Kitabı oku: «Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen», sayfa 3

Yazı tipi:

»Und das willst du uns heute Abend wohl beweisen.«

»Warum nicht? Auf jeden Fall hat sich der Kreis potenzieller Kandidaten erweitert. Steffis Bruder zum Beispiel hat sich mächtig herausgemacht, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Sieht gut aus, hat Geld und Geschmack, ist charmant mit einer wunderbar tiefen Stimme, was will ich mehr? Findest du nicht, dass Matthias ein smartes Kerlchen geworden ist?«

»Geschmackssache.« Caro spürte, wie sie regelrecht böse wurde. Ausgerechnet Matthias. Seit sie Julia kannte, ärgerte sie sich über deren unentwegte Jagd auf Männer. Aber in der Regel bediente Julia sich in ihrem beruflichen Umfeld: Über die Arbeit in der Event-Agentur lernte sie ständig neue Kunden oder Mitarbeiter kennen und stürzte sich in diese Bekanntschaften. Doch Caro verstand nicht, wieso ihre Beziehungen so wenig stabil waren. Wie konnte es angehen, dass diese patente und humorvolle Frau, finanziell unabhängig und brillant im Organisieren, so gefangen war in ihrem Zwang zu ständig neuen Liebeleien? Caro wunderte sich immer wieder, wie das Thema Männer Julias Leben beherrschte, ohne dass ihr bisher eine echte Bindung gelungen wäre. Jedenfalls nicht seit die beiden sich kannten, seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Hochschule für Gestaltung, die viele Jahre zurücklag.

Noch heute schüttelte Caro den Kopf darüber, dass Julia ihr Studium damals vorzeitig abgebrochen hatte, um endlich Geld zu verdienen und es in Kleidung und teure Düfte investieren zu können. Einfach alles in Julias Leben rankte sich seit Jahren um ein zentrales Thema: ihre Wirkung auf Männer. Und jetzt also Matthias, dieses drei Jahre jüngere Großmaul. Caro hatte partout keine Lust, dabei zuzusehen.

»Ich geh mir was zu trinken holen«, sagte sie und ließ die Freundin im Gedränge stehen. Verstimmt schob sie sich in Steffis Richtung, doch die stand in einer Runde mit ihren Eltern und einigen Kundinnen, und da wollte Caro nicht stören.

Mit einem neuen Glas Prosecco in der Hand plauderte Caro beiläufig mit einer Frau aus Steffis altem Ladenkollektiv, ihre Augen aber schweiften häufig ab in Richtung des Grüppchens, in dem Steffi stand. Sie registrierte, wie ihre Freundin die Schultern nach hinten drückte, während ihr Vater mit durchdringender Stimme dozierte, wie Steffi die Stirn in Falten legte, wenn ihre Mutter unter heftigem Nicken des Kopfes mit einer Kundin sprach. Und Caro bewunderte Steffi dafür, dass sie ihre Eltern dennoch gewähren ließ. Aber es lag noch etwas anderes in ihrer Miene und in der schnellen Drehung des kahlen Kopfes, die sie hin und wieder von ihrer Position aus vollzog. Caro begriff, dass Steffi den Raum in kurzen Abständen immer wieder nach Haerviu absuchte, der bislang nicht erschienen war, und sie fühlte mit ihrer Freundin mit.

Als Caro ihr Gespräch beendet hatte, hielt sie Ausschau nach Ben, aber vergeblich. Erst als sie durch die Schaufensterscheibe auf die Straße hinausblickte, sah sie ihn hinter den Spiegelbildern der flackernden Kerzen mit den Händen in den Hosentaschen auf dem Gehweg stehen. Sie beobachtete, wie sich sein kräftiger Brustkorb mehrmals dehnte und wieder in die Normalstellung zurückfiel, während er in den Abendhimmel sah.

»Ich Glückskind«, dachte Caro, während sie sich durch die Gästemenge Richtung Tür schob. Und mit den Bildern von Steffis suchenden und Julias provozierenden Blicken im Kopf sprang Caro mit einem berauschenden Maß an Erleichterung die Stufen vom Atelier hinunter auf den Fußweg und fiel Ben um den Hals.

