Kitabı oku: «Hinter verborgenen Pfaden», sayfa 7
»Und wenn wir auch alle sterben?«, fragte Josua.
»Josua!«, schimpfte Philip, aber Phine lächelte nachsichtig.
»Nein«, sagte sie. »Ihr werdet nicht sterben. Keiner von euch sieben.«
»Sieben?!«, flüsterte Philip, aber seine Mutter antwortete nicht, sondern sah ihn nur mit einem versonnenen Gesichtsausdruck an. Sie ist wieder schwanger, dachte er erschrocken. Noch ein Bruder!
»Aber wir können doch nicht alle Schmied werden!«, rief Josua.
»Nein, das sollt ihr auch nicht. Philip wird kein Schmied. Und ihr anderen werdet euren Platz im Leben noch finden, auch du Josua.« Sie drückte ihrem ungläubig dreinschauenden Sohn einen Kuss auf die Stirn.
Einen Platz im Leben finden, dachte Philip, war leichter gesagt als getan. Natürlich wäre durch ein Studium im Monastirium Wilhelmus diese Frage erst einmal aufgeschoben, und danach boten sich ihm ganz andere Möglichkeiten, aber plötzlich verspürte Philip überhaupt nicht mehr den Wunsch, von zu Hause wegzugehen. Um in Wilhelmus zu studieren, musste er in spätestens vier bis fünf Wochen aufbrechen. Das konnte er sich im Moment am allerwenigsten vorstellen. Er wollte Waldoria und seine Familie nicht verlassen. Gerade jetzt brauchten sie ihn doch mehr denn je. Jar’jana und ihr Kind mussten wieder in den Wald gebracht werden, und wenn Mutter wieder schwanger war …
»Worüber denkst du nach?«, fragte Phine, als sie alleine waren.
»Ach«, versuchte er abzuwehren, aber unter dem aufmerksamen Blick seiner Mutter fiel ihm keine Ausrede ein, die nicht wie eine Lüge geklungen hätte.
»Ich dachte an das Monastirium, und ob es nicht besser wäre, hier zu bleiben«, antwortete er deshalb ehrlich.
»Du musst noch so viel lernen, und dort wärst du wirklich ungestört und könntest endlich all das lesen, was dir wichtig ist.«
»Und was wird dann aus euch?«, fragte er.
Phine lachte. »Du hältst dich wohl für unentbehrlich.«
»Nein«, sagte er beschämt und entschlossen zugleich. »Aber jetzt haben wir Elben im Haus, und ihr braucht mich.«
»Davon kannst du deine Zukunft nicht abhängig machen.«
»Mutter!«, rief Philip aufgebracht und warf das Hemdchen, das er gerade in der Hand hatte, ins Wasser.
»Du musst gehen«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Es hängt sehr viel davon ab!«
»Das ist immer noch meine Entscheidung«, erwiderte er trotzig. Ihn einfach wegschicken wie ein kleines, unmündiges Kind, das ließ er nicht mit sich machen. In zwei Monaten wurde er sechzehn – also erwachsen. Es war sein Leben, und er konnte damit tun und lassen, was er wollte. In seinem Trotz vergaß er, dass er sich noch vor einer Woche nichts mehr gewünscht hatte, als in diesem Sommer nach Süden zu ziehen, um sich unter die Studenten im Monastirium Wilhelmus zu mischen.
»Friede. Wir sprechen ein andermal darüber«, sagte Phine besänftigend.
Philip wollte aber im Moment keinen Frieden, er wollte Antworten auf all das, was ihm in den letzten beiden Tagen den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Doch seine Mutter war bereits wieder in die Küche gegangen.
Er hängte das letzte Hemdchen auf und ging dann auf den Dachboden, um zu lesen.
Seitenlang wurden die Schönheit und die Feinheit der elbischen Bauten beschrieben. Rituale und Gesänge wurden erklärt und wörtlich aufgeführt. Zum Teil jedoch nur in elbischer Sprache, so dass Philip überhaupt nichts verstand. Es wurde erwähnt, dass alle Elben die ardelanische Sprache fließend sprachen sowie sämtliche Dialekte, die in diesem Land gebräuchlich waren, dass sie aber auch die Sprachen von Mendeor beherrschten.
Der Verfasser des Buches schien ein häufiger Gast in Pal’dor gewesen zu sein. Er hatte von einigen der »Älteren«, wie er sie nannte, Stammbäume erstellt. Seitenlang nur Namen und Linien. Seine Aufzeichnungen waren sehr genau, zu genau, fand Philip. Sie waren ermüdend, langatmig, langweilig.
