Kitabı oku: «Selamlik», sayfa 2
IN RAUM 333, TEIL 1
Ich stellte die Tasche auf den Boden. Sein Bett war nicht gemacht; das Matepulver im Glas war getrocknet und ein markanter Geruch entströmte der Teekanne. Auf der Kommode lagen Medikamentenschachteln und der Sessel war übersät mit Papieren. Ich wischte den Tisch ab und räumte die Medikamente und CDs zur Seite. Dann nahm ich meine Sachen aus der Tasche, eine lange und zwei kurze Hosen, mein blaues Hemd und ein paar Unterhosen. Ich hängte alles in den Schrank neben meinem Bett. Die zwei Bücher, die ich gekauft hatte, einen englischen Roman und einen Band Theaterstücke, stellte ich auf den Tisch neben seine dermatologischen Fachbücher. Er hatte einen CD-Player und eine CD von Mustafa Yuzbaschi. Ich hatte noch nie von dem Sänger gehört, also nahm ich die CD und las die Titel der Songs: Ich sehne mich nach deinen dunklen Augen, Weshalb hat dein Herz mich verlassen? und Erlöse mich, eins von Alis Lieblingsliedern, wie ich später erfahren sollte. Ich wollte die CD gerade abspielen, als mich der Gedanke durchfuhr: «Heute ist al-Assads Trauertag, es ist verboten, Musik zu hören oder Filme zu schauen.» Ich hielt die CD in der Hand, fragte mich, was für eine Art von Musik sie wohl enthielt und stellte mir vor, wie Ali sie sich anhörte.
Es mag zwei Uhr morgens gewesen sein; ich saß auf dem Sessel und hatte die Fenster weit geöffnet. Eine ungewöhnliche Stille erfüllte die Nacht, aber aus irgendeinem Grund spürte ich, dass sich am Morgen alles ändern würde. Eine Zeit der Ungewissheit würde anbrechen, in der Hafiz’ allgegenwärtiges Gesicht nicht mehr an den Wänden der Unterrichtsräume von Schulen, Colleges und Universitäten überall im Land hängen würde. Doch wie würde es weitergehen, jetzt, wo er fort war? Der Staat war es schon so lange gewohnt, unter seiner Knute zu stehen, dass man sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. Ich zog mich aus und legte mich auf Alis Bett, stellte mir vor, wie er meine Hand hielt. Ich rief die Erinnerung wach, wie er mich berührt hatte und ein Stromschlag von Kopf bis Fuß durch mich hindurchgefahren war. Schließlich gewann die Müdigkeit die Oberhand und ich fiel in tiefen Schlaf.
Fahrgeräusche weckten mich. Das Sonnenlicht füllte bereits den Raum. Ich drehte mich um, um nach der Uhr zu greifen. Mein Rücken war nass vom Schweiß, meine Brust, die Arme und das Laken waren so nass, als ob ich die ganze Nacht Sex gehabt hätte. Ich zog die Shorts an und öffnete die Tür. Einige Studenten, die die Nacht hier verbracht hatten, gingen mit ihren Taschen schnell den Flur entlang. Auf dem Weg zum Waschraum ging ich an ihnen vorbei. Der Waschraum war leer, aber ich hörte die Stimmen der Studenten, die draußen für den Bus Schlange standen. «Woher stammst du?» Ich drehte mich um. Ein mittelalter Typ, klein und stämmig, war aus dem Nichts aufgetaucht. Er betrachtete mich verstohlen aus einer Ecke des Waschraums. An seinem verwuschelten Haar sah man, dass er gerade erst aufgewacht war. Seine Brille rutschte ihm fast von der großen Nase. «Ich komme aus Deir ez-Zor», erwiderte ich. Er stellte sich als Doktor Omar vor. «Sieht so aus, als gingen die meisten der alawitischen Studenten zurück in ihre Dörfer in den Bergen.» Er grinste. «Sie sind traurig, dass ihr unsterblicher Held gestorben ist, und haben Angst vor dem, was jetzt passieren könnte. Es ist sicherer, die Stadt erst einmal zu verlassen, meinst du nicht auch?» Wegen seines starken Akzents nahm ich an, dass er aus der Provinz Idlib stammte. Was er sagte, klang verdächtig nach Muhabarat, deshalb schlich ich mich davon, ohne zu antworten.
Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Die zufällige Begegnung mit einem Fremden machte mir klar, dass sich Gefahr und Anspannung im gesamten Gebäude ausbreiteten.
