Kitabı oku: «Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen», sayfa 2

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Es konnte eng werden am Abend; neben Caro und Ben hatten über fünfzig Gäste zugesagt: Julia, im Moment solo, etliche Freunde und Bekannte, die Frauen aus Steffis Ladenkollektiv, die nun eine neue Mitstreiterin suchen mussten, ihre Volleyballgruppe, die Jungs von »Achterndeich«, die für das musikalische Programm sorgten, einige ihrer Kundinnen. Und, dachte Caro mit einem gewissen Unmut, auch Steffis Eltern und Bruder.

Caro hatte versucht, ihr die Idee auszureden, hatte sie daran erinnert, dass ihr Fleisch und Blut sich nur von etablierten Labels beeindrucken ließ, doch Steffi hatte sich nicht umstimmen lassen und darauf bestanden, auch ihren Eltern und Matthias an diesem Abend ihre Eröffnungskollektion zu präsentieren.

»Ich weiß doch, wo ich stehe«, hatte Steffi gesagt, »und vielleicht haben sie Spaß an einem meiner schrillen Cocktailkleider. Irgendwann muss man alte Kontroversen auch einmal beenden.« Danach hatte Caro das Thema nicht wieder angeschnitten.

Steffi wachte auf und blinzelte. Wie in Zeitlupe streckte sie sich im Liegen, machte sich dann aber klein und rollte sich zur Seite, bis sie auf der Bettkante zum Sitzen kam. Sie grinste Caro an, und in Vorfreude auf den Abend wippte sie auf der Matratze leicht auf und nieder. Schließlich drückte sie sich mit den Händen kraftvoll ab, stellte sich kerzengerade neben das Bett und schlug sich mit den Fäusten auf die Brust wie King Kong.

»Vollbracht«, dröhnte sie, als müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass sie ihr Ziel erreicht hatte, »es ist vollbracht! Ab heute Abend wird die Welt um ein Modeatelier reicher sein.« Ihre Fußsohlen bewegten sich lautlos über den Dielenboden Richtung Küche. »Aber leider ist die Stardesignerin unpässlich«, jammerte sie. »Ich könnte schlafen, schlafen, schlafen.«

Bis in die frühen Morgenstunden hatte sie an ihrem Outfit für den Abend gesessen. Caro hatte ihr tapfer Gesellschaft geleistet und war nun sehr stolz auf ihre Freundin. Die Nachtarbeit hatte sich gelohnt: Steffis langer Rock aus petrolfarbener, glänzender Seide hing am Kleiderschrank bereit. Eine passende Korsage hatte sie in mühevoller Kleinarbeit mit winzigen Blüten in Türkis und Orange bestickt. Der Türkis-Ton wiederholte sich großflächig in einer Seidenstola, die Steffi in der vergangenen Nacht mit einigen Streifen aus orangefarbenem Kunstfell durchsetzt hatte. Gegen ein Uhr war das Ensemble schließlich bis auf das dazugehörige Stofftäschchen fertig gewesen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Steffi kurz überlegt, ob sie auf das Accessoire verzichten sollte. Wirklich komplett, befand sie jedoch, war das Ensemble erst mit genau dieser Tasche. Und so hatte sie nach kurzer Überlegung beschlossen, weniger Schlaf in Kauf zu nehmen, das Stofftäschchen mit ebensolchen Blüten zu besticken, wie sie die Korsage schmückten, und dafür in kompromisslosem Outfit zu ihrer Feier zu erscheinen.

Caro folgte ihr in die Wohnküche mit den drei alten Küchenschränken verschiedener Höhe und Breite in Dunkelblau, Hellblau und Türkis. Sie waren nebeneinander an der Wand aufgereiht, wo sie wirkten, als habe Steffi sie aus Bauklötzen zusammengesetzt. Die Morgensonne brachte das Grün einer Tischdecke zum Leuchten, unter der sich ein runder Esstisch verbarg. Momentan lebte Steffi in ihrer blau-grünen Periode. Deshalb trug sie zur Zeit eine hellblaue Farbsträhne in ihrem strubbeligen Kurzhaarschnitt, und Caro war gespannt, was Steffi auf der Feier damit machen würde, denn der Farbton vertrug sich nicht mit dem Petrol-Orange der abendlichen Garderobe. Möglicherweise schnitt sie die Strähne einfach aus dem schwarzen Haar heraus.