Hier stand (endlich einmal eine Antwort auf zumindest eine seiner Fragen), dass es viele Pfade nach Pal’dor gab, aber auch, dass sie alle durch Magie verborgen waren.
Obschon alles genauestens beschrieben war, wurde Philip aus der Erklärung der Eingangsrituale nicht schlau. Offensichtlich gab es verschiedene Pforten, die nur zu bestimmten Tageszeiten erreicht werden konnten. Es gab Bäume, die sozusagen als Landmarken galten, es gab auch Sprüche, die gesagt werden mussten. In Philips Kopf drehte sich alles.
Er las die Stellen noch einmal laut vor, in der Hoffnung, dass er sie eher verstehen konnte, wenn er die Worte hörte, und fasste sie dann für sich zusammen.
»Also bei Sonnenaufgang, nein – wenn die erste Sonne berührt das obere Blatt, streift man die Esche Verdon – man berührt sie also an der Wurzel am Stamm, man stellt sich nach links und sagt – Erlaube mir oh Schwester zu gehen den Pfad –, dann geht man vorbei, dann noch mal rechts und wieder rechts. Dann – Du Treue, du Ewige, gegrüßt sollst du sein – jetzt links an der Eiche – Eglte – stehen bleiben und warten, dass sie das Tor öffnet.« Vielleicht musste man das alles sehen, um es zu verstehen. Da standen auch noch Rituale zum Begehen des Sonnentors, der Tore zur Dämmerung und des Abendsterns. Dann gab es Rituale, die begangen wurden, wenn diese Zeiten nicht unmittelbar bevorstanden und man trotzdem in die Stadt wollte. Moos und Steine wurden berührt und versetzt. Natürlich jede Menge Bäume umrundet, und wenn Philip das richtig verstand, dann war man nach so einer Baumumrundung oft nicht an der gleichen Stelle wie vorher. Meistens stand auch nicht mehr der gleiche Baum dort.
»Mein steter Begleiter auf meinem Weg nach Pal’dor war mein Freund Rond’taro, aber auch wenn ich ihn immer genau beobachtete und er mir alles zeigte, so muss ich gestehen, dass ich nie aus eigener Kraft einen Weg nach Pal’dor finden konnte.«
Geschickt gelöst, dachte Philip. Wäre da nicht Jar’jana, hätte er vermutlich das Buch spätestens jetzt zugeschlagen und es dem Lehrer Theophil als unglaubwürdig zurückgegeben. Aber Jar’jana hatte Pal’dor erwähnt. Sie musste er fragen! Sie könnte ihm zumindest eines dieser verflixten Rituale erklären, dann würde er Hilfe für sie holen und sie konnte wieder nach Hause gehen. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich, aber dann beflügelte ihn die Aussicht, dass er als strahlender Held vor ihr stehen würde. Fast spürte er schon den zarten Kuss, den sie für ihren kühnen Retter bereithielt.
Trotzdem musste er das alles erst mit seinen Eltern besprechen, und er war sich sicher, dass seine Mutter es nicht gutheißen würde.
Er konnte nun nicht mehr weiterlesen, denn es wurde zu dunkel. Also klappte er das Buch zu und schlich die Treppe hinunter. Als er an Jar’janas Zimmertür vorbeikam, hörte er sie leise singen. Verzaubert blieb er stehen und lauschte den unbekannten Worten. Er hörte Lume’tai weinen und wollte bereits anklopfen, als Johann, in der Hand eine eigenartige Flasche, um die Ecke flitzte. »Was machst du da?«, fragte Philip, als sein Bruder die Tür aufriss.
»Ich bring ihr die Milch, ich war doch deswegen gerade bei Elvira«, antwortete er.
»Wieso?«, fragte Philip einfältig.
»Mutter hat gesagt, ich soll es tun, und das habe ich gemacht. Ist doch ganz klar.«
Ja, das passte zu Johann. Alles, was er zu erledigen hatte, tat er, ohne nachzufragen. Jetzt ging er direkt auf das Bett zu und überreichte Jar’jana die Flasche. Sie nahm sie und stellte sie beiseite.
»Danke«, sagte sie und wandte sich mit unverhohlenem Interesse aber gleichzeitig unglaublich scheu dem Jungen zu. »Wer bist du?«
»Ich bin Johann«, sagte er schlicht.
»Du bist ein Kind!« Ihre Stimme flatterte, sie wirkte zerbrechlich und doch so klar. Philips Herz zog sich innerhalb weniger Augenblick zusammen und wurde weit.
