Kitabı oku: «Die Welt, die meine war», sayfa 7
13.
Es war nach dem vierten Tag im Studio, als alles aufgenommen, aber noch nicht abgemischt war. Nun lud Lill mich zu einer Dragshow mit Christer Lindarw ein. Am Vorabend hatten wir in Anders Burmans großer Eckwohnung auf Söder gesessen, in dem exklusiven Haus, das eine Art Wahrzeichen war, mit Aussicht über die ganze Stadt. Wir waren aufgekratzt und glücklich über alles, was wir geschafft hatten. Wenn ich Lill ansah, dachte ich, etwas auszuüben, zu erschaffen, lasse Schönheit aus sich selbst entstehen, ja, selbst die hässlichste Erscheinung, wie Orson Welles oder Charles Laughton, könne Schönheit gewinnen durch die erbarmungslose Eigen-Wirklichkeit des Schauspielers. Ich hatte diese Schönheit am ersten Abend im Gesicht ihres Lebensgefährten gesehen, als wir alle im Theatergrill gegessen hatten. Brasse Brännström war die eine Hälfte von Magnus und Brasse, der ganze Norden liebte die beiden. Sie hatten ein Programm, das sie jeden Abend aufführten, aber gerade an diesem Abend hatte Brasse frei. Ich hatte mir längst etwas gemerkt, was Lill über ihn gesagt hatte: »Entweder feiert er, oder er fastet.« Ich musterte ihn, die großen Kontraste im Gesicht, die konstante Traurigkeit, die er ausstrahlte. Etwas an ihm erinnerte mich an Jack Lemmon. Das melancholisch Hilflose, das ihn seltsamerweise nur interessanter machte. Trond-Viggo hatte auch etwas davon. Sich selbst nicht so ganz aushalten zu können. Als wir in dem eleganten Restaurant hinter dem Theater Dramaten an unserem Vierpersonentisch saßen, tauchte plötzlich Magnus Härenstam auf. Ich begriff nicht richtig, weshalb. Ich saß an einem Tisch mit dreien der berühmtesten Menschen Schwedens, und dann war er gekommen, um mich kennenzulernen. Ich registrierte die Blicke von den anderen Tischen, die übertriebene Höflichkeit der Kellner und fühlte mich fehl am Platze. Diese Jetset-Stimmung war so weit entfernt von Sandøya. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mich irgendwohin verlaufen zu haben, dass sie missverstanden hätten, wer ich war, dass ich aufstehen und sagen müsste: »Entschuldigung, hier liegt eine Verwechslung vor. Ich gehöre nicht hierher.« Ich hätte geradewegs zur Toilette gehen und den Finger in den Hals stecken müssen, ehe ich mich aus dem Restaurant und zu einer elenden Kneipe weit weg von Östermalm schlich. Aber das wagte ich nicht. Es war zu spät. Wir nahmen gerade eine LP auf. Drei Lieder befanden sich schon auf großen 24-Spur-Bändern. Ich lauschte auf die Gespräche um mich herum. Versuchte, die Rolle des jungen, in sich gekehrten, geheimnisvollen Künstlers zu spielen. »Wohin fährst du im Sommer?«, fragte Lill. »Nach Mallis«, antwortete Magnus. »Was ist Mallis?«, fragte ich. »Mallorca«, antwortete Magnus. Ich musste lachen. Es klang so blödsinnig. Mallis, also echt. Klar, dieses Herrenvolk hier sagte auch Dagis zu Kindergarten und Fritids zu Freizeit. Dennoch war es komisch. Ich lachte immer weiter. Sie lachten auch, aber nicht über sich selbst. Sie lachten über mich, weil ich Norweger war, weil ich es seltsam fand, dass ich noch nie von Mallis gehört hatte, dass ich so wenig Schwedisch konnte. Ich merkte, dass ich rot wurde. Ich lachte zu lange. Das hatte ich auf diese Weise noch nie getan. So außerhalb aller Kontrolle. Jetzt war ich der Knabe aus dem Nachbarland, dem armen Land, dem Kätnerland, dem Hurzel-Purzel-Land. Ich sagte es. »Entschuldigung. So benimmt man sich, wenn man aus einer ehemaligen Strafkolonie kommt. Wir tragen noch immer Frieswämse und schlafen im Heu.« Sie lachten pflichtschuldig. Sie fanden das nicht witzig. Sie waren professionelle Komiker. Sie waren vielfache Millionäre geworden, weil sie andere dazu bringen konnten, vor Lachen zu heulen und zu kreischen. Sie hatten eigentlich keine Verwendung für Amateure wie mich. »Aber ihr habt ja das Öl«, sagte Brasse freundlich. »Wir werden ohnehin nicht reich, jedenfalls nicht so wie ihr«, sagte ich. »Wir kriegen nur einen Haufen Geld.