu sah der Chinesin erst in die Augen, dann wanderte sein Blick an ihrem sinnlichen Mund vorbei auf ihren etwas zu kurz geratenen Hals, der zudem ausgesprochen fleischig wirkte. Sein Blick fiel auf ihren nicht allzu großen Busen, der vom Badeoberteil flach auf ihre Brust gedrückt wurde. Mei Ling besaß einen süßen Bauchnabel, wie Chufu schon bei ihrem ersten Strandbesuch festgestellt hatte. Er war klein, nicht allzu tief und sah irgendwie knuddelig aus, wie er sich eingestand.
Seine Hand ruhte immer noch auf dem von der Sonne heißen Schenkel der Studentin. Chufu bemerkte, dass sich ihre Bauchmuskeln unter seiner Berührung angespannt hatten und die Bauchdecke nun kurz erzitterten. Bei diesem Anblick überkam ihn auf einmal eine ungeheure sexuelle Erregung und er spürte, wie sich sein Glied augenblicklich unter seiner Badehose zu versteifen begann.
War das möglich?
Die Chinesin entsprach doch nicht seinem Bild einer Sexpartnerin. Sie war doch bloß eine Kollegin, eher noch ein guter Kumpel, geeignet zum Pferde stehlen und zum gemeinsamen Studium. Die pummelige Mei Ling mit den strammen Schenkeln und einem übermäßig breiten Becken konnte ihn doch unmöglich sexuell stimulieren?
Chufu wusste zwar, dass je älter Männer wurden, umso eher begehrten sie Frauen mit etwas dran, wie man im Volksmund sagte. Doch er war jung, noch keine zwanzig. Was wollte er mit einer alles andere als schlanken Chinesin ohne viel Busen und einem eher dicken Hintern? War das nicht wider die Natur?
Trotz diesen Gedanken spürte er den Druck unter seiner Hose weiter anwachsen und war froh, dass er sein Badetuch locker um die Hüfte geschlungen trug. Als er wieder in Mei Lings Augen blickte, erkannte er darin eine gespannte und irgendwie auch hoffnungsvolle Erwartung. Vielleicht nach mehr? Oder machte sie sich bloß einmal mehr lustig über ihn?
Rasch zog er seine Hand von ihrem Schenkel weg und drehte sich wieder in Richtung Strand um. Möglichst sachlich und ohne Betonung fragte er die Studentin dann: »Gehen wir heute Abend in den Klub?«
Damit meinte er das Nuth, die derzeit angesagteste Diskothek in Rio.
»Wenn du willst?«, gab die Chinesin mit ebenso neutraler Stimme zurück. Chufu glaubte allerdings, darin eine Spur von Enttäuschung herauszuhören. Sie stierten nun beide ohne großes Interesse auf die anderen Halbnackten am Strand, die sich mit Ballspielen und Sonnenbädern den späten Nachmittag totschlugen, hingen irgendwelchen Gedanken nach. Und so schwiegen sie beide eine lange Zeit, empfanden vielleicht dasselbe Gefühl, so als wenn ihre bislang so ausgelassene und unbekümmerte Freundschaft auf einmal durch eine hohe Mauer blockiert war.
Als seine Erektion endlich abgeklungen war, bot Chufu ihr an, ein Eis im Strandlokal zu besorgen. Mei Ling lehnte mit den Worten, »Nein danke. Sonst werde ich nur noch fetter«, recht schroff ab, worauf der Philippine einen heftigen Kloß in seinem Hals verspürte und gleichzeitig fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er antwortete nichts darauf.