Meine Tasche stand noch mitten im Raum und starrte mich an. Ich spürte das Bedürfnis, sofort abzureisen. Mich erotischen Fantasien über einen Mann wie Ali hinzugeben war äußerst gefährlich. Er kam aus einer berühmten Alawitenfamilie und könnte mich und meine Familie in den Fokus der Geheimpolizei bringen. Ich ging hastig die Treppen hinunter und hinüber zur Telefonzelle am Eingang, in der linken Hand fest umklammert mein Buch. Die Sonnenstrahlen trafen erbarmungslos jeden, der sich ihnen aussetzte, mein Kopf begann wieder zu schwitzen. Ich hob das Buch, um mich vor ihnen zu schützen. In der Telefonzelle stand ein riesiger bärtiger Mann und rief: «Der Löwe ist tot, hast du verstanden, du Hurensohn? Bist du jetzt glücklich? Wir werden dich schon kriegen!» Er warf den Hörer auf die Gabel, knallte die Tür zu und stieg schnell in den Bus.
«Schön, dich zu sehen!» Ali lächelte breit. Die Sonne brannte, ich konnte kaum die Augen öffnen. Er hatte sich zwei Tage lang nicht rasiert und sah noch männlicher aus. «Lass uns wieder reingehen, hier ist es zu heiß», flüsterte er. Er trug ein hellgraues Shirt und eine dunkelgraue Hose. Ich hatte Angst davor, mich der Gefahr auszusetzen, die er jetzt darstellte, aber das Verlangen nach ihm war stärker.
Unser Raum war wirklich sehr klein, ohne Badezimmer und mit nur einem Sessel unter dem offenen Fenster, durch das warme Luft hereinkam. Ali zog die Jalousie hinunter. «Bei dieser Hitze machen wir sie lieber zu, okay?» Bei den Worten fing er an, sein Hemd aufzuknöpfen. Die letzten beiden Tage waren für mich eine Achterbahn der Gefühle gewesen; die Vorstellung, mit ihm allein zu sein, hatte mich erregt, aber jetzt schämte ich mich, weil er merken könnte, dass ich in seinem Bett geschlafen hatte. Er zog das Hemd aus; sein muskulöser Körper und die braune Haut waren eine enorme Versuchung. «Du bist solch ein schöner Junge», sagte er und ging zum Schrank, um sein Hemd aufzuhängen. Ich blickte starr auf meine Reisetasche; mein Verlangen zu bleiben war stärker als der Wunsch, aus Furcht wegzulaufen. Ich hatte das Buch in der Hand zusammengerollt; meine verkrampften Finger pulsierten in elektrischen Zuckungen, aus Furcht, mich meinem sexuellen Verlangen hinzugeben. Bevor ich etwas sagen konnte, nahm Ali meine Hand und zog mich zum Bett. Instinktiv wich ich zurück, aber er hielt meine Handgelenke fest im Griff; seine warmen Lippen küssten meinen Nacken. Seine behaarte Brust rieb sich an meinem Rücken, und mit der linken Hand streichelte er mir den Kopf. Als sein Atem heftiger wurde, schloss ich fest die Augen. Er zog mich an den Haaren und fuhr mit dem Bart über meine Lippen, wie ein Tier, das seine Beute begutachtet, bevor es sie verschlingt. Mein Körper zitterte bei dem Gedanken, dass das, was wir taten, äußerst gefährlich war. Er führte meine Hand an seine Leiste und gab mir mit dem Kopf das Zeichen, ihm den Reißverschluss zu öffnen. Meine Hand war erstarrt und mein Verstand kurz davor zu implodieren; alles sträubte sich dagegen, die Grenze zum unbekannten Territorium der Lust zu überschreiten. Ich legte die Hand auf seine Hüfte. Er schob mich zum Bett und flüsterte: «Hab keine Angst.» Dann öffnete er selbst den Reißverschluss. «Nur zu, fass ihn an.»
Unsere nackten Körper lagen auf dem Bett, bedeckt mit Samen und Schweiß. Meine Schulter berührte Alis Rücken, braun und glatt. Er schlief, doch sein ruhiger Atem konnte meinen Verstand nicht davon abbringen zu denken, dass das, was wir gerade getan hatten, haram * war. Der Roman lag auf dem Boden, er war aus dem Bett gefallen, als Ali mir die Shorts ausgezogen hatte. Ich fragte mich, ob Gott nach dem, was ich getan hatte, meine Literaturprüfung segnen würde. Plötzlich nahm Ali meine Hand und legte sie auf seine Brust. «Ich habe immer davon geträumt, einen Zimmergenossen wie dich zu haben.»