Gegen ein Uhr saßen der harte Kern von Steffis Freundeskreis und ihr Bruder auf Klappstühlen um den Getränketisch herum. Steffi hätte froh sein können nach dem gelungenen Verlauf der Eröffnungsfeier. Alle waren sie da gewesen, Freunde, Bekannte, Verwandte, hatten das Atelier für ein paar Stunden in einen Ort heiterer Festlichkeit verwandelt. Aber Caro spürte, dass Steffi schwer mit ihrer Enttäuschung zu kämpfen hatte, da Haerviu nicht erschienen war. Zwar lachte Steffi sich über die Schilderungen des Bassisten von »Achterndeich« kaputt, der von ihrem missglückten Auftritt bei einer Hochzeitsfeier erzählte, zwar führte sie wortgewandt einen sinnlosen Streit mit ihrem Bruder über Details des Mietvertrages für ihr Atelier, doch Caro entging keineswegs, dass ihre Freundin litt, auch wenn sie es gut zu überspielen wusste.

»Jungs und Deerns«, forderte Steffi die verbliebenen zehn Personen auf, während sie sich erhob, »jetzt stoßt bitte mal mit mir an auf ...«, als sie mitten im Satz inne hielt. Caro konnte nicht sehen, was hinter ihrem Rücken geschah und starrte nur fasziniert auf die kolossale Veränderung, die sich in diesem Moment auf Steffis Gesicht abspielte. Ein schnelles Kräuseln der Stirn, bevor sie ihre ohnehin großen Augen immer weiter aufriss und sie durch ein Lächeln, das von ihrer gesamten Kopf- und Halsmuskulatur getragen wurde, zum Leuchten brachte. Gleichzeitig hörte Caro, wie sich die Tür zum Atelier öffnete, und dann blickte sie hinter sich und sah Haerviu mit seiner Fotoausrüstung auf dem Bauch den nur noch vom Kerzenlicht beschienenen Raum betreten.

»... auf einen perfekten Abend«, beendete Steffi ihren Satz, hob ihr Glas, stieß mit allen an und kippte ganz benommen vor Erleichterung ihren Wein wie ein Glas Saft hinunter, bevor sie strahlend auf Haerviu zuging und sich einige Meter entfernt von den anderen mit ihm unterhielt.

Den Rest des Abends verbrachte Caro in Mutmaßungen darüber, warum Haerviu das Atelier gleich wieder verlassen hatte. Seine Gründe mussten Steffi überzeugt haben, da sie in der Runde, die sich bis um drei Uhr morgens hartnäckig am Tisch hielt, vor Schlagfertigkeit nur so brillierte. Ben hatte die Feier schon vor Stunden verlassen, weil er am nächsten Tag Dienst hatte, aber Caro blieb im Atelier, bis die Runde sich schließlich auflöste.

»Dann lass mal hören«, sagte sie zu Steffi, nachdem alle anderen gegangen waren und die beiden angefangen hatten, die leeren Gläser und Flaschen in der Teeküche zusammenzustellen.

»Ganz einfach. Sein Auftrag hat länger gedauert als geplant, und er hatte keine Lust, in seinem nüchternen Zustand auf uns angesäuselte eingeschworene Gemeinschaft zu prallen. Dafür treffen wir uns morgen zum Essen.«

»Klingt weise. Und wie fand er deine Glatze?«

»Die hat er mit keinem Wort erwähnt.«

Caro fühlte sich wieder wacher werden. Während sie Gläser spülten, ließ sie mit Steffi den Abend noch ganz unbeschwert Revue passieren. Doch als die beiden gegen vier Uhr das Atelier schließlich in einen annehmbaren Zustand versetzt hatten und sich für einen letzten Drink auf das frisch bezogene Plüschsofa fallen ließen, wurde Caro plötzlich ganz bange ums Herz, weil sie sich bewusst wurde, dass solche Nächte künftig nicht mehr zu ihrem Alltag gehören würden. Nur der beharrliche Gedanke daran, dass sie stattdessen jeden Morgen neben Ben aufwachen würde, konnte verhindern, dass das Gefühl der Bedrückung in diesen frühen Stunden des Tages die Oberhand gewann.

Kapitel II

1

Caro schwitzte aus allen Poren, und obwohl sie sämtliche Fenster weit geöffnet hatte, erschien es ihr, als triefe auch das alte, zweigeschossige Fachwerkhaus aus all seinen Öffnungen. Noch hing der Farbgeruch in den renovierten Räumen, und die Glut des Nachmittags potenzierte die Dämpfe um ein Vielfaches. Der August hatte so angenehm begonnen, aber dann war die Temperatur auf zweiunddreißig Grad im Schatten hochgeschnellt, und trotz eines gelegentlichen Luftzugs, der durch die Räume huschte, spürte Caro ihre Haut vor Hitze brennen.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und fertigte einige Scribble-Zeichnungen für die Homepage einer Cuxhavener Ferienanlage an, die den Eltern des Bassisten von »Achterndeich« gehörte. Es war einer jener Aufträge aus ihrem Bekanntenkreis, die ihr ein weitgehend sorgenfreies Leben ermöglichten, seit sie sich als Webdesignerin selbständig gemacht hatte. Aber Caro wusste, dass diese Aufträge, die sich durch ein Gespräch in ihrer Stammkneipe oder ein zufälliges Treffen mit alten Bekannten wie von selbst ergeben hatten, ihr in der neuen Umgebung nicht so einfach zufliegen würden.