»Ja«, antwortete Johann und grinste.
»Ihr seid viele?«
»Sechs«, erwiderte Johann. »Hast du die noch nicht gesehen?«
»Nein.«
Philip hatte seinen Standort gewechselt und konnte nun einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Sie sah sehr erschöpft aus, aber sie saß in ihrem Bett.
Johann stürmte aus dem Zimmer.
»Geh rein, sie will uns kennenlernen«, sagte er und rannte die Treppe hinunter, wobei er laut die Namen seiner Brüder rief.
Philip trat unschlüssig von einem Bein aufs andere und traute sich nach den Ereignissen des Nachmittags nicht, das Zimmer zu betreten.
»Philip«, sagte sie. »Komm doch herein.«
Sie kannte seinen Namen! Sofort begann sein Herz zu rasen. Willenlos gehorchte er ihr.
Lume’tai fing wieder zu weinen an. Er hob das Kind aus der Wiege und gab es Jar’jana. Ihre Hände streiften seine. Die Berührung fuhr ihm durch den ganzen Körper. Mit hochrotem Kopf und jagendem Herzen reichte er ihr die Flasche, die Johann gebracht hatte. Ihre Spitze hatte Ähnlichkeit mit einer Ziegenzitze. Philip konnte sich nicht erinnern, dass seine Brüder je so etwas benötigt hätten.
Lume’tai hielt offensichtlich auch nichts davon. Greinend drehte sie den Kopf zur Seite.
»Ich hole meine Mutter«, sagte er, doch die stand bereits in der Tür. Ohne auf Philip zu achten, ging sie zu Jar’jana, legte ihre Hand an Lume’tais Kopf und spritzte ihr einen Tropfen Milch auf die Lippen. Als sie den Mund öffnete, schob sie den Sauger hinein.
Das zufriedene Schmatzen ihres Kindes zauberte ein Lächeln auf Jar’janas Gesicht.
Wenn Philip nicht sowieso schon Feuer und Flamme für dieses schöne Wesen gewesen wäre, spätestens jetzt wäre er ihr verfallen. Er merkte, dass er blöd grinste, war aber nicht in der Lage, damit aufzuhören oder sich abzuwenden.
Erschrocken fuhr er zusammen, als seine Mutter ihn plötzlich am Arm packte.
»Jetzt schafft sie es alleine«, sagte sie und drängte ihn zur Tür, da stürmte Johann seinen Geschwistern voran in den kleinen Raum.
»Raus hier! Alle!«, befahl Phine, und ihr strenger Blick erstickte jeden Protest.
Als alle Kinder bereits im Bett waren, saß Feodor am Tisch und rauchte seine Pfeife. Philip stand in der offenen Küchentür und starrte in die Nacht.
»Wie geht es unserer Besucherin?«, fragte Feodor seine Frau, die soeben die Treppe herunterkam.
Sie schnaubte. »Der Kleinen geht es erstaunlich gut. Obwohl ich wegen ihr die größeren Bedenken hatte. Sie hat heute sehr gut getrunken. Um ihre Mutter mache ich mir allerdings große Sorgen. Sie hat nach wie vor Fieber und keinen Appetit. Mit dem Stillen klappt es nicht, und sie ist vollkommen unbeholfen mit dem Kind. Manchmal habe dich den Eindruck, dass sie sich bereits aufgegeben hat. Zum Glück hat Elvira genug Milch für zwei Kinder.«
»Ich habe gelesen, wo Pal’dor liegt«, warf Philip ein.
»Aha«, erwiderte Phine.
»Ich glaube, in weniger als vier bis fünf Stunden könnte man die Stadt erreichen.«
»Dann hätte sie schon längst jemand gefunden«, gab Feodor zu bedenken.
»Die Stadt ist verborgen, niemand kann sie finden, wenn er nicht weiß, wo er suchen muss«, antwortete Philip. »Jar’jana hat mich gebeten, dorthin zu gehen.« Er starrte zu Boden, um seine Mutter nicht ansehen zu müssen.
»Wann?«, fragte Phine. Sie wirkte beunruhigt.
»Heute Nachmittag«, antwortete er.
»Was hat sie noch zu dir gesagt?«
»Das hab ich nicht genau verstanden«, murmelte Philip. »Sie sprach von einer Prophezeiung, die sich erfüllt hat. Dass jemandem der Faden abgeschnitten wurde. Sie glaubte …« Er brach ab.