« – »Schön gesagt«, sagte Lill. Aber ich merkte, dass ich mich ausgesperrt hatte, und darüber sprach ich nun, in Anders Burmans Wohnung, drei Tage später. Ich gestand, wie sehr ich mich ausgeschlossen gefühlt hatte. Ich erzählte nicht, dass ich nach dem Fischgericht gekotzt hatte. Ich erzählte auch nicht, dass ich Brasse um ein Haar gefragt hätte, ob auch er jeden Tag den Finger in den Hals steckte. Es reichte, zu erzählen, wie sehr ich mich ausgeschlossen gefühlt hatte. Aber sowie ich es gesagt hatte, merkte ich, wie ichbezogen ich war. Diese freundlichen, berühmten Menschen hatten mir freie Hand gelassen, hatten mir alle Möglichkeiten gegeben, und hier saß ich nun und beklagte mich, weil ich nicht ganz dazugehörte. Gab es denn keine Grenzen, wenn man aus Norwegen kam? Aber auch diesen ichbezogenen Ergüssen lauschten sie höflich, und sie brachten ihre eigenen Anekdoten über andere Leute, Schweden sogar, denen es genauso gegangen war. Aber wie konnte man denn auf einer Bühne stehen und sich selbst dennoch als dysfunktional erleben? Oder in einem Studio? Ich hatte die Streicher dirigiert. Alles hatte geklappt wie am Schnürchen, obwohl ich glaubte, ziemlich komplizierte Arrangements geschrieben zu haben, vor allem bei Regent Street. Triolen, die klingen sollten wie ein Kaffeehausmusiker im Delirium. Und wenn ich in der Musik war, ob auf der Bühne oder im Studio, repräsentierte ich einen anderen als mich selbst. Dann war ich entweder meine eigene Vergangenheit, der Pianist, der jeden Tag acht Stunden geübt hatte, oder der, der die Musik geschrieben hatte. Dann stand ich dort und nahm mit Fug und Recht Platz ein. Dann zögerte ich nicht. Im Konzertsaal konnte ich dem Publikum weniger und weniger ins Auge schauen. Auf irgendeine Weise bat ich immer um Entschuldigung dafür, dass ich dort stand und ihre Zeit stahl. Selbst, wenn ich wusste, dass ich etwas Gutes zu bieten hatte, etwas, das jedenfalls nicht schlechter war als das, was andere liefern konnten, glaubte ich nicht, Applaus verdient zu haben. Hatte ich deshalb das Publikum gebeten, nicht zu klatschen, als ich in den siebziger Jahren Poesie und Musik gemacht hatte? Aber ich rezitierte nicht mehr. Ich spielte. Und zu Hause auf der Insel schrieb ich Lieder und Romane. Schweden war das Land der Lieder. Die Liedermacher schrieben Texte, die oft die der Lyriker übertrafen. Schon zu Beginn der achtziger Jahre schien die Lyrik in der literarischen Landschaft an Boden zu verlieren. Axel Jensen würde zwar fünf Jahre später mit seinem Boot vor Aker Brygge vor Anker gehen und ein internationales Poesiefestival arrangieren, aber gerade jetzt, zu Beginn der achtziger Jahre, stahlen die Romane sehr viel Aufmerksamkeit. Es würde das Jahrzehnt von Jan Kjærstad werden. Das Jahrzehnt von Lars Saabye Christensen. Das Jahrzehnt von Herbjørg Wassmo. Das Jahrzehnt von Dag Solstad. Tove Nilsens Wolkenkratzerengel in Bøler. Und diese literarischen Dinge strömten plötzlich durch meinen Kopf, fast wie eine Vorwarnung vor späteren Traumata, während ich zugleich eingestand, wie gering mein Selbstbewusstsein war, was mich für diese phantastischen Menschen zur Belastung machte, für Lill und Anders, die diese Produktion ermöglicht hatten. In letzter Zeit erlebte ich mich mehr und mehr als jemanden mit großem Erfolg, für den aber trotzdem alles immer zum Teufel gehen würde. Warte nur ab, hätte ich gern gesagt, wann immer jemand mir ein Kompliment machte.
Lill ohne Brasse war so anders, sie kam mir fast vor wie bei einem Date, redete die ganze Zeit, eine Fähigkeit, anwesend zu sein, um die ich sie beneidete, weil ich selbst so zurückhaltend war. Ich merkte, dass sie erleichtert war. Dass sie glaubte, wir hätten etwas geschafft. Anders Burman verhielt sich ebenso. Er sagte, er freue sich auf das Abmischen. Ich hatte gedacht, er werde mit uns die Dragshow besuchen. »Nein, ihr zwei solltet allein gehen«, sagte er entschieden.