«Meinst du, sie würden uns einsperren?», fragte ich. Er stand auf und ging zum Tisch, nahm die Teekanne und schüttelte sie. «Zieh dich an und hol Wasser, damit ich Mate kochen kann.» Ich drehte mich im Bett nach ihm um. «Ich meine das ernst, meinst du, sie würden uns einsperren?» Er stellte die Teekanne wieder auf den Tisch. «Wenn du die Geheimpolizei meinst, die sind so dumm, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, zwei Männer könnten Sex haben. Sie verfolgen heterosexuelle Männer, die Frauen belästigen.» Er lachte und fuhr fort: «Wusstest du das? Ich habe gehört, dass Studenten sich Burkas angezogen haben, um sich in den Mädchenflügel zu schleichen und dort Sex zu haben.»
Ich fragte ihn nach Gott. Er meinte: «Welcher Gott würde dich bestrafen, weil du Liebe gefunden hast?» Ich nahm die Teekanne und ging in die Küche.
Am Nachmittag schoben wir die beiden Einzelbetten zusammen. Ali merkte, wie ich ihn beobachtete, als er die Matratze und die Kopfkissen bezog. Ich spürte, dass er der Mann war, den ich wollte. Das Zimmer fühlte sich plötzlich wie ein Zuhause an, obwohl kaum Möbel darin standen. All meine Ängste waren verflogen, doch ich bat ihn, keine Musik zu spielen und die Staatstrauer zu respektieren. «Ich hoffe, du sagst das nicht, weil du weißt, dass ich zur selben Konfession gehöre wie die Familie al-Assad. Aber ich werde mein Lieblingslied spielen.» Er drehte die Lautstärke des CD-Players so weit hinunter, dass wir fast nichts mehr hören konnten. Wir lachten beide über die absurde Situation, hielten uns aber die Hand vor den Mund, damit uns niemand hörte. Ich holte meine Kopfhörer und wir setzten uns nebeneinander auf das schmale Bett, um Erlöse mich zu hören. Ali summte mit und küsste mich sanft auf die Stirn.
IN RAUM 333, TEIL 2
Nachts um elf ging ich mit bloßem Oberkörper zum Fens-ter und schaute hinaus. Unten in der Amir-al-Schuaraa-Straße stand ein junger Mann unter einer Laterne, wie es viele Studenten in den warmen Nächten vor den Sommerferien taten. Das Licht der Laterne fiel in den dunklen Raum, denn wir hatten das Licht ausgeschaltet. Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und sah Alis Silhouette den Raum betreten. Er zog sich aus und kam auf mich zu. Ich spürte seinen warmen, nackten Körper an meinem Rücken. Ich schloss das Fenster und gab mich ihm hin.
Das Quietschen des Betts beim Ritual des Sex war so laut, dass man es bestimmt noch im Nachbarzimmer hören konnte. Ali hielt ein und gab mir ein Zeichen, die Matratze auf den Boden zu legen. Ich erlebte den ersten Sex auf einer schmalen Matratze auf dem Boden im orange flackernden Licht einer Laterne. Er war sehr erfahren und reagierte behutsam, als er spürte, dass ich nicht wusste, wie ich mich bei diesem Initiationsritus verhalten sollte.
Ein Klappern auf dem Flur ließ uns erstarren. Ali drehte sich zum Nachttisch, um auf die Uhr zu sehen, es war drei Uhr morgens. Der eigenartige Lärm wurde immer lauter und verstummte plötzlich direkt vor unserem Zimmer; durch den Spalt unter der Tür sahen wir einen Schatten. Der Gedanke, jemand könnte uns erwischen, versetzte mich in Panik. Zum ersten Mal verzog sich Alis schöner Mund zu einer Grimasse. Draußen bearbeitete jemand heftig die Zimmertür. Ich hielt die Luft an, vor Angst, er könnte die Tür aufbrechen. Plötzlich verstummte der Lärm.
Ich atmete auf.