Immerhin, der Umzug lag gerade einmal zwei Wochen zurück, und trotzdem war Caro seit Tagen arbeitsfähig. Als in den anderen Zimmern die Maler noch mit Streichen beschäftigt waren, hatte sie sich ihren Raum schon perfekt eingerichtet. Trotzdem wollte es mit dem aktuellen Projekt nicht vorangehen. Caro kritzelte auf ihrem Skizzenblock herum, malte eine stark vereinfachte Version von »Elbe 1« aufs Papier, um mit dem Feuerschiff in der Elbmündung ein wenig Nordseeatmosphäre auf den Zeichenblock zu holen, strich den Entwurf aber energisch wieder durch. Lustlos zeichnete sie weiter, nur um anschließend auch die Idee stilisierter Möwen für das Logo der Ferienanlage vehement zu verwerfen. Nichts stimmte. Lustlos probierte sie nun verschiedene Möglichkeiten der Seitenaufteilung aus, war sich im Grunde aber längst bewusst, dass sie auf diese Art und Weise keinen Schritt weiterkommen würde. Die Grundkonzeption fehlte, und solange sie sich darüber nicht im Klaren war, nützten einzelne Elemente zunächst einmal gar nichts. Als das Telefon klingelte, war Caro nicht böse, ihren fruchtlosen Arbeitsprozess unterbrechen zu können.

»Wie geht’s dir da unten im Niemandsland?«, hörte sie Julia hastig ins Telefon kichern, »du, ich hab wenig Zeit, ich richte heute Abend eine Feier für zweihundert Leute aus. Weshalb ich anrufe: Einer meiner abgelegten Lover braucht eine Website. Für seine Cocktail-Bar in Altona. Bisschen halbseiden, der Gute, aber Geld stinkt nicht, hab ich Recht? Also schreib dir mal seine Nummer auf und mach ihm ein Angebot.«

»Typisch«, dachte Caro, während sie die Nummer notierte und im nächsten Moment verdutzt feststellte, dass das Gespräch schon wieder beendet war, nachdem sie gerade noch ein »Danke« durch die Leitung hatte schicken können. »Julia wie sie leibt und lebt. Erst verschlingt sie den Typen einige benebelte Nächte lang mit Haut und Haar, und dann reicht sie ihn als potenziellen Kunden an mich weiter.«

Caro erhob sich, begab sich langsam ein Stockwerk tiefer in die Wohnküche und setzte Wasser auf. Seit Anfang der Woche waren auch hier alle Umzugskartons ausgepackt, und Caros Batterie von fünf Teekannen stand aufgereiht im Regal: die alte Steingutkanne aus der WG-Zeit für ihre Teemischungen aus Süßholz, Kardamom und anderen Gewürzen, eine gusseiserne Kanne für die seltenen Male, die sie schwarzen Tee trank, eine Tonkanne mit wackeligem, bastumwickeltem Griff für Kräuter- und Heiltees und die flache japanische Kanne mit dem Drachenmotiv für grünen oder weißen Tee.

Als fünftes Exemplar stand eine bauchige rote Kanne mit weißen Punkten im Regal, die Caro nie benutzte, aus Angst, sie könne zerbrechen. Das wollte sie nicht riskieren, weil das Gefäß eines der wenigen Andenken an ihre Großmutter war. Ihre Oma, die so weit entfernt gewohnt hatte, dass Caro, ihre Eltern und Petra viele Stunden in der Bahn sitzen mussten, wenn sie sie besuchen wollten.

Wäre es nach Caro gegangen, dann hätten sie den Weg viel häufiger auf sich genommen, denn die Oma war sehr lieb zu ihr gewesen, mindestens so lieb wie zu Petra, wenn nicht sogar ein kleines bisschen herzlicher. Aber der Vater war nicht erpicht darauf gewesen, seine Mutter häufiger als nötig zu sehen, und als die Großmutter starb, während Caro noch in die Grundschule ging, bettelte sie so lange, bis die Eltern ihr die gepunktete Kanne überließen, aus der Caro und die Oma morgens den frisch gebrühten Pfefferminztee getrunken hatten.