»Lass uns bei Jacques frühstücken gehen«, schlug Steffi vor. »Zur Feier des Tages werde ich über die Stränge schlagen. Wenn schon müde, dann wenigstens satt und müde.«

Caro war einverstanden. Ihr selbst tat es gut, ein fettes Toastbrot mit Schinken und Käse zu sich nehmen, denn es fiel ihr schwerer, ein paar Pfunde zu- als abzunehmen. Aber wenn Steffi sich dazu entschloss, den Morgen mit einer üppigen Mahlzeit zu beginnen, dann hieß das »Ausnahmezustand«.

Nach dem Frühstück trennten sich Steffis und Caros Wege. Steffi begab sich zur Vorbereitung der abendlichen Feier in ihr Atelier, und Caro ging zurück in Steffis Wohnung. Sie hatte ihr versprochen, dort mit dem Schlüssel auf Matthias zu warten, der zur Feier seiner Schwester aus München anreiste.

Caro mochte ihn nicht und sah den jungen Anwalt im Geiste schon wie seinen Vater hinter dem größten Schreibtisch einer Notariatskanzlei sitzen. Nach Meinung der Familie schlug Steffi ärgerlicherweise aus der Art. Dabei hätten die Eltern wirklich allen Grund, auf ihre Tochter stolz zu sein: Ein abgeschlossenes Modedesign-Studium und nun die Eröffnung ihres eigenen Ateliers. Aber noch immer konnten sie nicht vergessen, dass sie nach der Schule partout ein Praktikum bei einer Maßschneiderin hatte machen wollen, anstatt an dem Auswahlverfahren für Harvard teilzunehmen, das sie ihr mit Nachdruck empfohlen hatten. Erst Matthias hatte ihnen vier Jahre später diesen Herzenswunsch erfüllt.

Caro fand es empörend, dass sie Steffi die Anerkennung vorenthielten, die sie so offensichtlich verdiente. Und als sie jetzt an Steffis Eltern dachte und daran, wie sie die kreative Energie ihrer Tochter bis heute belächelten, entwickelten Caros Hände plötzlich ein Eigenleben. Sie griff blindlings auf Steffis Tisch, ihre Hand erwischte einen Graphitstift, und Caro konnte im letzten Moment verhindern, dass sie ihn auf den Boden schleuderte.

Glücklicherweise, beruhigte sie sich, dachte Steffi gar nicht daran, sich von ihrem Weg abbringen zu lassen. Sobald ihr Vater oder ihre Mutter ihr einen Plan madig machten, beendete sie das Telefongespräch oder verließ den Raum, entzog sich sofort der weiteren Einflussnahme und machte umso konsequenter das, was ihr richtig erschien. Aber eingeladen, ärgerte sich Caro, hatte Steffi ihre Familie trotzdem.

Es klingelte an Steffis Haustür. Caros Finger umklammerten noch immer den Graphitstift, und sie öffnete die Tür mit der freien Hand. Sie roch eine Molekülmischung aus teurem Aftershave und Treppenhausmoder. Im selben Moment blickte sie in Matthias’ Gleitsichtbrille und registrierte dieses halb belustigte Aufblitzen seiner Augen, das sich angesichts der Wohnsituation seiner Schwester einstellte. Caro umschloss den Graphitstift fest mit ihren Fingern.

»Einen wunderschönen guten Tag«, schmetterte Matthias, musterte sie von oben bis unten und fügte in einem kindlichen Tonfall hinzu, der so gar nicht zu seinen zweiunddreißig Jahren passen wollte: »Oho, welch apartes Armeehemd! Aus deinem vorigen Leben als Soldat?« Begeistert von seinem eigenen Scherz, fügte er wimmernd hinzu: »Aber bitte, bitte, Caro, nicht schießen, bitte tu mir nichts!«

Caro nahm sich vor, nur das Minimum an Smalltalk mit ihm zu machen, bevor sie ihm Steffis Schlüssel aushändigen und verschwinden würde.

»Komm rein«, sagte sie tonlos und ging voran über den Korridor. Der smarte Jurist betrat mit eingezogenem Kopf die Küche, als fürchte er, jeden Moment ein abgebröckeltes Stück Putz auf den Kopf zu bekommen. Plötzlich starrte er auf Steffis selbstbemalte Frühstücksteller, die sie in einem Hängeregal ausstellte, und griff sich ein Exemplar, um dessen Unterseite zu betrachten.