Schweigend stand ich auf und legte meine Matratze wieder auf das Bettgestell; dann zog ich die Hose an. Danach zog auch Ali sich an. Er kam zu mir und gab mir einen sanften Kuss, aber ich sah die Angst in seinem erschrockenen Gesicht. Wir lagen jeder in seinem Bett und versuchten, ein wenig zu schlafen. Von den Moscheen erklang der Aufruf zum al-Fadschr *. Von einem Minarett auf dem Hügel, auf dem sich das Studentenwohnheim befand, hörten wir die tiefe Stimme des Muezzin: As-salat chairun min an-naum *. Die Worte flogen über die Dächer der Villen davon. Ich starrte mit offenen Augen an die Decke, die von den Straßenlaternen erhellt war; ein eigenartiger Impuls überkam mich, ich sprang auf, wusch mich und betete. Nach dem Adhan * rief der Muezzin: «Betet für al-Assads Seele.»
Der Ruf war beendet, und ich hörte Ali schnarchen. Ich kroch unter das Laken und versuchte zu schlafen.
Es mochte gegen sieben Uhr am Morgen sein, als jemand an die Tür klopfte und etwas rief. Ali war schon wach; er flüsterte: «Keine Angst, er soll uns nur wecken.» Er kam zu meinem Bett und setzte sich zu mir. Der Mann draußen ging weiter und klopfte an alle Türen. «Aufwachen, aufwachen, kommt zur Übertragung der Trauerfeier!»
Die Stimme war immer noch in der Ferne zu hören, als Ali sein Handtuch nahm und die Tür öffnete. Jemand hatte ein Plakat mit dem Porträt von Hafiz’ Sohn Baschar an die Tür geklebt; als Ali direkt daneben stand, sah es aus, als befände sich eine dritte Person zwischen uns beiden. Er witzelte: «Nein, wir machen keinen Dreier.» Ich trat in den Flur. Das Bild von Baschar al-Assad, umrahmt von der Nationalflagge, klebte auf jeder Tür. Ali sagte: «Geh wieder rein, wir sind hier, um uns zu lieben, nicht um zu trauern.» Dann schloss er hinter mir die Tür.
Ich verbrachte den ganzen Sommer mit Ali in Zimmer 333. Es war meine erste Liebesaffäre, bevor ich im September zurück nach Damaskus ging, um mein Studium fortzusetzen.
IM BUS
Einige dieser Ereignisse gingen mir jetzt wieder durch den Kopf. Es war der 10. Juni 2014, der Jahrestag von Hafiz al-Assads Tod und damit des Tages, an dem die «Ewigkeit» seiner Herrschaft endete. Ich saß mit anderen Asylsuchenden im Bus auf einer endlosen Fahrt nach Norden.
Ich verfolgte unsere Fahrt auf Google Maps und sah, wie der blaue Punkt einer gelben Linie folgte, hin zu unserem Ziel irgendwo in Südschweden. Im Bus saßen ungefähr zwanzig junge Leute, die sich fragten, wohin die Reise ging, aber der Fahrer blieb stumm. Der Bus hielt an einem großen See zwischen hohen Bäumen vor einem kleinen roten Haus. Ein Beamter der Migrationsbehörde stieg in den Bus und bat eine Frau mit Kindern auszusteigen. Sie weigerte sich und rief voller Angst: «Ich hasse Wasser, meine Kinder und ich haben genug davon.» Im Bus wurde es still. Der Beamte verstand nicht, was sie auf Arabisch gesagt hatte, und trug eines ihrer Kinder aus dem Bus. «Auf Wiedersehen», sagte die Frau. Die Fahrt ging weiter. Die Landschaft blieb immer gleich, wir fuhren zwischen hohen Bäumen und ich langweilte mich. Mit der Kamera in meinem Handy machte ich ein Selfie von mir in der letzten Reihe des Busses und schickte es meiner Schwester in Aleppo. Ich schrieb: «Alles in Ordnung. In Malmö hat man meinen Fingerabdruck genommen, und nun bringt uns der Bus der Migrationsbehörde in unsere Unterkunft. Ich halte dich auf dem Laufenden. Wünsch mir Glück.»
* Mit einem Sternchen gekennzeichnete Begriffe werden im Glossar am Ende des Buches erläutert.