Aus dem Kocher stieg Dampf auf. Caro nahm ihre japanische Porzellankanne aus dem Regal, um sie mit heißem Wasser auszuspülen. Als sie das Teesieb mit einer Portion Gunpowder-Kügelchen gefüllt und mit Wasser übergossen hatte, weil der Yogalehrer behauptet hatte, grüner Tee kühle, schaute sie von oben in die Öffnung der Kanne und beobachtete mit schweißnassem Gesicht, wie die gerollten Blätter sich entfalteten.

Die Zubereitung von Tee war Teil des Trainingsprogramms, das sie sich selbst verordnet hatte. Neben ihren Yogaübungen und dem Eincremen ihres Körpers mit Mischungen ätherischer Öle versuchte Caro, sich durch eine individuelle Teezeremonie in einen Zustand der Ausgeglichenheit und Zufriedenheit zu versetzen. Schon in ihrer Kindheit war es ihr schwergefallen, für das eigene Wohl zu sorgen. Ständig schien etwas anderes wichtiger zu sein. Und auch jetzt noch musste immerfort etwas erledigt, erreicht oder abgewehrt werden, bevor Caro sich vorstellen konnte, in einen Zustand vollkommener Behaglichkeit hinüberzugleiten, wie es ihr damals bei der Oma bei einem Becher Pfefferminztee gelungen war, während sie gemeinsam am Fenster saßen und dem Verkehr auf der belebten Hauptstraße zusahen.

»Vielleicht wird es hier auch funktionieren, zusammen mit Ben, umgeben von Natur«, dachte sie und hielt sich die Möglichkeiten eines Neuanfangs vor Augen. Sie öffnete eine Tür der neuen Einbauküche aus Edelstahl und Holz und musste lächeln, als sie auf ihren plumpen Teebecher mit der Abbildung einer Ringelblume blickte, der zwischen den weißen Teeschalen aus Porzellan wie ein hässliches Entlein im Schrank herausstach. Der Blick auf ihren Becher versetzte sie im Nu zurück in eine andere Zeit. Es war der Tag, an dem Steffi, Julia und sie ihre Wohngemeinschaft aufgelöst hatten, da Julia ihr Studium nach drei Semestern vorzeitig abbrach, um endlich Geld zu verdienen, sich teure Kleidung und eine schicke Zweizimmerwohnung leisten zu können. Steffi und Caro konnten die große Altbauwohnung zu zweit nicht mehr bezahlen, und da sie also umziehen mussten, wollte Steffi die Gelegenheit nutzen, um das Alleine-Leben auszuprobieren. So blieb auch Caro nichts anderes übrig, als sich eine eigene Bleibe zu suchen, und sie hatte das Glück, eine Fabriketage zu finden, ein geräumiges Rechteck mit Sprossenfenstern, in dem sich ihre wenigen Habseligkeiten beinahe verloren.

Als sie damals ihre Wohngemeinschaft auflösten, wollte Julia nichts von dem gemeinsamen Hausrat haben.

»Jetzt fängt mein Leben endlich richtig an«, sagte sie, »und ich habe nicht vor, mir das durch ein Sammelsurium abgestoßener Tassen und Teller verderben zu lassen.«

Caro und Steffi blickten sich mit hochgezogener Stirn an und teilten wortlos den Inhalt des alten Küchenschranks unter sich auf. Sie konnten es sich damals nicht erlauben, wählerisch zu sein, denn Steffi sprach zu dieser Zeit nicht mit ihren Eltern, so dass auch die monatlichen Überweisungen von ihnen ausblieben, und bei Caros Eltern war ohnehin kein Geld zu holen. Unter dem Eindruck ihrer chronischen Geldsorgen erfüllten die Teller und Tassen daher in beliebigem Dekor ihren Zweck.

Jedoch war Caro an jenem Abend nicht in der Lage gewesen, den praktischen Nutzen all der Dinge zu würdigen, die in ihren Kartons landeten. Ihr war die Auflösung des gemeinsamen Haushalts auf den Magen geschlagen, so dass Steffi inmitten des Umzugschaos in ihrer Küche einen Topf mit Wasser aufsetzte, den größten Becher wieder aus dem Geschirrkarton holte und Caro darin einen Kamillentee zubereitete. Es war der hässliche Becher mit der Abbildung einer Ringelblume und dem Schriftzug »Calendula officinalis« auf dem grauglasierten Ton, der seinen Weg bis in den Elm gefunden hatte und nun in der Designerküche stand.