Sollte ich wirklich allein mit Lill losziehen zum absoluten Hotspot und After Dark sehen, die Dragshow mit der »schönsten Frau Schwedens«, Christer Lindarw, dem Sohn eines Speedwayfahrers? Seine Parodie auf Lill war der Höhepunkt in seiner raffinierten Show.
Als wir vor dem Theater aus dem Taxi steigen, geht es wie ein Rauschen durch die Menschenmenge. Lill Lindfors! Hier ist sie! Wirklich! Sie hakt sich bei mir ein, und ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll, wie ihr todkranker, Hilfe brauchender Vetter vierten Grades, den sie aus Kiruna oder Umeå hergeholt hat, um ihm etwas Gutes zu tun? Oder soll ich die norwegische Karte ausspielen? Den Stallwichtel? Den Hilfesuchenden? Sie, die Waisenkinder in aller Welt besucht, die in Afrika war, um den hungernden Müttern zu helfen, jetzt kommt sie mit diesem armen Norweger her, mit dem sie eine LP aufnimmt, nur um sein elendes Selbstbild zu retten. Ich gehe dicht neben ihr, merke, dass jemand mit Blitz fotografiert, versuche zu lächeln, während ich mich im Glanz sonne. Ja, ich habe schon einen Sonnenbrand. Meine Haut pellt sich. Lill lacht und lächelt mich an. Keine kann lächeln wie Lill Lindfors.
Drinnen gibt es Glamour und laute, intensive Musik. Nichts weist daraufhin, dass in Schweden gerade überall gestreikt wird. Wir landen in der Welt der Verkleidungen. Lindarw und seine Herren erschaffen eine Damenwelt, die selbst sabbernden Tattergreisen die Potenz zurückgeben kann. Ich sitze da mit großen Augen und offenem Mund und glotze. Kann das wirklich möglich sein? Diese Menschen zaubern doch mit ihren Körpern und mit Schminke und Haltung. Ihr Selbstvertrauen ist ansteckend. Sitze ich hier und denke, dass Lill und ich ein Album eingespielt haben, von dem wir Tausende Exemplare verkaufen werden? Sind wir schon dicht vor einem großen Hit? Etwas in der Größenordnung von Du är den ende? Was? Was? Reden wir jetzt über klingende Münze? Welcher Champagner erwartet uns nach der Show? Was wagen sie, uns nicht anzubieten? Sind schon Gerüchte über diese LP im Umlauf? Und da kommt Lill Lindfors! Die Frau, neben der ich in der dritten Reihe sitze. Aber sie kommt von der Bühne her. Sie ist strahlend schön in einer weißen Kreation, und sie zeigt die perfekten Beine, Haut und Seide, streicht wie eine selbstsichere Katze über die Bühne, während die Stimme der Lill, die im Saal sitzt, aus den Lautsprechern strömt. »Er geht wie ein Kerl / Er sieht aus wie ein Kerl / mit einem Körper wie ein Kerl / und küsst, wie ein Kerl das soll.« Gelächter wogt durch den Saal. Alle sehen ja, wie sehr er sich an ihr orientiert, wie er ihr zuzwinkert, wie sie da neben mir sitzt und höflich mitsingt, um klarzustellen, wie entzückt sie von der Parodie ist. Er geht fast ihre gesamte Hitliste durch, und als er bei Du är den ende ankommt, explodiert der Saal. Die Sinnlichkeit auf der Bühne ist so überwältigend, dass Lill losprustet. Für wenige Sekunden scheint Lindarw mehr Lill zu sein als Lill selbst. Es entsteht eine magische Kommunikation zwischen dem, der parodiert, und der, die parodiert wird, vielleicht, weil es gar keine Parodie ist, sondern eine Imitation, eine Widmung, ein Ausdruck der Bewunderung, Lindarws Version einer Frau, die er hätte sein können, die er vielleicht gern wäre, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. Als ob Lindarw als Lindfors besser wäre denn als Lindarw. Das Dach hebt sich vom Theater.
Ted Turner, der Medienmogul aus den USA, auf den ich zehn Jahre später gewaltig eifersüchtig sein werde, als er Jane Fonda heiratet, meine ewige Barbarella mit den sichtbaren Orgasmen, gründet Cable Network News, zusammen mit 25 anderen Investoren, die zusammen 20 Millionen Dollar in den neuen Fernsehsender schießen. CNN wird rund um die Uhr Nachrichten senden. Das ist bisher noch nicht dagewesen. CNN soll zudem zu einem globalen Fernsehprojekt werden, mit Büros in den USA, Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika.