»Nun guck sich das einer an. KPM. Der ist unter Garantie von unserer Großmutter. Das war doch vorher ein prima Teller. Und was macht mein Schwesterherz? Verhunzt das gute Stück.« Caro betrachtete den wunderschönen Oktopus mit seinen schillernden Saugnäpfen, der zur Serie von Steffis Meerestieren in grün und blau gehörte. »Ich kann das einfach nicht verstehen«, fuhr Matthias fort. »Ich würde gern begreifen, wie man gebaut sein muss, um das Produkt einer anerkannten Firma ein für allemal mit aufgepinselten Frutti di mare zu verderben.«

»Knack«, sagte es, und der Grafitstift in Caros Hand war zerbrochen. Überrascht registrierte sie, dass dies einer jener Zerstörungsakte war, die ihr früher so zahlreich, nun aber schon lange nicht mehr unterlaufen waren. Der Schaden, beruhigte sie sich, hielt sich in Grenzen, ein kleiner Grafitstift, dessen Verlust Steffi leicht verschmerzen würde, aber dennoch. Er war ein Anklang an vergangene Zeiten, in denen vieles zu Bruch gegangen war, und Caro legte die beiden Teile des Stiftes schnell auf den Tisch, als müsse sie sich von ihrem unheilvollen Einfluss befreien, bevor sie zu Matthias sagte:

»Mit Geschirr ist es wie mit Mode, Möbeln und Musik. Spießer kommen nur mit Konfektionsware klar.« Und damit langte sie in die Beintasche ihrer Cargohose, aus der sie Steffis Schlüsselbund zog und vor Matthias auf den Tisch warf. »Bis heute Abend. Wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dass wir uns über den Weg laufen.«

Während sie an Matthias vorbei Richtung Flur ging, fing sie einen Blick von ihm auf, der sie an irgendetwas erinnerte. An irgendjemanden. Es war der Blick einer Person, die alles, was Caro tat, vollkommen unpassend und schlichtweg unmöglich fand. Ja, es war derselbe Blick, den sie von ihrer Schwester Petra kannte. Dieser Blick, der sie getroffen hatte, wann immer sie ihr auf dem Schulhof oder vor dem Zeitschriften-Kiosk über den Weg gelaufen war. Diese leicht angeekelte, zweifelnde Miene in Petras Gesicht. Ungläubig und vorwurfsvoll zugleich, als könne sie nicht verstehen und verlange eine Erklärung dafür, aus welchem Grund sie mit solch einer Schwester wie Caro gestraft sei.

Solch einer »Hexe«, wie Petra sie zu nennen pflegte. Nicht nur hatte die Schwester ihr dieses Wort hinterhergeschrien, immer und immer wieder, nein, eines Tages hatte sie sich das Taschenmesser des Vaters ausgeliehen und die Gleichung CARO=HEXE in die Rinde der Baumstämme geritzt, an denen Caro Tag für Tag auf ihrem Weg zur Schule vorbeikam.

Dabei war sich Caro keiner Schuld bewusst gewesen, im Gegenteil, weder hatte sie die Schwester verraten, wenn diese heimlich auf der Schultoilette rauchte, noch hatte sie ihr Widerstand entgegengesetzt, wenn sie ihr Taschengeld an sie abtreten sollte. Caro hatte lediglich von ihr wissen wollen, wie man den Konjunktiv II von »helfen« bildete, denn Petra war schließlich zwei Klassen über ihr. Caro verstand nicht, warum ihre Schwester darüber so ungehalten wurde, dass sie sich am nächsten Tag die Mühe machte, ihre Hexengleichungen in die Baumrinde zu ritzen.

Über die Jahre wuchsen nicht nur die Buchen und Linden selbst, sondern ganz langsam und unaufhaltsam auch ihre Inschriften. Sie sprangen Caro an jedem Schultag ins Auge, so dass sie bald sehnsüchtig das Ende ihrer Schulzeit herbeiwünschte.

5

Ben bog mit seinem Kombi zum dritten Mal in die Schanzenstraße ein und schüttelte den Kopf.

»Ein Segen, dass wir dieses Parkplatzchaos bald für immer hinter uns lassen«, hörte Caro ihn seufzen und biss sich auf die Lippen. Durch die Windschutzscheibe sah sie die Häuserzeilen des Viertels vorbeiziehen. Sie fand es keineswegs lästig, einige Male um den Block zu fahren, um eine Parklücke zu suchen. Im Gegenteil, beim Abfahren der Haupt- und Nebenstraßen genoss sie es, Teil einer Menge von Menschen zu sein, die irgendwo inmitten all der Trödelläden, Boutiquen, Ateliers, türkischen Gemüsehändler oder asiatischen Imbisse von irgendwem erwartet wurden. Oder auch von niemandem erwartet wurden, alleine im Viertel unterwegs waren, sich in ein Café setzten, an ihrem Getränk nippten und dem Leben auf der Straße zusahen, dem sie selber angehörten, sobald sie sich von ihrem Stuhl erhoben.