KAPITEL 2
DER FRIEDHOF VON ÅSEDA
«Die Stadt heißt Åseda», sagte die Beamtin der Migrationsbehörde; wir waren zwei Stunden von Malmö hierhergefahren. Sie forderte mich auf, den Bus zu verlassen, und sprach dann mit dem Fahrer. Ich stand vor einem dreistöckigen Gebäude mit mehreren Balkonen, das hellgrün gestrichen war. Davor lagen hunderte von Zigarettenkippen auf dem Boden. Auf jedem Balkon sah man die dunklen Gesichter neugieriger Kinder, die durch die Stäbe des Geländers schauten. Die Männer und Frauen auf der Veranda starrten mich an. Ich blickte ihnen in die Gesichter und erkannte Menschen aus verschiedenen Ländern, von denen jeder eine Geschichte zu erzählen hatte. Im zweiten Stock sah ich einen einzelnen Mann und spürte, dass er Syrer war.
Die Beamtin gab mir einen Plastiksack, so strahlend blau wie der Himmel an diesem Tag. Aus dem Bus holte sie einen Karton, einen gewöhnlichen Pappkarton ohne besondere Merkmale. Das blasse Braun erinnerte mich an die karge Landschaft der endlosen Wüste wischen Deir ez-Zor und Damaskus. Ich nahm den Karton; er war nicht so schwer, wie ich vermutet hatte. Sie bat mich, ihr zu folgen, und als wir die Treppen emporstiegen, sah ich, dass sie einen Schlüsselbund in der Hand hatte. Wir betraten das Gebäude. Ein starker Duft nach Curry und Öl wehte durchs Treppenhaus, außerdem der vertraute Geruch eines arabischen Gerichts namens Muluchiya *. Die Mischung dieser starken Gerüche war abstoßend; um meine Verwirrung zu überwinden, drückte ich den Karton und den blauen Sack fest an die Brust und ging die Treppen hinauf.
Wir gingen in den zweiten Stock; die Beamtin schaute sich um, um sicherzugehen, dass dies die Wohnung war, die sie gesucht hatte. Ich stand ein kleines Stück hinter ihr und blickte auf ihren Rücken, mein Kopf war vollkommen leer. Sie klopfte mehrmals an die Tür und wartete. Von drinnen war nichts zu hören. Wir standen schweigend, während sie den richtigen Schlüssel suchte. Ich betrachtete die ungewohnte Umgebung und sah auf der Wand den schlecht gezeichneten Umriss einer Katze, die eine Ratte fing. Wahrscheinlich eine Warnung an die Bewohner, keinen Abfall im Treppenhaus liegen zu lassen. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, die Tür aufzuschließen, und wir gingen in die Wohnung. Der Flur war zugestellt mit Kartons und kaputten Möbeln. Ich sah in einer Ecke ein schmutziges Sofa und anderen aufgestapelten Müll. Die Beamtin der Migrationsbehörde war nicht überrascht von diesem Anblick. Sie führte mich in den Raum, in dem ich schlafen sollte, stieß die Tür mit dem Fuß auf und trat zur Seite, um mich eintreten zu lassen, während sie auf ihr Handy schaute. Wiederwillig betrat ich den Raum mit dem Karton und dem Plastiksack. Ich kam mir vor wie ein Gefangener.
Mit Ausnahme von zwei Bettgestellen ohne Matratzen war der Raum schmucklos und leer. Ein Bett stand unter einem großen Fenster mit einem quadratischen Stück schwarzer Baumwolle anstelle des Vorhangs.
«Dies ist Ihr Zimmer», sagte die Beamtin. «Hier bleiben Sie, bis Sie erfahren, was wir entschieden haben. In den nächsten Tagen wird jemand den Raum mit Ihnen teilen.»
Ich bat um einen Schlüssel für das Zimmer. «Asylsuchende haben nicht das Recht, ihre Türen abzuschließen», erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, und gab mir eine Mappe voller Papiere. Auf dem Deckel standen auf Arabisch die Worte «Willkommen in Schweden».
«Sie haben Glück, dass Sie im Sommer in Schweden eingetroffen sind», sagte die Beamtin und ging.
Ich starrte auf die Wände, die gelb von Nikotin waren, und eine Welle von Gefühlen schlug über mir zusammen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich schließlich den Plastiksack öffnete, den ich bekommen hatte. Darin befanden sich eine Matratze, ein blaues Handtuch und Bettwäsche. Dann öffnete ich den Pappkarton und fand einen Kochtopf, einen weißen Plastikteller, einen Becher, eine Gabel, einen Löffel und ein gezacktes Küchenmesser. Instinktiv entschied ich mich für das Bett unter dem Fenster und schob den Karton mit dem Fuß unter das Bett. Ich rollte die Matratze aus und legte Kissen und Decke auf das Bett. Das Tuch vorm Fenster hing schief; es war nur teilweise an der Schiene befestigt und kaum länger als das Fenster selbst. Als ich es zurechtzog, stieg eine Staubwolke auf; ich musste husten und öffnete das Fenster, um frische Luft zu schnappen. Erstaunt blickte ich direkt auf einen Friedhof. In dem Moment wurde mir klar, welchen Titel die Geschichte über meinen Aufenthalt in diesem Raum tragen würde.