Caro hob den Becher mit der linken Hand an und betrachtete ihn eingehend. Die abgeplatzte Stelle an seinem Boden war natürlich immer noch zu sehen.

»Julia, wenn du sagst, du kommst rechtzeitig von deinem Date zurück, um deine Klamotten aus dem Kleiderschrank zu räumen, wieso tust du es dann nicht?«, hatte Caro am Tag des Umzugs geschrien und beim Wort »tust« den Ringelblumen-Becher so heftig auf den Küchentisch gestellt, dass ein Stück der durchsichtigen Glasur abgeplatzt war und am Rand des Becherbodens eine linsengroße raue Einkerbung hinterlassen hatte. Caro schüttelte den Kopf. Julia und sie, das war noch nie einfach gewesen.

Kaum saß Caro wieder an ihrem PC und hatte den gefüllten Teebecher in Reichweite neben sich gestellt, klingelte es im Erdgeschoss. Matt vor Hitze ging sie erneut die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Doch dort war niemand. Sollte sie sich getäuscht haben? Aber der Ton des neuen Hifi-Gongs war noch zu aufdringlich, als dass sie sich verhört haben konnte. Sie runzelte die Stirn, schaute noch einmal nach links und rechts und schloss die Haustür wieder.

Als sie auf halber Höhe der Treppe war, ertönte erneut das Signal. Sie machte auf den Stufen kehrt, eilte zur Tür und riss sie auf. Gerade noch sah sie einen Rücken hinter ihrer Ligusterhecke verschwinden und folgte ihm blitzschnell. Auf den Fußweg vor ihrem Grundstück bekam sie einen Jungen am Arm zu fassen und schrie:

»Hey, Freundchen, was wird das denn?« Der Junge guckte sie einen Moment lang verdutzt an und ließ sich dann auf die Gehwegplatten fallen. Im Liegen zielte er mit seinen Fingern auf Caros Kopf:

»Dwww-dwww-dwww! Bjuuu-bjuuu! Dwww-dwww-dwww! Harikunomi hat dich kaltgemacht!«Verdutzt schaute Caro auf den vielleicht zehnjährigen pummeligen Jungen herab, der vor ihren Füßen auf dem Boden kauerte.

»Bist du nicht etwas zu alt für diesen Schwachsinn?«, fragte sie. »Und wer ist überhaupt Harikunomi?«

»Harikunomi ist der coolste Ritter aus der Galaxie Zeta 7. Er ist der Anführer der Moroiden.«

»Aha. Und wie heißt du?«

»Tim. Und du?«

»Caro.«

»Caro ist aber kein richtiger Name«, sagte Tim, »entweder du heißt Carola oder Caroline. Aber Caro ist kein echter Name.«

»Was du nicht sagst.«

»Ich kenne Tausende, Millionen Vornamen, weil ich ein Buch habe, in dem alle Namen stehen, die es gibt. Und immer wenn ich für meine Geschichte von Zeta 7 eine neue Person brauche, suche ich mir ein paar Namen aus und nehme dann von jedem ein Stück, bis ich einen Namen habe, der gut klingt. Harikunomi zum Beispiel habe ich aus Hans, Richard, Kurt, äh, Norbert und Michael zusammengesetzt.«

Caro musste grinsen. Ihr lag ein Kommentar auf der Zunge, aber sie beherrschte sich.

»Wollen wir ein Eis essen?«, fragte sie stattdessen und half dem Jungen auf. Er nickte eifrig, dann fiel ihm ein, dass er erst seiner Mutter Bescheid sagen müsse, die auf ihn warte. Caro reichte ihm das Handy, woraufhin Tim sagte, dass er gleich nebenan in der Kehre wohne und auch schnell hinüberlaufen könne. Dafür sei es viel zu heiß, entgegnete Caro und trug ihm auf, seine Mutter zu fragen, ob sie vielleicht auch Lust auf Eis habe. Darauf habe seine Mama immer Lust, sagte Tim.

Es klingelte erneut, Caro öffnete und blickte in das Gesicht einer großen, breiten, schwitzenden Frau in ihrem Alter, die einen Teller mit Marmorkuchen in der Hand hielt. Mit einem herzlichen Lachen stellte sie sich als Ruth vor. Sie hielt Caro den Teller mit Kuchen hin, kicherte, sie dürfe doch sicher »du« sagen, und schob sich durch die Haustür.