Der Kombi quälte sich einen Kantstein hinauf und kam neben einem Straßenschild zum Stehen, dessen Pfahl über und über mit Zetteln beklebt war, so dass er Caro an einen Wunschbaum denken ließ. Ben stellte den Motor ab. Beim Verlassen des Wagens trat er in eine Pappschale mit Essensresten und stieß einen leisen Fluch aus, bevor er sich eine Packung Papiertaschentücher aus dem Handschuhfach holte. Caro beobachtete, wie Ben seinen schlanken sportlichen Körper mühelos nach unten beugte und mit elastischen Bewegungen die Mayonnaise von seinen Lederschuhen wischte. Er war gut in Form. Das perfekte Vorbild für seine Patienten: durchtrainiert, mit glatten Wangen und klaren blauen Augen. Die Zusammensetzung der Mineralienmischung, die er jeden Morgen und Abend zu sich nahm, musste also stimmen, überlegte Caro mit einem Anflug von Ironie. Doch sie musste zugeben, dass selbst seine hellblonden Haare ein wenig mehr zu glänzen schienen als bei anderen Männern, und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man auf die Idee kommen, er habe eine raffinierte Haarpflege benutzt, um seinen ohnehin schimmernden Haarschopf noch effektiver in Szene zu setzen.

Dabei würde Ben derartige Maßnahmen entschieden ablehnen. Er setzte auf Gesundheit von innen und unternahm gar nichts, um sein Äußeres künstlich vorteilhafter erscheinen zu lassen. Und vielleicht war das auch kein Wunder, dachte Caro. Als Ben noch in die sechste Klasse ging, hatte der Vater die Familie verlassen und die Scheidung eingereicht. Und während Ben der Mutter wieder auf die Beine half und seine kleinen Schwestern beim Lesenlernen unterstützte, war ihm jeder Gedanke daran, wie er auf andere wirken mochte, herzlich egal. Er hätte noch so adrett und ansprechend oder im Gegenteil struppig und verwahrlost aussehen können – sein Vater hätte ihn doch keines Blickes gewürdigt. Und die Mutter war ohnehin immerfort stolz auf ihren Sohn.

»Wie kann ein durchschnittlich intelligenter Mensch nur seine Pommesschale auf die Straße fallen lassen, wenn keine zwei Meter weiter ein Papierkorb hängt?«, fragte Ben und warf sein Taschentuch hinein. Caro brummte geistesabwesend Zustimmung. Sie holte einen Spiegel aus der Canvas-Tasche und überprüfte ihre Frisur, die sie unter einem orangefarbenen Organzatuch aufgetürmt hatte, einer farblichen Referenz an Steffis gestickte Blüten auf dem Abendkleid. Mit diesem Farbtupfer endete dann aber auch jegliche Ähnlichkeit mit dem Outfit der Freundin, denn für den Abend der Atelierseröffnung hatte Caro ihre Panzerkombi angezogen, den durchgehenden, olivfarbenen Overall mit Reißverschluss bis in den Schritt. Sie hatte die langen Ärmel ein Stück weit aufgekrempelt und den Reißverschluss bis zum Bauchnabel aufgezogen, so dass ihr orangefarbenes Trägertop leuchtete, sobald sie sich ins Licht stellte. Dazu trug sie Turnschuhe in derselben Farbe. Sie hatte sich bei Ben eingehakt, musterte ihre Silhouette in den Schaufenstern des Schanzenviertels, die sie zügigen Schrittes passierten, und war zufrieden: Trotz ihrer groben Schuhe und des sportlichen Overalls wirkte sie überhaupt nicht plump, im Gegenteil: Da sie so schmal gebaut war, konnte sie anziehen, was sie wollte – sie sah immer grazil aus, selbst in einer Panzerkombi.

Caro und Ben gingen unter einer S-Bahnbrücke hindurch und tauchten ein in die Schallwelten eines Saxophonisten, dessen melancholische Tonfolge sie noch eine Weile begleitete, bis sie endlich vor der Fensterfläche des neuen Ateliers standen. Hinter der Glasscheibe leuchtete ein Meer unruhig flackernder Lichter. Steffi musste Dutzende von Kerzen angezündet haben. Caro ging feierlich die zwei Treppenstufen des Eingangs hinauf und betrat das Atelier.