Beim Blick auf die Gräber ließ ich mutlos die Schultern sinken; schon wieder war der Tod mein Nachbar. Wusste die Frau von der Migrationsbehörde nicht, woher ich kam? Natürlich nicht. Wie sollte sie wissen, dass mein Weg nach Schweden mit Leichen gepflastert war? Ich war über Tote hinweggestiegen, hatte mich unter Leichen versteckt und neben ihnen geschlafen, das noch frische Blut gerochen, das aus ihren Mündern lief. Nein, die Beamtin wusste nichts über meine Begegnungen mit dem Tod, über mein Leben, bevor wir uns in der Migrationsbehörde getroffen hatten. Sie konnte nicht wissen, dass ich als Kind meinen Vater im Sarg gesehen hatte und dass ich meine Mutter behelfsmäßig in einem Park beerdigen musste. Auch meine Freunde hatte ich auf einem provisorischen Friedhof zurückgelassen. Mein Geist ist ein Friedhof voller Erinnerungen an die Toten, ihre Geister verfolgen mich, wohin ich auch gehe.
Ich schloss das Fenster, zog das Tuch davor und setzte mich in frischer Trauer auf mein Bett. Auf der Suche nach ein wenig Hoffnung strich ich mit der Hand über die Zimmerwand, dann rollte ich mich auf der neuen Matratze zusammen, um die Gedanken in meinem Kopf zu beruhigen. Immer wiederkehrende Albträume verwirrten mich, machten mich müde und hungrig. An der Zimmerdecke sah ich eine feuchte braune Stelle, sie sah aus wie eine Landkarte von Syrien. Ich starrte sie an, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Schließlich vertrieb ich diese Halluzination.
In den nächsten Wochen verlor die Zeit ihre Bedeutung, Stunde um Stunde verging, in denen ich nutzlos herumsaß. Eines Morgens erwachte ich mit Magenschmerzen. Ich stand auf, trank etwas Wasser und verließ die Unterkunft für einen Spaziergang – nicht zum Vergnügen, sondern um die unendliche Langeweile zu bekämpfen. Nur wenn ich abends erschöpft war, konnte ich schlafen.
Ich schlenderte zum Friedhof auf der rechten Straßenseite. Gegenüber stand eine Ansammlung einstöckiger Häuser, die ich für ein Altenheim hielt. Ich fand es merkwürdig, dass die Regierung den älteren Dorfbewohnern den Weg zum Tod derart abkürzte. Ich ging den Hügel hinauf und bemerkte einige Holzhäuser, die in Pastellfarben gestrichen waren. Sie erinnerten mich an die Zeichentrickfilme, die ich als Kind gesehen hatte. Das Dorf selbst wirkte verlassen und leblos, wie versteinert. Wohin ich auch ging, alles sah wie ein Stillleben aus. Bei Wikipedia hatte ich gelesen, dass die Einwohnerzahl von Åseda 2430 betrug; ich hatte das merkwürdige Gefühl, das sie alle verstorben waren.
Ich ließ die letzten Häuser hinter mir zurück und ging in den Wald, in dem es geheimnisvoll ruhig war. Die tödliche Stille wurde nur durch meine Schritte und meinen Atem durchbrochen. Ein Fischadler drehte seine Kreise über dem Dach aus Koniferen; seine gleichmäßigen Bewegungen faszinierten mich. Wir waren beide aus demselben Grund hierher geflohen, zu diesem sicheren Hafen, einem schönen Ort mitten im Nirgendwo und ohne Bezug zur Welt. Selbst an diesem sonnigen Tag war der Boden feucht und dumpfig. Stundenlang streifte ich durch den Wald, ohne zu wissen, wo ich war, wie ein Kind auf der Suche nach dem Lebkuchenhaus. Von Zeit zu Zeit streifte eine sanfte Brise mein Gesicht und meine tropfende Nase. Diese Wanderung ließ mich das gespenstische Bild des Friedhofs vergessen. Als bei Sonnenuntergang der Tag zu Ende ging, kehrte ich zu meinem Bett zurück und legte den Kopf auf das Kissen, noch immer überwältigt von lebhaften Erinnerungen an mein früheres Leben, das unter all diesem Schutt begraben ist.