Caro beeilte sich festzustellen, dass es wohl ihre Aufgabe gewesen wäre, sich vorzustellen, sie aber erst diese Woche mit Renovieren und Auspacken fertig geworden seien, was ihre Nachbarin seufzend mit »Oh ja, das sehe ich, ist ja noch mächtig kahl hier« quittierte, während sie Caro durch den Eingangsbereich in das Wohnzimmer folgte.

»Viel wird sich daran auch nicht mehr ändern«, dachte Caro, bevor sie Ruth etwas Kaltes zum Trinken anbot. Die jedoch zog einen starken Kaffee vor und fügte lachend hinzu:

»Schwitzen tu ich sowieso.« Dabei wischte sie sich die Schweißperlen mit der freien Hand von der Oberlippe und kicherte, so dass ihre kleinen Augen fast in den Fettpolstern ihres Gesichts verschwanden.

»Caro, wofür brauchst du die hier?«, fragte Tim und zeigte auf einen Korb mit schwarz-roten Bällen.

»Zum Jonglieren, willst du mal versuchen? Dafür braucht man aber Geduld. Fang erstmal mit einem Ball an: Hier, ich zeig’s dir: du stellst dich bequem hin, das linke Bein etwas anwinkeln und nach vorne, die Oberarme liegen locker am Körper, und die Unterarme sind angewinkelt. So. Und dann wirfst du etwa kopfhoch immer abwechselnd mit der rechten und linken Hand, ganz gleichmäßig. Du musst lernen, so genau zu werfen, dass du dich zum Fangen nicht einmal bewegen musst. Und immer schön geradeaus gucken. Wenn du das kannst, zeig ich dir, wie’s weitergeht.«

»Hm.«

Während Caro Kaffee kochte und Eis aus dem Gefrierschrank holte, hörte sie den Ball in kurzen Abständen immer wieder auf den Teppichboden fallen.

»Immer weiter üben, Tim. Irgendwann klappt’s«, rief sie. Zurück aus der Küche, sah sie mit einer Mischung aus Beklemmung und Faszination zu, wie ihre Nachbarin, die in ihrem formlosen Trägerkleid in dem Sofa versank, sich über die englischen Toffees hermachte, die in einem Schälchen auf dem Couchtisch standen. Sie beobachtete, wie Ruth den Kopf hin und her schüttelte, so dass ihr die strähnigen Haare über die Schläfen fielen, während sie sich ein grässliches Szenario ausmalte:

»Umzug! Wie furchtbar! Also wenn ich in die Verlegenheit käme, umziehen zu müssen – Himmel und Hölle, mit dem ganzen Krempel, der sich angesammelt hat, also das mag ich mir nicht einmal vorstellen!« Sie suchte die Apokalypse zu verscheuchen, indem sie gierig das Stanniolpapier von der nächsten Toffee-Praline pellte und die Süßigkeit in den Mund beförderte, bevor sie sich ihren Eisteller auf den Schoß stellte.

»Ich hab mich auch nicht drum gerissen, aber jetzt ist das Schlimmste wohl überstanden«, sagte Caro, knabberte an Ruths Marmorkuchen und erkundigte sich, ob sie aus dem Elm stamme oder auch zugezogen sei.

»Oh nein, ich bin hier geboren, drüben in Räbke, und nach der Schule hab ich in Goslar eine Lehre zur Versicherungsangestellten angefangen, aber kurz danach hab ich Heiko beim Tanz in den Mai kennen gelernt, na ja, und dann haben wir geheiratet. Und ihr seid also aus Hamburg.« Kaum hatte Caro die Gemeinschaftspraxis erwähnt, wurde sie von Ruth unterbrochen:

»Ja, ja, ich weiß Bescheid, Ben ist der Partner vom Bertram. Kennst du seine Frau Isa?« Caro verneinte, erwähnte aber die Einladung zum Abendessen, die in Kürze anstand.

»Dann viel Spaß«, sagte Ruth und rümpfte die Nase, während sie sich mit einem zerknüllten Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken wischte. »Und du? Was machst du? Bist du auch Anwältin wie diese Frau von und zu?«

»Wie kommst du denn darauf?«, wunderte sich Caro, »nein, ich bin Webdesignerin, ich gestalte Seiten fürs Internet, was sehr praktisch ist, wenn man umzieht, denn diese Arbeit kann man überall auf der Welt erledigen.« Im Stillen fügte sie hinzu: »Und bei solch grandiosen Voraussetzungen strande ich ausgerechnet in diesem Kaff.«

Voller Hochachtung folgerte Ruth, dass Caro also etwas von Computern verstehen müsse und berichtete von ihren eigenen Versuchen, den PC für die Buchhaltung von Heikos Trödelladen zu benutzen, die meist damit endeten, dass eine Bekannte vorbeikommen musste, um die Daten zu retten.