»Was glaubte sie?«
»Dass sie mich kennt.«
»Aha«, hauchte Phine und zog die Augenbrauen zusammen. »Heute Nachmittag hatte sie hohes Fieber. Wir werden mit ihr sprechen, wenn sie weiß, wer vor ihr steht«, sagte sie entschieden.
Philip hatte das Gefühl, dass ihm der Wind aus den Segeln genommen werden sollte.
»Sie hat zu mir gesagt, ich soll für sie nach Pal’dor gehen«, beharrte er energisch. Dabei wich er dem Blick seiner Mutter aus und sah seinen Vater an. »Dort können sie ihr bestimmt helfen.«
»Ich werde mit ihr darüber sprechen«, entschied Phine. »Jetzt sollten wir lieber über dein Studium im Monastirium Wilhelmus reden.«
Philip straffte kampfbereit seine Schultern. Er hatte nicht vor, sich wegschicken zu lassen.
»Es ist natürlich deine Entscheidung, ob du gehen willst oder nicht, aber ich hatte bisher immer den Eindruck, dass du das sehr gerne tun würdest«, sagte seine Mutter und erstickte damit seinen stillen Protest. »Du musst dich für uns nicht verantwortlich fühlen. Es ist immer noch die Pflicht der Eltern, für ihre Kinder zu sorgen, und solange wir das können, solltest du in erster Linie an dich denken. Es ist dein Leben. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem du dich wirklich um uns kümmern musst, aber der ist noch fern.« Sie sah ihn eindringlich an.
»Aber es ist viel zu teuer. Wie wollt ihr das bezahlen?«, stotterte Philip halbherzig.
»Dafür ist schon lange gesorgt«, brummte sein Vater und sah dabei stur auf die zerkratzte Tischplatte.
»… und euer Kind?«, fragte Philip weiter.
»Unsere Kinder? So ein Unsinn. Jacob wird sich wahrscheinlich demnächst eine Lehrstelle suchen, und ich fürchte, im nächsten Jahr wird Johann ihm folgen. Unsere Kinder …«
»Nein, das meine ich nicht«, unterbrach Philip seine Mutter. »Ich meine …« Auf einmal fehlten ihm die Worte, »du hast doch … beim Waschen … du sagtest … sieben, und ich dachte …«
Jetzt verstand Phine, was er meinte, und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein. Du hast da was missverstanden. Es wird keine weiteren Geschwister geben.«
»Du hast aber sicher sieben gesagt«, beharrte Philip.
»Lumi, sie ist die Siebente. Jedes Kind, das unter diesem Dach lebt, ist auch mein Kind …« Ihre Stimme war nur ein Hauch, und sie lächelte schon wieder so eigenartig wie am Nachmittag. Feodor sah sie ernst an, er kannte diesen Ausdruck in ihren Augen. Er senkte seine Lider und starrte erneut auf die Tischplatte.
Die Luft schien schon den ganzen Tag zu flimmern. Philip beschloss, sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Wenn das so ist«, begann er nüchtern und beruhigte die flimmernde Luft, »dann muss ich nur noch dafür sorgen, dass Jar’jana und Lume’tai sicher in den Wald kommen. Wenn das geschehen ist, sprechen wir über Wilhelmus.«
»Mit Jar’jana spreche ich«, betonte Phine energisch. »Morgen!« Damit stand sie auf und strich ihre Röcke gerade. »Ich geh jetzt ins Bett.«
»Ich komme gleich nach«, sagte Feodor.
»Du weißt nicht, worauf du dich einlässt«, warnte er Philip, sobald sie alleine waren. »Du warst noch nie so weit im Wald, du würdest dich verlaufen. Die Pfade, sofern es überhaupt welche gibt, sind tückisch. Es gibt keine verlässlichen Merkmale.« Feodor neigte nicht dazu, abergläubisch zu sein. Er war ein bodenständiger und vernünftiger Mensch, der auch auf das Gerede anderer Leute nicht viel gab. »Wenn du wirklich gehst, dann nimm jemanden mit, der sich auskennt.«
»Willst du mitgehen?«
»Und mir den Zorn deiner Mutter zuziehen?« Er grinste. »Sie hat recht, lass uns morgen noch mal darüber sprechen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Philip war noch nicht müde. Sein Schläfchen am See war sehr erfrischend gewesen. Gedankenverloren starrte er in das Licht der flimmernden Kerze.
7. Der Rat
Die meisten Gesandten waren bereits eingetroffen, aber immer noch fehlten die von Frig’dal und Descher’latar. Ala’na war nicht ungeduldig, denn diese Orte lagen weit entfernt von Pal’dor. Selbst die schnellen Rösser der Elben konnten die Berge und die eisigen Öden nur mit großer Anstrengung überwinden.