Ich sitze draußen auf der riesigen Terrasse, die wir gebaut haben, und lese über dieses Projekt, verspüre einen Stich Sehnsucht nach Stadt, Kabeln, Satelliten, Rockmusik und Technologie. Ich lese, was Ted Turner in Verbindung mit der Einweihung von CNN gesagt hat: »Wir werden erst aus dem Äther verschwinden, wenn die Welt untergeht. Wir werden dabei sein, wir werden live berichten, und es wird unsere allerletzte Sendung sein. Wir werden einmal die Nationalhymne spielen, wenn wir am 1. Juni auf Sendung gehen, und das ist alles. Und wenn die Welt untergeht, werden wir Näher, mein Gott, zu dir spielen, ehe wir endgültig verstummen.«
Sofort ein eiskalter Wind. Wie bei einer Sonnenfinsternis.
Die Welt geht unter?
Das sagt ein steinreicher Philanthrop, der einen rund um die Uhr sendenden Nachrichtenkanal eröffnen will?
Wie hat er das eigentlich gemeint? Weiß er mehr als wir?
Plötzlich ist die Angst der Kubakrise wieder da. Der neun Jahre alte Junge. Die Luftschutzräume.
Die kreideweißen Gesichter meiner Eltern.
14.
Der Sommer kommt immer als Überraschung. Man vergisst ihn jedes Jahr. In diesem Land sind alle Jahreszeiten so lang, dass man glaubt, sich in einem ewig währenden Zustand zu befinden, jedes Mal, wenn eine Jahreszeit lang genug war, um sich um uns zu schließen. Drei Monate Sommer, drei Monate Herbst, drei Monate Winter, drei Monate Frühling.
Jetzt ist wieder Sommer.
Alles, was in Stockholm geschehen ist, ist lange her.
Wenn Ole sich über mich lustig machen will, nennt er Sandøya Saltkrokan. »Wir auf Saltkrokan – zwanzig Jahre später«, sagt er. Es ist nicht freundlich gemeint. Zu viel Idyll. Zu viele Spitzengardinen und Kelims vor den Zusammenbrüchen, Scheidungen und existenziellen Schiffbrüchen. Bald wird uns auch der junge Autor Roy Jacobsen in der Zeitung verspotten. So kann man doch nicht wohnen, in kleinen idyllischen Holzhäusern. »Harmonie kann ebenso provozierend wirken wie eine gute Melodie«, sage ich zu Ingar Marcussen, der soeben mit seiner Familie auf die Insel gezogen ist. Er ist Architekt, seine Frau Architektin. Er hat eine Brille wie die deutschen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit. Er ist fast so groß wie ich und kann nie aufhören, sich über seine Arroganz lustig zu machen. Die kann aber auch reichlich abscheulich sein. Aber wenn sich sein Gesicht zu einem Lächeln öffnet, einer plötzlichen und unerwarteten Anerkennung oder sogar zu einem Eingeständnis, dann ist er unwiderstehlich. Mir ist noch nie ein Mensch mit einer solchen Ähnlichkeit mit Gustav Mahler begegnet, und als ich ihn dann besser kennenlerne, werde ich um ein Haar zum vollwertigen Anthroposophen und halte ihn für die Inkarnation von Mahler, mit derselben Schönheit, mit Himmel und Hölle in seinem Inneren. Er kann ebenso lärmend entsetzlich sein wie die meisten ersten Sätze in Mahlers Symphonien, wo die Wiegenlieder der Kindheit mit den kräftigsten Militärmärschen und für Skelette geschriebenen Walzern ringen, die Kastagnetten wurden ersetzt durch klappernde Särge, genau wie in den Scherzi. Aber außerdem ist in ihm Platz für die langsamen Sätze, die himmelstrebenden Themen, die nie ein Ende finden, Liebeserklärungen mit so viel existenziellem Schmerz, so tiefer Trauer, dass ich mich frage, woher er eigentlich kommt, auch wenn er behauptet, von der Akersborg terrasse. Den Namen Marcussen jedoch hat er von den Gutsbesitzern auf der Nachbarinsel Askerøya, einer Sippe mit viel Charme und keinem geringen Grad an Selbstbewusstsein. Es war Ingars Tante, die mich im Rathaus von Tvedestrand angeschrien hatte in den siebziger Jahren, als ich mit keiner Geringeren als Lillebil Ibsen auf der Bühne stand. »Leiser spielen, Bjørnstad!«, hatte sie gerufen. Ingar erinnert mich immer wieder an diese Episode. Er stammt aus einer Familie von starrköpfigen Menschen mit scharfen Ohren, Grundbesitz und fixen Ideen. Sein Verwandter Jens Marcussen wird seinen Platz in der neuen rechtspopulistischen FRP finden, Ingar dagegen gehört keiner Partei an. Er gehört nur sich selbst und der wunderbaren Familie, von der umgeben zu sein er das Glück hat. Ich habe schon in den sechziger Jahren von seiner Frau geträumt, viele Jahre ehe ich ihr zum ersten Mal begegnet bin.