«Die Flitterwochen sind vorbei», hörte ich eine Stimme sagen. Ich stand draußen auf dem Küchenbalkon und sah hinab auf den leeren Spielplatz. Ich schaute mich um und sah Abu Halab, meinen Nachbarn, der eine Zigarette rauchte. Er erwartete keine Antwort; wir nahmen die Gegenwart des andern zur Kenntnis, lebten aber zurückgezogen in unseren inneren Welten. Er war Mitte zwanzig, trug einen schwarzen Bart und einen dicken Schnurrbart; er war nicht direkt schön, aber seine dicken Augenbrauen und langen Wimpern über den dunklen Augen ließen ihn attraktiv wirken. Obwohl er noch so jung war, verkörperte er eine spezielle Art männlicher Schönheit. Sein Kopf war rasiert wie bei vielen Männern hier, denn das Honorar des Friseurs betrug beinahe die Hälfte der Unterstützungszahlung für Asylbewerber. Abu Halab war einige Monate vor mir angekommen und erzählte mir, schon nach wenigen Wochen habe die schöne Landschaft begonnen, ihn zu langweilen. Zu Anfang fand er es aufregend, im Wald spazieren zu gehen und die Umgebung zu genießen. Doch seit einiger Zeit blieb er lieber in seinem Zimmer, lag im Bett, aß, masturbierte oder schlief. Schließlich bekam er die Erlaubnis, sich in Schweden niederzulassen, aber er fand keine Wohnung, um den Stall, wie er die Asylbewerberunterkunft nannte, verlassen und seine Frau aus Aleppo holen zu können.
Ich ging in die Küche, bereitete mir einen Tee und zog mich in mein Zimmer zurück; schloss den Vorhang und öffnete das Fenster. Mir wurde klar, dass Abu Halab recht hatte: Die Tage wiederholten sich monoton, die Schönheit verlor ihren Zauber, und die hässlichen und scheußlichen Dinge wurden vertraut. Der deprimierend dunkle Vorhang war jetzt praktisch, denn er schützte vor dem Licht der weißen Nächte. Der Friedhof kam mir nicht mehr unheimlich vor, ich sah die Grabsteine als kleine Statuen mit geometrischen Mustern. Ich schaute die Blumen an, die liebevoll vor jeden Grabstein gestellt wurden, und bald wartete ich geradezu auf das Eintreffen des Mannes mit Hut, der jeden Morgen mit seinem Jack-Russell-Terrier den Friedhof besuchte; wenn er einmal nicht kam, vermisste ich ihn. In Schweden sehen Friedhöfe wie Parks aus, in denen man spazieren geht, während in Syrien die Gärten und öffentlichen Parks zu behelfsmäßigen Friedhöfen geworden sind, weil sonst kein Platz ist, die Toten zu begraben.
Ich erwachte spät aus meinen Träumen, zitternd, zog den Vorhang zur Seite und sah, dass das Fenster an den Rändern von einem Spitzenmuster aus Raureif überzogen war. Ich schaute hinaus; das Laub der großen Eichen war gelb, rot und orange geworden und fiel zu Boden, ein Abschied vom Sommer. Die Blätter schwebten sanft zu Boden, ohne jedes Geräusch. Nur die immer noch grünen hielten sich stur an den Zweigen fest. Getrocknetes Laub bedeckte den Friedhof. Im Lauf der Nacht war die Temperatur abrupt gesunken, deshalb rückten die Toten zusammen und umarmten sich, um ihre Seelen zu wärmen. Im Herbstkostüm wirkte der Friedhof intimer. Eine sanfte Brise strich über die Gräber und fuhr unter die trockenen Blätter, dass es aussah, als würden sie an diesem kalten, aber sonnigen Morgen tanzen. Ich wandte mich vom Fenster ab und suchte nach jemandem, mit dem ich diesen flüchtigen Glücksmoment teilen könnte, aber ich sah niemanden. Alles war so ruhig, als würden die Bewohner noch schlafen. An der Wand der alten Kirche lehnte ein Fahrrad, die Kette hing hinab auf den Boden. Die Uhr oben am Turm zeigte immerzu Viertel nach zehn. Wie an jedem Morgen war nur eine kleine Gruppe von Enten auf der Straße unterwegs.