Natürlich gab es Möglichkeiten, Worte, welche die Wege ebneten und die Pferde in kaum geahnter Geschwindigkeit laufen ließen. Nur deshalb war es überhaupt möglich, einen Rat abzuhalten, der erst zwei Tage zuvor einberufen worden war. Aber eine so lange Reise dauerte ihre Zeit und barg immer Gefahren.
Sie fühlte ein unruhiges Kribbeln im Nacken. Der kürzeste Weg von Frig’dal im Norden führte über die Quellenberge. Und aus den Quellenbergen war Rond’taro mit seiner zerschundenen Schar zurückgekommen. Ala´na hatte in Frig’dal aber niemanden vor der lauernden Gefahr warnen können. Aus diesem Grund hatte sie am frühen Morgen eine flüsternde Nachricht in den See gesprochen und vertraute nun darauf, dass die plätschernden Quellen die Reisenden aus Frig’dal zur Vorsicht mahnen würden.
Leider wusste Ala’na nicht genau, wovor sie sie warnte, denn das würde erst im Rat zur Sprache kommen.
Doch Rond’taros Augen verrieten ihr, dass das, was seine Truppe heimgesucht hatte, unerwartet und schnell über sie gekommen war. Überraschend, lautlos, sehr gefährlich. Er wirkte besorgt, aber auch verwirrt. So hatte sie ihn schon seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt.
Ein leises Rascheln in den Zweigen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie richtete ihre Augen nach Süden und lauschte dem Tuscheln der Bäume. Drei Gesandte aus Descher’latar hatten soeben die äußerste Landmarke von Pal’dor erreicht. Das Tor der Dämmerung stand offen und empfing die Freunde aus dem Süden.
Descher’latar lag am südlichsten Zipfel von Ardea’lia, in der Wüste. Weit hinter den schroffen Kanten und eisigen Spitzen des Gebirges, das für die Menschen eine natürliche, unüberwindbare Grenze bildete.
Ala’na würde alle Gäste erst später beim Rat begrüßen. Bis dahin waren andere mit dem Empfang und der Versorgung der Reisenden betraut. Trotzdem beobachtete sie schon den ganzen Tag von ihrem Balkon die Ankunft jeder einzelnen Reisegruppe. Mit ihrem geschulten Blick konnte sie die jeweilige Stimmung ihrer Gäste ergründen und auch, ob ihre Reise gut verlaufen war.
Die Reiter aus Descher’latar waren erschöpft, aber auch gespannt, und ihre Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen, die Berge waren freundlich zu ihnen gewesen.
Beruhigt lehnte sich Ala’na ein Stück zurück. Nur am Rande nahm sie wahr, wie sich die Gesandten aus Descher’latar mit den Sicherheitsvorkehrungen von Pal’dor vertraut machten. Da ihre Heimatstadt nicht im Gebiet der Menschen lag, waren derlei Vorkehrungen bei ihnen nicht nötig. Dort, im äußersten Süden, bestand nie die Gefahr, entdeckt und verfolgt zu werden. Eine Gefahr, die hier unmittelbarer war, als es Ala’na noch bis gestern gedacht hätte.
Alle Städte, die im Geltungsbereich des Menschenkönigs lagen, also in Ardelan, waren seit tausend Jahren verborgen.
Mar’lea am Meer konnte nur vom Wasser aus erreicht werden. Die Stadt besaß nur einen einzigen Zugang, und der lag zwischen schroffen Felsen. Die Insel, auf der Lac’ter im Engelsee lag, war durch dichten Dunst geschützt und für keinen Menschen je erreichbar. Obwohl es sich lohnen würde, denn die größten Baumeister hatten in dieser Stadt ihr Können offenbart.
Munt’tar hatte, dank der schwachen Besiedlung der Berge und seiner abgeschiedenen Lage an einem Steilhang, einen recht schwachen Schutzwall, eigentlich nicht mehr als einen Nebelschleier, der Wanderer und Hirten die Sicht verwirrte und die Orientierung raubte.
Wieder kündete der Wald Besucher an. Ala’na lauschte.
Jetzt, endlich, näherte sich von Norden her etwas. Das Tor der Dämmerung würde nicht mehr lange zugänglich sein, aber die Reiter aus Frig’dal waren schnell. Ala’na strengte ihre Augen an. Drei Pferde preschten durch den Wald. Eines von ihnen trug keinen Reiter, dafür lief ein anderes schwerer. Aber da war noch etwas. Die Bäume wirkten unruhig. Befanden sich schon wieder Menschen im Wald? Ala’na versuchte, mehr zu erkennen.