Inzwischen sind wir so viele Zugezogene auf dieser Insel, dass wir angefangen haben, uns in Gruppen zu sammeln, Literaturgruppen und Musikgruppen, um uns daran zu erinnern, woher wir kommen, aus den Städten und der Urbanität, aus Konzerthäusern, Theatern und Rockclubs, aus Buchläden, Musikgeschäften und Kunstgalerien.
Ingar macht diese Flucht für viele von uns möglich. Er hat sich darauf spezialisiert, Kopien von sogenannten Südküstenhäusern, Schifferhütten oder wie immer man es nennen will, zu entwerfen. Er hat sich mit der Gemeinde wegen Grundstücken und Abwasseranlagen gestritten. Er sorgt dafür, dass noch die Ärmsten unter uns mit bloßen Händen ein Haus bauen können. Er will nicht mit druckimprägniertem Material bauen. »Am Ende muss alles zerfallen«, sagt er. »Verfaulen. Verschwinden. Platz für neues Leben machen. Wenn wir solche grundlegenden Dinge nicht begreifen, haben wir hier auf der Erde nichts zu suchen.«
Obwohl er herkömmliche Einfamilienhäuser entwirft, ist er Spezialist für moderne Architektur, das Erbe von Bauhaus, Gropius und van der Rohe. Ich weiß nicht so ganz, was er will, wenn er diese Pioniere erwähnt, ob er ihnen huldigen oder sie heruntermachen will. Aber unser Haus hat bereits seinen Hass erregt.
»Ein schnödes Rødland-Haus. Damit kannst du dich nicht sehen lassen, Ketil, auf so einer Insel.«
»In der Zeitung hat doch schon gestanden, dass es hier draußen zu viel Idylle gibt.«
»Redest du hier von Dagbladet? Sag mal, liest du auch dein Klopapier?«
Wir stehen an einem heißen Junitag vor dem Haus, kurz vor einem Fest. Wir sind beide guter Laune. Jetzt ist die Zeit für die großen Ideen. Fliederduft, Schalentiere, Weißwein.
»Sieh doch mal, was ihr für einen Dachboden haben könntet. Keine Idylle, sondern einen Geistesbau!«
Ingar zeichnet einen Grundriss in die Luft. Ich folge seinen Handbewegungen und sehe, dass das Haus doppelt so groß wird, mit riesigem Dachboden und Erkern.
»Ein ganz anderes Haus«, sage ich.
»Genau«, sagt Ingar.
»Aber ich kann mir das nicht leisten«, sage ich.
»Wer denkt an Geld, wenn man große Kunst erschafft?«, sagt Ingar.
»Ich werde es mir überlegen«, sage ich.
»Aber ich hatte jetzt die Idee«, sagt Ingar. »Ich schlage vor, wir sagen, Baubeginn nächstes Jahr.«
»Aber man kriegt den Flügel nicht hoch auf den Boden, Ingar.«
»Natürlich nicht. Da wird der Webstuhl deiner lieben Hausgenossin stehen. Du musst in den Keller, du armer Wicht. Wo du hingehörst.«
Juni 1980. Die langen Tage, an denen man nicht weiß, ob man arbeitet oder Ferien hat. Er sitzt am Flügel, weiß aber nicht, ob er arbeitet oder nur spielt. Was denken sie drüben in Schweden? Welche Erwartungen haben sie an Och människor ser igjen? Er denkt an die hoffnungsfrohe Stimmung am letzten Tag im Studio. Ola Brunkert war zu ihm gekommen und hatte ihn umarmt. Finnes du noensteds ikveld war gleich beim ersten Versuch gelungen. Es wurde so gefühlsstark. Alles, was sie damals nicht wussten. Dass Ola viele Jahre später in seinem Haus auf Mallorca in eine Glastür laufen und sich eine tödliche Wunde am Hals zuziehen würde. Dass sich Conny, der unglaubliche Gitarrist mit den kleinen lateinamerikanischen Instrumenten mit Idas Schwester Jannicke zusammentun würde. Dass das nur der Anfang einer lebenslangen Freundschaft zwischen Lill und ihm war. Er war zu Anders Burman gegangen und hatte gefragt: »Seid ihr enttäuscht, wenn das keine Hunderttausend verkauft?« Der Produzent hatte ihm beruhigend auf die Schulter geklopft. »In dieser Branche ist nichts vorausbestimmt, junger Mann. Wir müssen einfach abwarten.«
Und es waren noch viele Monate bis zur Veröffentlichung.