»Das Biest macht ja meistens, was es will«, seufzte Ruth und befreite sich anschließend von diesem unerfreulichen Thema, indem sie Caro mit einigen praktischen Ratschlägen zu Einkaufsmöglichkeiten in der näheren Umgebung versorgte. Als Ruth ihr anbot, im Herbst mit ihr zu den besten Sammelstellen für Maronen und Steinpilze zu gehen und Caro sich gerade vorzustellen versuchte, wie ihre Nachbarin wohl mit ihrem Körperumfang durchs Unterholz kriechen wollte, klingelte das Telefon. Ben würde in Kürze zu Hause sein.

Wie auf Kommando sprang Ruth auf, so schnell es ihr Körperumfang zuließ. Sie rief nach Tim, der nur widerwillig seinen Ball aus der Hand legte, bedankte sich wortreich und stürzte Richtung Tür. Caro versicherte ihr mehrfach, dass Ben sich bestimmt freuen würde, sie kennenzulernen. Aber Ruth war nicht zum Bleiben zu bewegen, lieber solle Caro sich um ihren Mann kümmern. Ihr Heiko würde schön dumm gucken, wenn er nach Hause käme und sie säßen beim Kaffee zusammen. Aber tagsüber, da habe sie sturmfreie Bude, da könne Caro jederzeit vorbeischauen.

Bevor Caro noch etwas entgegnen konnte, schob Ruth Tim schon durch den Flur. Caro drückte dem Jungen schnell noch einen Ball in die Hand, damit er zu Hause üben konnte und sagte zu ihm:

»Komm wieder vorbei!«

»Kurios«, dachte sie, während sie das Kaffeegeschirr abräumte. »Meine erste Bekanntschaft im Elm ist ausgerechnet die Familie aus dem absonderlichen Haus.« Caros vorsichtige Inspektion von Ruths und Heikos Fertighaus hatte bei ihr gleich am Tag ihres Umzugs den Gedanken freigesetzt, sie habe es mit Nachbarn an der Schwelle zur Verwahrlosung zu tun, obwohl sie nun zugeben musste, dass das stark übertrieben war.

Doch Caro tat sich schwer mit Stapeln herumliegenden, nicht aufgeschichteten Kaminholzes, das der Witterung preisgegeben war, oder Fensterrahmen, deren Anstrich längst erneuert werden wollte. Alte Bretter, ein verrostetes Fahrrad ohne Vorderreifen, eine Kiste leerer Bierflaschen, wie sie sie bei Ruth und Heiko hinter der Hecke gesehen hatte, lösten bei ihr stets ein Gefühl der Beklemmung aus. Warum unternahmen die beiden nichts dagegen?

»Man braucht doch nur einen Entschluss zu fassen und ihn dann umzusetzen«, dachte sie. »Ich beschließe, die Holzscheite zu stapeln, und am nächsten Morgen mache ich mich an die Arbeit. Auf diese Art und Weise lässt sich alles, einfach alles erledigen. In jeder Hinsicht. Ob es nun um Holzscheite, Steuererklärungen oder Freundschaften geht. Man muss einen Entschluss fassen und ihn umsetzen. Hätte ich sonst jemals Ben kennen gelernt, wenn ich den Scherbenhaufen meiner Beziehung zu Jacob nicht beherzt weggeräumt hätte?« Sie griff sich drei Bälle aus dem Korb und begann, rhythmisch genau und ausdauernd mit ihnen zu jonglieren.

Ben war zeitig genug zu Hause, um vor dem Abendessen noch den Rasen zu mähen und bei der Hitze zu sprengen.

»Jegliche Gartenarbeit«, hatte Caro vor ihrem Ja zum Umzug in den Elm gesagt, »wird an dir hängen bleiben.

»Je mehr, desto besser«, hatte Ben geantwortet, »das bringt den Kreislauf in Schwung«, und tatsächlich, wunderte sich Caro, gab das stupide Bahnenziehen mit dem Rasenmäher Ben nach einem anstrengenden Arbeitstag ganz offensichtlich neue Energien.