Der Duft geschmolzenen Wachses schlug ihr entgegen. Sie war mit den Räumlichkeiten vertraut, hatte Steffi an manchem Wochenende beim Renovieren geholfen. Aber die Wirkung war jetzt eine völlig andere, seit Steffi dem weiß gestrichenen verwinkelten Raum in den letzten Tagen vor der Eröffnung sein endgültiges Gesicht gegeben hatte. Den Dielenfußboden hatte sie in Mattgold lackiert, ebenso die Türen für ihre beiden Umkleidekabinen. Von der Decke des Hauptraumes funkelte ein Messingleuchter, dessen lange Kristallzapfen das Licht brachen und es auf die Stangen mit Kleidern, Jacken und Hosen aus Steffis neuer Kollektion warfen. In unregelmäßigen Abständen blitzten aus den robusten, gemauerten Klinkerregalen, die wie die Wände weiß getüncht worden waren, einige wenige mattgoldene Mauersteine heraus. Der Raum strahlte eine zugleich edle wie zwanglose Atmosphäre aus.

Ben verstand nicht, warum Caro partout als Erste hatte eintreffen wollen.

»Ist doch Ehrensache«, sagte sie, noch ganz benommen von dem warmen Licht. Sie schritt ehrfurchtsvoll an den gefüllten Kleiderstangen entlang und rief nach ihrer Freundin. Steffi antwortete aus dem hinteren Raum, den sie sich als Teeküche eingerichtet hatte, trat durch den goldenen Türrahmen und stellte sich breit grinsend vor ihre ersten Gäste.

Caro starrte Steffi an, begriff nicht gleich, suchte Vertrautes, stieß unvermittelt einen Laut der Überraschung aus. Klammheimlich, ohne ihr auch nur etwas anzudeuten, hatte Steffi sich am Nachmittag eine Glatze schneiden lassen. Hatte ihre vollen struppigen Haare, die schwarze Pracht mit der hellblauen Strähne einfach abrasieren lassen. Caro war perplex.

»Welcher Teufel hat dich denn geritten?«

»Es erschien mir plötzlich alles nicht mehr richtig«, erwiderte Steffi leise. Sie fuhr sich mit beiden Händen über die glatte Kopfhaut. »Ich brauchte eine echte Veränderung. Wollte den Beginn der neuen Ära auch körperlich erleben. Es ist ein erhebendes Gefühl, wenn du jeden Luftzug spürst.« Sie grinste zufrieden. »Und du kriegst jede Menge Aufmerksamkeit.«

Caro musste zugeben, dass die Verwandlung ihren Reiz hatte. Steffis rundes Gesicht, ihre vollen, dunkelrot geschminkten Lippen, die breite Nase zwischen ihren schwarz umrandeten Augen, die verhältnismäßig dünnen Augenbrauenbögen – ihr Gesicht enthüllte jetzt viel deutlicher als zuvor das große Maß an Warmherzigkeit, das Steffi auszeichnete.

»Und dein Abendkleid?«, fragte Caro, während sie jetzt das Dress musterte, das Steffi stattdessen für den Abend angezogen hatte, ein weißes Dirndl aus ihrer neuen Kollektion mit einem gesmokten goldenen Einsatz auf der Brust.

»Das werde ich verkaufen müssen, denn meine blau-grüne Periode betrachte ich ab sofort als abgeschlossen.« Dabei strich sie sich erneut über ihre Glatze und schüttelte übermütig den Kopf, so dass ihre Ohrringe, zwei Kristallzapfen, die sie aus dem neuen Kronleuchter genommen und umfunktioniert hatte, ihr an die Wangen schlugen.

Caro bewunderte Steffi dafür, dass sie so hemmungslos umsetzte, was ihr richtig erschien. Inmitten der flackernden Kerzen auf den Golddielen wurde Caro zum ersten Mal bewusst, wie unterschiedlich sie und Steffi in diesem Punkt waren. Denn sie selber war durchaus einmal bereit zu einem Kompromiss. Beispielsweise bei der Wahl des Wohnortes, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut und vergewisserte sich mit einem Seitenblick auf Ben, dass auch diese Strategie zweifellos ihre Berechtigung hatte.