Ihm ging auf, dass er jetzt vom Verkauf abhängig war. Es bedeutete etwas, dass Tidevann auf der Bestsellerliste von VG vertreten gewesen war. Er musste schließlich das Geld besorgen, aber plötzlich hatte sich die Entfernung zwischen dem Geld und ihm vergrößert. Manchmal lebte er von seinem überzogenen Konto. Dann wurde er nervös und lag nachts wach. Sein Manager, Paul Karlsen, schien das verstanden zu haben. Jedenfalls wurde er ein weiteres Mal zu einem Soloauftritt auf Karløya eingeladen, zwischen Santana und Tom Robinson. Was für eine Ehre, dachte er. Wurde er jetzt zum Popmusiker? Oder schlimmstenfalls: Schlagerkomponist? Sollte er diesmal ein E-Piano riskieren? Es hatte ihn oft überrascht, dass Elton John, der doch wirklich Klavier spielen konnte, den Flügel auf seinen Schallplatten so grauenhaft klingen ließ. Keine Obertöne, nichts von der Wärme in seiner Stimme. Hatte er den Klang des Flügels von Manfred Eicher von ECM nicht gehört? Begriff er nicht, wie viel besser es klingen konnte? Aber wer Schallplatten verkaufte, das war Elton John. Hunderttausende.
Auf der Insel und in der Stadt lag viel Energie in der Luft. Der Besuch in Stockholm war eine Vorwarnung gewesen. Er hatte so viele Menschen gesehen, die auf dem Dach der Welt einherschritten, die die Gnadengabe der Selbstsicherheit besaßen. Und niemand von denen, die ihm begegnet waren, hatte sich um Geld sorgen müssen. Aber das Geld kam nicht bei allen an. In Oslo gab es trotzdem noch mehr junge Männer im Anzug, die zwischen Banken und Maklerfirmen hin und her rannten. Es gab einen Willen zur Expansion, der sich sogar auf der Insel niederschlug. Die neuen Häuser, die gebaut wurden, mussten mit etwas gefüllt werden. Er dachte plötzlich an Tante Svanhild, die seit über fünfzig Jahren in der Gabels gate wohnte. Dieselben alten Möbel, das Sofa, das sie aus ihrem Elternhaus in Fredrikstad mitgebracht hatte. Er war immer so gern bei ihr. Spürte etwas, das fast ewig sein könnte, das sie aber doch, wie er vorausahnte, bald verlassen würde.
Die langen Tage auf der Insel brachten ihn auf solche Gedanken, ließen ihn zwischen den kleinen Häusern herumlaufen, die sich bald mit Menschen füllen würden, und denken, dass etwas passieren würde, dass etwas eine Vorwarnung war, nur ein Ton, fast wie das Signal einer Trillerpfeife, unhörbar für alle anderen außer denen, die die Möglichkeit des Geldes sahen, die Möglichkeit der Expansion. Ingar saß in seinem Architektenbüro in Tvedestrand und zeichnete ein ganz neues Haus für ihn und seine Geliebte, die ihren Namen nicht genannt haben will, über die er aber dennoch schreiben darf. Die er die Andere nennt.
Auf Kalvøya steht der Festivalleiter Paul Karlsen in seiner Lederweste und raucht Pfeife. Das warme Lächeln, das er immer sieht, selbst wenn er mit Paul nur telefoniert, und das tut er oft. Paul hat einen Teil seiner Tourneen übernommen. Es gibt nicht länger nur die Rikskonzerte. Noch im Winter war er mit Paul nach Lillehammer gefahren. Paul vernebelte das ganze Auto mit seiner Mac Barens-Mischung, aber es roch süß und gut.
Noch hatte er das Gefühl, nicht ganz zu begreifen, was Paul von ihm wollte. Paul hatte so viel größere Künstler in seinem Stall. Cornelis Vreeswijk zum Beispiel. Im Frühjahr hatte er angekündigt, mit ihm sprechen zu wollen, hatte aber nicht gesagt, worum es ging.
An diesem Abend, als der Winter seinen Griff gefestigt und die Straßen mit Schneeglätte überzogen hatte, schob Paul plötzlich eine Kassette in die Anlage.
»Ich dachte, das müsstest du hören«, sagte er und drückte auf Play.