Zum Abendessen öffneten sie ein Flasche Veltliner, setzten sich auf die Terrasse, wo es kaum kühler geworden war, und Ben erzählte von seinen Patienten, die in großer Zahl in die Praxis kamen. Entweder Bertrams Vater hatte Reklame gemacht und die Neugierde geschürt, oder das Ausscheiden des vertrauten Arztes hatte bei seinen Schäfchen tatsächlich zu einer Verschlechterung ihrer Symptome geführt. Das Wartezimmer jedenfalls war immer voll.

»Ich habe eine eurer zukünftigen Patientinnen kennen gelernt«, lästerte Caro, »stark übergewichtig, hoher Zuckerkonsum, Raucherin, ist eine Frage der Zeit, wann sie für eine Diabetes-Schulung fällig ist.« Doch ihre Bemerkung verklang ungehört, denn Ben hatte nur kurz die Augenlider geschlossen und war im selben Moment auf dem Gartenstuhl eingeschlafen. Wie überflüssig, dachte sie, als die Worte ihren Mund verlassen hatten, wie zynisch von mir. Sie war froh, dass Ben sie nicht mehr gehört hatte. Betreten ging Caro ins Haus, um an der Website für die Cuxhavener Kunden weiterzuarbeiten.

Kurz vor Mitternacht saß sie noch immer am Schreibtisch. Sie blickte durch ihr Fenster hinunter in den Vorgarten, der im Dunkeln lag, so dass sie die Ligusterhecke nur schemenhaft erkennen konnte. In der ganzen Straße war kein Laut zu hören. Es brannte nicht einmal Licht bei den Nachbarn. Ungläubig stand sie vom Schreibtisch auf und öffnete ihr Fenster. Der Wind raschelte in den Bäumen und Sträuchern der Sackgasse und trug aus Richtung der fernen Bundesstraße das Aufheulen eines Automotors heran. Caro fühlte eine Beklommenheit in sich hochsteigen, die sie vor vielen Jahren durch ihren Auszug aus dem Elternhaus gehofft hatte, für immer hinter sich zu lassen.

»Unsinn«, sagte sie sich. »Dies ist nicht der Sachsenwald, Mutter ist tot, Vater ist versorgt, Petra wohnt weit weg, und es gibt keinen Grund, jetzt depressiv zu werden, nur weil die Leute hier früher schlafen gehen als ich es gewohnt bin«, wies sie sich zurecht. Im selben Moment griff sie mechanisch zum Telefonhörer, um Steffi anzurufen.

»Geht es dir gut?«, fragte Steffi. »Wirklich?« Caro konnte nicht in Worte fassen, welche Beklemmung Besitz von ihr ergriff, sobald die Geräusche des Tages verstummten. Wie es mit Haerviu lief, fragte sie stattdessen und erfuhr, dass Steffi eine ganze wundervolle Nacht lang zusammen mit ihm am Elbstrand gesessen hatte. Dass sie gemeinsam die Containerschiffe gezählt und sich vorgestellt hatten, mit den großen Pötten in deren Heimathäfen zu fahren. Dass sie sich in den feuchten Sand gelegt und zum Klang der ans Ufer schwappenden Wellen geküsst hatten. Dass sie am nächsten Morgen am Fischmarkt gefrühstückt hatten. Caro hörte die Unbekümmertheit hinter Steffis Schilderung und atmete auf. Endlich. Steffi ließ sich fallen. Ein gutes Zeichen.

Was Julia mache, wollte Caro wissen und erzählte von ihrem kurzen Telefonat. Steffi berichtete, dass Julias Flirt mit Matthias noch immer nicht beendet war. Aber als Caro anfing zu mutmaßen, was wohl einen selbstverliebten Anwalt und eine männermordende Blondine verbinden mochte, fuhr Steffi dazwischen und ließ den Spott der Freundin nicht zur Entfaltung kommen.

»Komm mich doch ein paar Tage besuchen«, wechselte Steffi das Thema.

»Mach ich«, versprach Caro und hörte im Hintergrund durch das Telefon eine S-Bahn vorbeirauschen.

»Wenn ich jetzt losfahre«, dachte sie, als sie wenig später im Bett lag, auf dem Bauch, dicht neben Ben, und ihren Arm vorsichtig über seinen Oberkörper legte, »schaffe ich es noch vor Feierabend in unsere Stammkneipe.« Und die Vorstellung, notfalls in knapp drei Stunden wieder mit Steffi bei Ella am Tresen sitzen zu können, beruhigte sie. Mit diesem Gedanken drehte sie sich auf den Rücken, streckte Arme und Beine von sich, ließ die etwas abgekühlte Nachtluft über ihren Körper streichen und stellte sich vor, sie und Ben lägen am Elbufer im feuchten Sand bei Övelgönne.

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