Die Reiter wurden verfolgt, etwas huschte hinter ihnen her – Schatten. Sie folgten der Spur der Fliehenden geschickt zwischen den Bäumen hindurch und bemächtigten sich ihrer geebneten Pfade. Ala’na konnte nicht erkennen, was es war, doch je mehr sie sich konzentrierte, umso deutlicher hörte sie den gehetzten Atem der Tiere. Trotz aller Bemühungen gelang es Pferden und Reitern nicht, die Verfolger abzuschütteln. Bald würden sie Pal’dor erreichen. Ala’na spannte sich. Die drei Gesandten flogen förmlich durch das Tor. Gleichzeitig erkannte Ala´na, starr vor Schreck, was ihnen folgte. Noch waren die Schatten im Wald, und die Bäume verstellten ihnen den Weg, trotzdem rasten sie mit unglaublicher Geschwindigkeit auf das Tor zu.
Ala’na nahm ihre ganze Kraft zusammen und gebot dem Tor, sich zu schließen. Laut krachend prallten die Verfolger dagegen.
Ihr Herz raste, und das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie das Summen, den Warnruf des Tores, gar nicht hörte. Beruhigen konnte Ala´na sich nicht, und ihre Pflichten als Ratsvorsitzende waren ihr im Moment gleichgültig. Sie raffte ihre Gewänder und lief den Reitern entgegen. Iri’te, die zufällig ihren Weg kreuzte und sie verwundert ansah, nahm sie sofort mit.
»Es gibt einen Verletzten«, war ihre einzige Erklärung.
Es gab mehr als einen Verletzten, es gab drei. Eine fiel blutend aus dem Sattel, als der Hintermann sie erschöpft losließ.
Iri’te eilte hin und begann sofort mit der Untersuchung.
»Sie lebt noch, aber ihre Seele wandert schon in den Welten vor As’gard«, war ihr erster kurzer Zwischenbericht. »Sprich mit ihr Ala´na, lass sie nicht weiterziehen! Ich hole schnell meine Tasche.«
Iri’te, sonst die Ruhe selbst, lief gehetzt los. Ala’na beugte sich zu der Verletzten. Als sie ihr Gesicht sah, hielt sie vor Schreck die Luft an. Tiefe Wunden entstellten die Gesandte aus Frig’dal bis zur Unkenntlichkeit. Dennoch erkannte Ala’na sie. Hätte sie jederzeit erkannt, denn ihre Seelen waren einst fest verbunden gewesen und ihre Herzen schlugen selbst nach jahrhundertelanger Trennung immer noch im Gleichklang.
»Du musst leben, Erol’de. Wir müssen wissen, wer dir das angetan hat. Wir brauchen dich, verlass uns nicht.« Ala’nas Stimme war nur ein Hauch, ihre Worte ein Flehen. Sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Zärtlich streichelte sie über den Kopf ihrer Schwester und schickte einen Teil ihrer Seele selbst nach As’gard, um Erol´de am Weitergehen zu hindern.
Nach einer Weile schob Iri’te sie vorsichtig beiseite und begann mit der Versorgung der Verwundeten.
Ala’na richtete sich auf. Alles schien sich zu drehen. Die Welt um sie herum war nicht mehr die gleiche. Sie nahm ihre Kinder und Enkel, die sich um die anderen Ankömmlinge kümmerten, nur noch am Rande ihres Gesichtsfeldes wahr. Sie spürte die Angst und Verirrung, die Fragen und Ratlosigkeit der anderen, ohne davon berührt zu werden. Wie in einem luftleeren Raum stand sie da. Alleine. Das Rütteln am Tor und dessen Warnruf zerrten an ihr. Diese Kreaturen standen immer noch davor und versuchten einzudringen. Die Geräusche, die sie dabei verursachten, klopften stetig an Ala’nas Ohr und in ihrem Kopf. Sie zehrten an ihren Nerven und ihrer Geduld und fraßen sich in ihre Gedanken. Dort blühten sie auf und hämmerten in ihren Schläfen. Mit jedem Schlag entfachte das Dröhnen einen ungeahnten Zorn in ihr. Ala’na spürte neue Kraft in sich aufsteigen. Sie kribbelte an ihren Haarwurzeln, sie erfüllte jede Zelle ihres Körpers und fand schließlich die Worte des Verderbens zwischen ihren Lippen und den Funken der Zerstörung in ihren Händen. Wie ein Sturm fegten Verderben und Zerstörung durch die Baumkronen und ließen sie ächzen und stöhnen. Dann erfassten die Worte diejenigen, denen sie galten, so dass sie in hohem Bogen durch den Wald geschleudert wurden. Aus Ala’nas Händen folgten ihnen die Blitze der Zerstörung. Sie konnte die Angreifer nur schemenhaft wahrnehmen, wusste aber, dass es dergleichen noch nie in diesem Land gegeben hatte. Zerschmetterte Köpfe und verdrehte Gliedmaßen lagen unter den Bäumen, welche die Eindringlinge in Empfang genommen hatten. Ruhe kehrte ein. Voller Abscheu wandte sich Ala’na ab. In wenigen Stunden würde nichts mehr von den seltsamen Kreaturen übrig sein. Die Bäume begannen bereits mit ihrer Arbeit.