Bevor Caro etwas erwidern konnte, öffnete sich die Ladentür, und Steffi ging auf die Gruppe von Musikern zu, die die Gastgeberin mit einem anerkennenden »Wow, nicht übel« begrüßten, was sich auf die Ausstattung des Ateliers beziehen konnte, ebenso aber auf den rasierten Kopf, doch niemand vertiefte das Thema, und die Jungs von »Achterndeich« begannen sofort, ihre Instrumente im hinteren Teil des Ladens aufzubauen.

Unablässig öffnete und schloss sich nun die Tür und versetzte die Flammen der Kerzen in zittrige Tänze. Grüppchen, Pärchen, Singles trafen ein, begutachteten Steffis Atelier und ihre Glatze, teils lautstark, enthusiastisch, teils entgeistert, aber höflich. Steffi umarmte ihre Gäste einen nach dem anderen und schickte sie charmant an den Tisch, an dem eine Studentin Getränke ausschenkte und die Blumensträuße versorgte. Der Raum war bald erfüllt von Gesprächen. Caro und Ben ließen sich Prosecco einschenken und waren im Begriff, in Richtung der Musiker zu gehen, als sich Steffis Bruder ihnen in den Weg stellte.

»Oje, Caro, hab ich etwa die Mobilmachung verpasst?«, rief Matthias mit gespieltem Entsetzen, während er sie von oben bis unten musterte.

»Was interessiert dich das? Du bist doch ohnehin untauglich.« Caro wollte sich an Matthias vorbeidrängen, aber er ließ sie nicht durch und schnaubte:

»Ich muss schon sagen, Caro, du passt perfekt zu meiner kahlgeschorenen Schwester. Wie kann man denn ernsthaft in einer Panzerkombi hier erscheinen?«

»Matthias«, sagte Caro mit eisiger Stimme, »hattest du jemals das Gefühl, dass deine Meinung mich interessiert? Ich meine, falls ja, möchte ich den Eindruck hiermit nachdrücklich korrigieren.« Sie schob ihr Proseccoglas gefährlich nahe an Matthias’ Anzug heran, so dass er sie und Ben schließlich passieren ließ.

»Ihr mögt euch wohl nicht«, stellte Ben irritiert fest.

»Erraten.« Caro hoffte inständig, er möge jetzt keinen Versuch unternehmen, ihre ehrlich empfundene Abneigung durch verfehltes Verständnis für Matthias zu verwässern. Ben neigte dazu, lautere Motive für jede Verhaltensweise zu finden.

»Vielleicht ist er einfach überrascht«, sagte er nun tatsächlich.

Caro blieb stehen und drehte sich zu ihm um.

»Sag mal, hast du Wahrnehmungsstörungen?« Sie verspürte, während sie sich über Matthias empörte und ein wenig wohl auch über Ben, einen wachsenden Drang, sich auch körperlich Luft zu machen.

»Immerhin ist er extra aus München angereist«, überlegte Ben.

»Natürlich ist er das, allein schon um Steffi ihre Kollektion madig zu machen und allen seine ewigen Wahrheiten zu verkünden!«, schnaufte Caro und schleuderte ihr Proseccoglas auf den goldenen Dielenboden. Im nächsten Moment hielt sie beide Hände vor den Mund und schämte sich für ihre unbeherrschte Handlung. Nun war es doch wieder passiert, nun hatte die Wut sich doch wieder einen Weg gebahnt.

Ben nahm sie schnell in den Arm, und Caro war dankbar für seinen Beistand. Sie gingen gleichzeitig in die Knie, kauerten auf dem Dielenboden und sammelten die Glasscherben vorsichtig ein. Immerhin, beruhigte sie sich, die Abstände zwischen den Ausbrüchen waren erheblich länger geworden. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit das schöne Chinabone-Service zu Bruch gegangen war, das eigentlich Jacob auf dem Gewissen hatte.

Caro wollte dem Vorgänger von Ben nicht einmal in Gedanken Zutritt gewähren zu ihrem neuen Lebensabschnitt, versuchte sein Gesicht zu verdrängen. Aber nun war es zu spät. Eigenartigerweise hatte Caro beim Anblick der Scherben vor ihren Füßen plötzlich alles wieder vor Augen: All das Warten auf Jacob. Das Tauziehen mit Jacob. Schließlich das Fluchen auf Jacob. Gleichzeitig war sie stolz darauf, dass es ihr damals gelungen war, ihn rechtzeitig in die Wüste zu schicken. So rechtzeitig, dass sie gar nicht mehr damit beginnen musste, ihren Kopf gegen die Wand zu schlagen, wie sie es früher zu tun pflegte, wenn eine Beziehung aus dem Ruder lief.