Zum allerersten Mal hörte er The Police. Reggatta de Blanc.
Zuerst fiel ihm das Schlagzeug auf. Stewart Copeland. So etwas hatte er noch nie gehört. So aggressiv und zugleich so frei. Keine lärmende Sinnlosigkeit, wie er sie im Punk oft fand, sondern eine virtuose Technik, die gewaltige dynamische Möglichkeiten schenkte. Er fing an zu lachen.
»Ist das nicht etwas ganz Besonderes?«, fragte Paul.
Im selben Augenblick hörte er die wogende, strömende Gitarre von Andy Summers, der ihn in Bring on the Night fast in Ekstase versetzen sollte. Und die ganze Zeit war Sting da, laut und leise, mit seinem tiefen präzisen Bass und der hellen, intensiven Stimme.
»Wirklich? Ein Trio?«
»Sicher«, sagte Paul und machte einen langen Zug aus seiner Pfeife.
»Das ist die neue Zeit, Ketil!«
»Im Moment ist so schrecklich viel die neue Zeit.«
»Wie meinst du das?«
Er wusste nicht, was er meinte. Aber das hier war eine musikalische Landschaft, in die er sich mehr und mehr hineinsehnte. Auf der Insel hatte der Keramiker Eyvind ihm so viel über Rock beigebracht. Über Gruppen, von denen er noch nie gehört hatte. Endlose Abende konnten sie beieinandersitzen und Schallplatten laufen lassen. Außerdem gab es im NRK die großen Abendsendungen von der Loreley, wo die allergrößten Künstler auftraten. Dort hatte er zum ersten Mal Genesis auf der Bühne gesehen.
Als ob er sich nach festeren Rahmen sehnte, statt nach der großen Freiheit des Jazz, die an einem schlechten Tag mit etwas Unverbindlichem verwechselt werden kann. Die neuen norwegischen Gruppen wie Kjøtt, The Cut und The Allerværste waren an ihm vorbeigeglitten. Aber De Press gefiel ihm, Andrej Nebbs Wahnsinn. Für Menschen, die auf der Straße Flügel zerschlagen wollten, hatte er immer Sinn. Das hatte er von Svein Finnerud und Bjørnar Andresen gelernt. Und Eyvind hatte ihn auf das Stavangerensemble aufmerksam gemacht, diese neue Version eines Orchesters, das Karsten Andersen, der Jugendfreund der Mutter, in den sechziger Jahren dirigiert hatte. Ein kleines Ensemble, das zu einem Symphonieorchester heranwachsen konnte, das jede Woche im Radio zu hören war, mit Light Music als Spezialität. Aber das neue Stavangerensemble war alles andere als light. Als er an jenem Abend mit Paul nach Lillehammer gefahren war, hatte er gedacht, dass The Police gerade im Moment den maximalen Ausdruck habe. Sie schufen eine wirklich moderne Musik, die mehr war als ein Fragment. Sie legten die Prämissen für diesen Teil der zeitgenössischen Musik, der sich weit fort von den Albernheiten der Avantgarde-Musik befand. Er stand unter Schock, und das sah Paul.
»Und was wirst du daraus machen?«, fragte Paul mit einem Lächeln.
Er wusste es nicht. Noch nicht. Er glitt auf Kalvøya in den Backstagebereich und sah, dass Paul zu den Wolken starrte. Er lebte vom Wetter. Wenn es an dem Wochenende regnete, an dem das Kalvøya-Festival laufen sollte, verlor er mehrere Jahreseinkünfte. Wenn die Sonne schien, verdiente er sie. Er kann sich an das Wetter an jenem Tag nicht mehr deutlich erinnern. Aber draußen im Gras sitzen viele Tausende. Er würde gern ganz anders spielen als beim letzten Mal. Woher kommt diese Aggression? Er hatte sich seit zwei Tagen nicht mehr übergeben. Sein Körper kam ihm ruhiger vor, aber sein Gewissen war schwärzer. Sowie er zu viel aß, stellte sich der Speck wieder ein. Das war der Albtraum, dass er wieder die Kontrolle verlieren könnte. Die Unruhe war ein Teil dieser Aggression. Er suchte nach einer Kontrolle, die er nicht hatte, außer wenn er sich dem Ende eines Romans oder einer Schallplattenproduktion näherte. Dann musste er Entscheidungen treffen. Und Entscheidungen zu treffen fiel ihm leicht. Fast so leicht wie Ole. Blitzschnell. Ganz ohne Bedenkzeit. Er hätte ein Haus ungesehen kaufen können. Er hätte einer Frau, die ihm noch nie begegnet war, einen Heiratsantrag machen können. Und er wusste noch nicht, ob das eine Stärke war oder eine Schwäche.