In ihrem Zorn war sie übermächtig gewesen. Groß und gefährlich wie ein Todesengel und kampfbereit, wie ein in die Enge getriebenes Tier. Einige ihrer Enkel sahen sie erschrocken und ehrfürchtig an, aber Ala’na beachtete sie nicht. Sie drehte ihre Haare im Nacken zu einem Zopf zusammen und beugte sich wieder zu ihrer Schwester. Iri’te hatte die klaffenden, blutenden Wunden Erol’des offenbart, aber Ala’na schreckten sie nicht mehr. Sie nahm die Hand ihrer Schwester und folgte ihrem Geist auf seinen Wegen fernab ihres Körpers. Sie fand ihn verzweifelt und klein an einem dunklen und kalten Ort. Sie wärmte ihn an ihrer Brust und flog mit ihm zu freundlicheren Gefilden, wo er wieder Mut hatte zu wachsen. Wie damals, als sie noch Kinder waren, tanzten sie Hand in Hand auf lichtdurchfluteten Wiesen, tauchten ein in die glitzernden Fluten der Bäche und träumten im Schatten der Bäume, bis Erol’de endlich bereit war, Ala’na in die Welt zu folgen. Sie erwachte in ihrem gepeinigten, schmerzenden Körper.
Der Mond stand bereits hoch am Himmel, der Rat hätte schon längst beginnen müssen, aber Rond’taro saß neben seiner Gefährtin und wartete auf sie. Als Ala’na die Augen aufschlug, nahm er sie in den Arm und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Ich habe sie gefunden und zurückgebracht«, flüsterte sie und blickte auf ihre Hand, die immer noch die ihrer Schwester hielt. Dicke Verbände hüllten den Körper ein und auch von ihrem Gesicht konnte man kaum mehr als die Augen sehen. Wortlos sahen die beiden Frauen sich an. Ala’na spürte Tränen aufsteigen. Sanft streichelte sie Erol’de über das Haar.
»Werde wieder gesund«, bat sie leise.
»Ich werde mein Bestes für sie tun«, antwortete Iri’te. »Lass sie ins Haus bringen, sie braucht Ruhe.«
Ala’na nickte, und zwei Elben brachten ihre Schwester fort. Iri’te folgte ihnen.
»Wie geht es den beiden anderen?«, fragte Ala’na Rond´taro.
»Sie haben tiefe Verletzungen an Armen und Beinen und ihre Wunden waren stark verunreinigt. Sie sind maßlos erschöpft. Iri’te hat ihnen verboten, am Rat teilzunehmen, und sie sofort nach ihrer Versorgung ins Bett geschickt.« Rond’taro lächelte bei der Erinnerung daran, wie die sonst so stille Iri’te ganz energisch das durchgesetzt hatte, was sie für das einzig Richtige hielt. »Wir haben einstimmig den Rat auf morgen vertagt, obwohl ich fürchte, Erol’de wird auch dann nicht bei uns sein können.«
Ala’na fühlte sich selbst ganz elend und erschöpft und war froh, nun noch ein paar Stunden der Ruhe und Besinnung vor dieser wichtigen Versammlung zu haben.
»Zumindest wird sie überleben. Aber ich fürchte, dass ihre bleiche Schönheit für immer verloren ist.« Sie wollte sich aufrichten, aber Rond’taro hielt sie zurück.