Jacob war ihr auf dem Weg zum »Atlantic« über den Weg gelaufen, wo Julia das Jubiläum der Event-Agentur ausrichten ließ, für die sie noch immer tätig war. Augenzwinkernd hatte sie Caro und Steffi die Einladungen zu diesem Abend übergeben:

»Damit ihr endlich ein paar betuchte Männer kennenlernt.«

Caro hatte damals zur Feier des Tages ihre Stiefel gegen ein Paar zierlicher Stiletto-Sandaletten ausgetauscht, ein interessanter Kontrast zu ihrer schwarzen Cargohose. Als sie nach vielen vergeblichen Runden durch St. Georg endlich einen Parkplatz gefunden hatte, stieg sie gereizt aus ihrem Auto, schlug die Wagentür zu und versuchte, die Radioantenne zusammenzuschieben, um sie vor übermütigen Jugendlichen in Sicherheit zu bringen. Die oberen Glieder der Antenne ließen sich noch leidlich einfahren, aber je tiefer sie das Teleskop versenkte, desto schwergängiger wurde es. Während sie vergeblich versuchte, das Rohr zu bewegen und ihre Fingernägel in der Abendsonne leuchteten, fühlte sie, wie eine rote Wut in ihr aufstieg. Als das Metall schließlich weder vor noch zurück zu schieben war, zitterte ihre Hand kurz, und mit einem leisen Schnaufen bog sie die Antenne um, so dass sie wie ein abgeknickter Strohhalm aus dem Wagendach ragte.

»Ihnen möchte ich aber nicht im Dunkeln begegnen«, hörte Caro damals eine Stimme hinter sich und fuhr herum, blickte in die lachenden Augen eines gar nicht einmal großen, aber sehr stattlich wirkenden Mannes, dessen dunkler Anzug einen leichten Bauchansatz verbarg, gerade noch das sympathische Anzeichen eines genießerischen Alltags.

»Das würde ich Ihnen auch nicht raten«, fauchte sie ihn an, während sie nebeneinander standen, Caro mit verschränkten Armen neben der abgeknickten Antenne, der fremde Mann mit einem riesigen Lilienstrauß unter Folie in der Hand.

»Wenn ich könnte, würde ich Ihnen diesen Strauß schenken, um Sie etwas zu besänftigen.« Er lächelte sie weiter an. »Leider muss ich ihn aber bei einem Jubiläum abliefern, sonst kann ich die Promotion für meine Firma in Zukunft vergessen. Aber kann ich vielleicht irgendetwas anderes für Sie tun?« Während der attraktive Mann mit den Lachfalten ein wenig belustigt auf Caro schaute, riss sie ihre Fahrertür auf, griff sich ihren Strauß Rosen sowie ihr Ledertäschchen und schnaubte:

»Wissen Sie was? Wenn ich eine Blumensorte auf den Tod nicht ausstehen kann, dann sind das Lilien.« Und damit knallte sie ihre Wagentür zu, bog die umgeknickte Antenne weg von der Fahrbahnseite über das Wagendach und stöckelte auf ihren Stilettos Richtung »Atlantic«. Sie bog in den Holzdamm ein und sah bereits den Hoteldiener in Livree vor dem Eingang auf und ab gehen, als sie die wohlklingende Stimme des Mannes mit dem Lilienstrauß hinter sich hörte.

»Wenn ich nun verspreche, Ihnen niemals Lilien zu schenken und heute Abend dafür zu sorgen, dass Sie immer ein gefülltes Glas Champagner in der Hand halten, würden Sie dann davon absehen, mich im Dunkeln zu verprügeln?« Caro konnte nicht umhin zu grinsen, während sie neben ihm die Stufen zum Eingang des »Atlantic« hinaufschritt.

So hatte sich Julias Feier als ausgesprochen unterhaltsam erwiesen. Jacob Conradi, der Lilienliebhaber, wich den ganzen Abend nicht von Caros Seite. Und als sie nachts aus dem strahlend weißen Hotel traten und über eine Fortsetzung des Abends verhandelten, spielte er von Anfang an mit offenen Karten, das ließ sich nicht leugnen. Natürlich war er verheiratet, natürlich wohnte er mit Frau und zwei Kindern in einem Walmdachbungalow inmitten eines Gartens voller Rhododendronbüsche. Und natürlich schaffte Caro es trotzdem nicht, ihn an diesem Abend zurück zu seiner Familie in die Elbvororte zu schicken.