Ich zog meinen roten Mantel an und wickelte mir einen braunen Schal um den Hals. Die linke obere Ecke des Spiegels war abgebrochen, sodass ich nur mein halbes Gesicht sehen konnte. Als ich die Treppe hinabging, stellte ich mir vor, das ganze Haus würde nach dem Parfum duften, das ich nur zu besonderen Anlässen auflegte. Sobald ich draußen war, spürte ich die kalte Luft an den Fingerspitzen und Augen. Ich erinnerte mich, wie in Damaskus die Sonne auf das alte Haus schien, in dem ich wohnte. Ich konnte den Duft frisch gebackenen Brots am Morgen riechen und den würzigen Geruch von Geflügel mit Kichererbsen und Kumin. Ich drang immer tiefer in das Reich der Erinnerung ein und hörte Teelöffel und Teller beim Frühstück klappern. Das Gesicht meiner verstorbenen Mutter sah mich lächelnd an. Reisen in die Vergangenheit brauchen weder Pass noch Visum. Der Tagtraum war die einzige Hand, die sich mir zum Tanz entgegenstreckte.
Natürlich wusste ich, wo ich war; die Google Map auf meinem Smartphone zeigte einen Punkt «mitten im Nirgendwo», wie ein Freund sagte, als ich die Karte über Whats-App mit ihm teilte. Tatsächlich war ich in Småland, in der Provinz Kronoberg. Hier stand ich am Friedhof von Åseda, umgeben von einem bunten Teppich aus Herbstlaub. Plötzlich legte sich der Wind, und die Vögel verstummten. Alles um mich herum versank in Schweigen, wie auf einer Party, wenn alle Gäste ohne Abschied gegangen sind. Ich blieb lange stehen, während der Regen durch die Bäume niederfiel. Hinter den Grabsteinen hatte sich ein Rinnsal gebildet, über dem zwei Libellen um die Blumen flirrten. Als ich näher heranging, stieg vom feuchten Boden ein angenehmer Geruch auf. Im Gras neben einem Grabstein wuchsen Pilze; sie sahen aus wie die Zehen einer Leiche. Von Weitem zerstörte ein Rasenmäher den friedlichen Moment. Ich schlenderte zwischen den schwarzen Grabsteinen umher, auf denen Namen eingemeißelt waren wie die Signatur des Künstlers auf einer Statue. Mir fiel auf, dass die meisten Nachnamen auf «son» endeten; einer nach dem anderen, wie ein Museum der Geschichte des Todes. In der ersten Reihe schienen die ältesten Gräber zu liegen. Ihre Inschriften nannten Daten vor dem Ersten Weltkrieg, und die Todestage lagen nah beieinander, nach einem langen Leben. Zwischen diesen Toten fühlte ich mich wie ein Fremder; die meisten von ihnen lebten und starben, bevor ich geboren war.
Als ich den Süden des Friedhofs erreichte, rief der Geruch eines vertrauten Gewürzes die Erinnerung an die kleine Statue der Schmerzhaften Mutter wach, die in einer Ecke der Ananias-Gasse in der Altstadt von Damaskus steht. Ich dachte, der Geruch käme von der Kirche im Norden des Friedhofs, aber ich hatte mich geirrt. Ich ging zu dem kleinen Grab, auf dem in einem Schälchen Weihrauch brannte und eine dünne Rauchsäule aufsteigen ließ, daneben ein Klumpen von hartem, staubigem Wachs und ein Strauß roter Rosen, den man auf den weißen Marmor gelegt hatte. Auf dem Grabstein war das Foto eines jungen Mannes zu sehen, mit blauen Augen und schönem Lächeln, und einer Matrosenmütze auf dem langen, blonden Haar – ein Bild jugendlicher Lebensfreude. Er war 1996 geboren worden und 2014 gestorben. Unter dem Datum war ein Epitaph in den Stein gemeißelt, das ich nicht verstehen konnte. Der Anblick löste ein inniges Gefühl in mir aus; dass der Tod soeben erst eingetreten war, weckte Erinnerungen an meine Träume, die der Krieg zerstört hatte und die ich seit Monaten zu unterdrücken versuchte.
Ich schaute über die Gräber hinweg hinauf zu meinem Schlafzimmer. Der schwarze Vorhang wehte durch das offene Fenster. Mir wurde klar, dass ich an dem Grab stand, das der Mann mit Hut jeden Tag besuchte.