»Ich habe die Wesen gesehen, die du in den Wald befördert hast. Es sind die gleichen, die auch uns angegriffen haben. Sie sind schrecklich …« Er machte eine Pause, seine Augen waren dunkel vor Gram. »Ein Zauber gibt ihnen Kraft, und wenn sie sich einmal irgendwo verbissen haben, lassen sie nicht mehr los. Selbst wenn man sie erschlägt.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Erst dachte ich, es wären Gnome wie jene, die früher mit den Zauberern zogen. Aber so groß, wie diese sind, waren die nie. Auch nicht so angriffslustig. Nachts sind sie von allen Seiten über uns hergefallen. Die Ersten von uns starben, ehe sie zu ihren Waffen greifen konnten. Wir haben versucht, die Kreaturen mit Licht zu verscheuchen, so wie wir es früher gemacht haben, aber sie fürchten das Licht nicht, und so mussten wir kämpfen, bis auch der letzte Angreifer in seinem Blut auf dem Boden lag.«
»Hast du den Zauber, der sie umgibt, nicht gespürt?«, Ala’nas Stimme klang vorwurfsvoll.
»Der Zauber verbirgt sie, bis sie zuschlagen, und ist nicht zu erkennen. Ich habe ihn nicht gespürt …« Er ließ seinen Kopf hängen. »Ich hätte vorher mit dir sprechen sollen, du hättest Frig’dal warnen können. So hat der Rat das Verderben nach Pal’dor gebracht. Noch nie waren Feinde unserer Stadt so nahe.«
»Ich konnte keine Verbindung zu Ogla’ra aufbauen«, beschwichtigte sie ihn.
Schweigend saßen sie nebeneinander im Gras.
»Es ist nicht richtig, dass wir all dies vor dem Rat besprechen. Wir versagen uns dadurch die Möglichkeit, unbefangen die anderen zu hören«, sagte Ala’na schließlich.
»Es geht um Pal’dor!« Rond’taro nahm ihre beiden Hände und sah sie flehend an. »Und es geht auch um uns. Ich ertrage es keine Nacht länger, neben dir zu liegen und das, was mich am meisten bewegt, nicht mit dir zu teilen.«
Sie sah ihn zärtlich an. »Als wir uns damals im Rat, nach der Wilmus-Schlacht, entschieden, Pal’dor nicht aufzugeben, war uns klar, dass es jederzeit möglich sein konnte, dass wir Menschen, Zauberer oder Gnome vor unseren Toren finden. Die Bäume haben uns guten Schutz geboten, und in den letzten tausend Jahren hat sich kaum einer hierher verirrt. Wir haben uns zu sehr darauf verlassen. Der gleiche Zauber, der diesen Wesen heute durch den Wald geholfen hat, brodelt möglicherweise auch in den Tiefen von Latar’ria. Etwas braut sich zusammen, ich kann es förmlich riechen, ich kann es deutlich spüren, und das nicht erst seit gestern. Latar’ria ist unruhig, die Vorhersagen sind düster. Es war richtig, den Rat zu rufen. Ich hoffe nur, es ist noch nicht zu spät.« Ala’na stand auf und zog Rond’taro mit sich. »Jar’jana ist immer noch nicht auf der Warte angekommen. Sie ist nun seit einem Tag überfällig und wir haben noch keine Spur von ihr im Wald gefunden. Ich mache mir große Sorgen.«
Rond’taro strich ihr stumm eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. Hand in Hand gingen sie schweigend nach Hause. Ihre Herzen schlugen im selben Rhythmus, ihre Gedanken wanderten auf den gleichen Pfaden, gemeinsam waren sie das Herz und die Seele, die Hand und das Schwert, Himmel und Erde. Es gab keine Geheimnisse mehr, und morgen beim Rat würden sie eins sein.
Erol’de konnte kaum sprechen, ihr Kiefer war gebrochen. Von ihren Lippen waren ganze Fleischstücke herausgerissen, und ihre Nase war zugeschwollen. Sie hatte eines ihrer Augen verloren. Tiefe Wunden am ganzen Körper hatten ihre Eingeweide freigelegt, beide Arme waren gebrochen sowie etliche Rippen, die sich zudem in ihre Lunge gebohrt hatten. Lange, tiefe Schnitte führten an ihren Beinen entlang. Iri’te hatte viel Zeit damit verbracht, die Wunden zu reinigen und wieder zu verschließen. Sie hatte dicke Verbände um die gebrochenen Gliedmaßen gelegt und all ihre Fähigkeiten eingebracht, um die Heilung in Gang zu setzen und voranzutreiben. Diese Art der Heilung erforderte ihre ganze Kraft. Die zerstörten Lippen allerdings bereiteten ihr das größte Kopfzerbrechen. Sie hatte die Worte des Verbindens und die Worte des Wachsens gesprochen, sie hatte mit ihren Händen die gesunden Zellen nach vorne geholt, trotzdem schritt die Heilung nicht wie gewünscht voran.
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