Als sie ihm ein Jahr später, während er sich gerade die Schnürsenkel zuband, vorschlug, nun langsam über eine Trennung von seiner Frau nachzudenken, schüttelte er mit Befremden den Kopf. Gemeinsamer Urlaub: gern. Aber seine Familie aufgeben, das ging dann doch zu weit. Was dann folgte, bezeichnete Caro im Nachhinein als mehrmonatige Gefechtsphase, in der sie sich aller Varianten von Hinterhalt, Frontalangriff, taktischem Rückzug oder Stellungskrieg bediente, die ihr zur Verfügung standen, in deren Verlauf sie sich zu ihrer eigenen moralischen Unterstützung sogar eine SWAT-Uhr kaufte, bis sie endlich bereit war einzusehen, dass Jacobs Familie siegreich aus der Schlacht hervorgegangen war.

Zwar war Caro diejenige, die schließlich den Schlussstrich zog, aber das änderte nichts daran, dass sie in den Tagen nach dem offiziellen Ende sukzessive alle vierundzwanzig Teile ihres Kaffeegeschirrs an die Wand warf. Aber, dachte sie nicht ohne Stolz, sie hatte die Scherben zusammengekehrt und neu begonnen.

Aus alter Gewohnheit schaute sie unwillkürlich auf die SWAT-Uhr an ihrem schmalen Handgelenk. SWAT, hatte sie Ben an dem Abend am Fischmarkt, an dem sie sich kennengelernt hatten, erklären müssen, bedeutete »Special Weapons and Tactics«, und Caro fragte sich manchmal, warum sie die Uhr eigentlich immer noch trug, ohne diesen Gedanken jedoch ernsthaft weiter zu verfolgen.

Steffi, da war Caro sich sicher, hätte ihr die SWAT-Uhr schnell madig gemacht, wenn sie ihr die Gründe für den Kauf erzählt hätte, denn Steffi hielt überhaupt nichts von Taktik. Es war nur so, fand Caro, dass sich die Dinge nicht immer in der Weise entwickelten, wie man es sich vorstellte, und dann, fand sie, durfte man durchaus einmal zu einer kleinen Raffinesse greifen. Es durfte eben kein Dauerzustand werden. Man handelte aus Notwehr. Und außerdem: Steffi war hier kein Maßstab. War das etwa eine Alternative: Seit Jahren zog Steffi als Single durchs Leben. Caro kannte keinen Menschen, der so kompromisslos lebte wie ihre Freundin, so ganz und gar ohne Zugeständnisse. Aber konnte man denn so leben?

Caro löste die Augen von ihrer SWAT-Uhr, schaute Ben an und flüsterte »Entschuldigung«. Der Prosecco war in den Fugen zwischen den mattgoldenen Bohlen versickert, und sie konnte schon wieder lächeln, während sie dachte, dass Steffis Atelier damit immerhin getauft war. Umgeben von den Unterschenkeln der stehenden Gäste, beugte sie sich hinüber zu Ben, um ihn einige Sekunden lang zu küssen.

»Gibt’s hier etwa kein Hinterzimmer, in das ihr euch verdrücken könnt?«, hörte sie im selben Moment eine rauchige Stimme über sich lachen und blickte nach oben. Julia prostete ihnen zu und wippte mit den Hüften zu dem jazzigen Rhythmus, der jetzt eingesetzt hatte. Ben nahm Caro ihre Scherben ab, küsste sie noch einmal und flüsterte ihr »Bis später« zu, bevor er Julia zunickte, das zerbrochene Glas davontrug und die Frauen alleine ließ.

Caro kam aus der Hocke hoch und tauchte ein in eine Wolke aus Hibiskus und Sandelholz mit einem Hauch von Zitrusfrüchten.

»Neues Parfüm?«, fragte sie und rümpfte die Nase, während sie Reste des Proseccos an der Panzerkombi von den Händen wischte.

»Ja, heute zur Abwechslung blumig-fruchtig. Hat ein Kunde mir geschenkt, so ein ganz junger Typ, Juniorchef einer Baufirma, für die wir ein Firmenjubiläum organisiert haben.« Julia schüttelte lachend den Kopf, so dass ihr die glatten blonden Ponysträhnen in die Augen fielen, und sah sich im Raum um: »Du siehst, ich habe auch bei jüngeren Männern Chancen.«

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