Er staunt noch immer darüber, dass er, der den fünften Platz anstrebte, niemals Angst vor großen Bühnen hatte. Aber in dieser Art von Musik gab es viele, die einander halfen. Sven Persson saß dort draußen irgendwo im Publikum. Für ihn spielte es keine Rolle, ob ihm hundert oder 15 000 zuhörten. Viele Jahre später sollte er bei den größten Stadionkonzerten von a-ha den Ton mischen. Wir kannten einander jetzt. Waren Freunde. Er hatte in seiner Kindheit einige Sommer auf Sandøya verbracht. Ich konnte Dalsland oder Fugløya sagen und er wusste, wovon die Rede war. Dieses große Podium mit dem kleinen elektronischen Flügel betreten. Ich war jetzt von Sven abhängig. Er musste die Obertöne finden, die es in einem akustischen Instrument gab, welche die digitale Wirklichkeit aber niemals herbeischaffen konnte. Er sollte mir die Klänge zurückgeben, die ich nicht selbst hervorbringen konnte. Die Töne, für die ich mich beim Spielen entschied, waren nur digitale Signale. So, wie ein E-Gitarrist Hilfe von seinen Pedalen braucht, von Delay und Reverb, brauchte ich Hilfe von Svens Mischpult dort draußen in der Menschenmasse. Solange er dort war, fühlte ich mich sicher. Ich hatte keine Angst vor dem Digitalen. Gerüchte behaupteten bereits, dass es bald eine digitale Methode geben würde, um Schallplatten abzuspielen, die sogenannte CD oder Compact Disc, bei der der Klang mithilfe von binären Codes wiedergegeben wurde, nicht analog. Das alles überstieg jedenfalls meinen Verstand. Dass eine Codesprache, die auf den Ziffern 0 und 1 aufbaute, den Klang akustischer Instrumente wiedergeben konnte, war eine Tatsache, die ich niemals begreifen würde, sowenig, wie ich begriff, dass zwei kleine Lautsprecher den Klang einer Stradivari wiedergeben konnten.
Sven da draußen im Publikum. Ich hinter dem Klavier. Dem elektronischen. Dem ohne Obertöne.
Ich verspürte dennoch eine seltsame Freiheit. Fühlte mich zu einer Welt hingezogen, die so weit von Bechstein, Steinway und einem akustischen Klangbild entfernt war wie überhaupt nur möglich. Die Sehnsucht nach dem Klangraum des Synthesizers, der Energie in der Musik, die Strom brauchte, um zu funktionieren. Ich hatte das Klangbild von The Police im Kopf. Aggression als Triumph, wie ein liebevolles und dennoch menschliches Projekt. Sich trauen, Gefühle zu zeigen. In einer elektronischen Wirklichkeit konnte das so gewaltsam werden. Aber dort draußen im Juniabend wusste Sven, wo ich hinwollte. Er fing eine Phrase auf, schleuderte sie durch das Mischpult und den Klang, der ihm zur Verfügung stand, schickte sie zurück aufs Podium, über das enorme PA-System auf beiden Seiten der Bühne, mit Delay, Verspätungen und Klangskulpturen, die ich auffing, die auf meinen Monitor zurückkehrten und mir neue Ideen gaben. Als säße ich in einer Apollo-Kapsel weit draußen im All und spräche mit Houston. Wir waren beide abhängig voneinander, wenn das hier gut werden sollte. Aber Sven kannte ich, und er wusste, was Dalsland war, er wusste von den Pfaden draußen bei Hella, er kannte Hans Petter auf Hauketangen, er erinnerte sich an die alten Tanten und er wusste, welche Musik mir gefiel, welche ihm selbst gefiel. Und, das Wichtigste von allem, wir machten es nicht für Geld. Wir hätten auch gratis auftreten können. Aber wir glaubten an diese Art, miteinander zu reden. Durch die Musik. Das, was Paul Karlsen antrieb, trieb auch uns an. Die Freude, etwas entdeckt zu haben, das außerhalb der Diagramme, Prognosen und Statistiken der Maklerwelt und der Geldleute lag. Und ich weiß nicht einmal mehr, was ich gespielt habe. Aber ich weiß, dass ich mit Sven im Duett spielte, auch wenn die Wenigsten begriffen, dass noch ein anderer da war. Einer, der durch Klänge sprach, durch Verzögerungen, durch Strom. Ja, jetzt weiß ich es wieder. Eine Regenfront fegte vorüber. Danach ging ich hinter die Bühne und fand eine Toilette. Santana lächelte mich an und machte sich bereit für seinen Auftritt.