Kitabı oku: «Die Schiffe der Waidami», sayfa 2
Conzellon prägte sich jede Einzelheit ein, während der Pirat langsam und provokant durch die Kajüte auf ihn zuschritt und dabei beiläufig den Raum betrachtete. Das feingeschnittene Gesicht wirkte nicht unfreundlich, als er vor ihm stehenblieb und sich ironisch lächelnd vor ihm verbeugte.
„Darf ich mich vorstellen, Capitan? Mein Name ist Jess Morgan, Captain der Monsoon Treasure.”
Conzellon traf jedes Wort wie ein Schlag in die Magengrube, und obwohl er bereits wusste, wer sein Schiff geentert hatte, war dies nun die ausgesprochene Bestätigung für das sichere Ende. Ihre Blicke trafen sich, und dem Spanier fröstelte es. Eisblaue Augen trafen auf die seinen und musterten ihn interessiert, während der Pirat vergeblich auf eine Antwort wartete. Als ihm klar wurde, dass er keine erhalten würde, verzog sich das ansprechende Gesicht zu einem höhnischen Lächeln.
„Die Derroterro habt Ihr bereits herausgesucht, wie ich sehe. Das ist sehr zuvorkommend von Euch – Capitan Namenlos.“
Besitzergreifend streckte der Pirat seine Hand nach der Ledermappe aus. Conzellon wich einen Schritt zurück, während er verzweifelt seine Möglichkeiten in der engen Kajüte abzuwägen versuchte. Sein Herz und sein Magen verklebten zu einem dicken Klumpen aus Angst. Trotzdem regte sich Widerstand in ihm. Er war nicht bereit, diesem Piratengesindel die kostbare Mappe einfach wie einen Willkommensgruß in die Hand zu drücken. Er presste die Mappe fest gegen seine Brust und tastete mit der freien Hand vorsichtig nach dem Stuhl, der neben ihm stand. Vielleicht, wenn er schnell genug war und mit dem Stuhl das Fenster einschlagen konnte und die Mappe hinterher warf …! Capitan Juan Ramirez y Conzellon versuchte krampfhaft an diesem Gedanken festzuhalten, während er sein Gegenüber wie ein hypnotisiertes Kaninchen anstarrte.
Der Pirat lächelte ihn unverändert an, zog jedoch belustigt eine Augenbraue hoch, als sein Blick zu dem Stuhl wanderte. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Ihr könnt uns beiden große Unannehmlichkeiten ersparen, wenn Ihr mir die Karten einfach gebt, Capitan.“
Der Spanier schickte innerlich ein Gebet zur heiligen Mutter Gottes und nahm all seinen verbliebenen Mut zusammen: „Ihr verdammten Piraten! Plündert und mordet für ein paar gottlose Schätze. – Seht Euch Spanien an, die Kinder unseres Landes kämpfen noch um Ruhm und Ehre!“
„Dann erscheint es mir offensichtlich, dass jeder von uns für Dinge kämpft, die er nicht besitzt!“
Das selbstsichere Lächeln des Piraten wurde breiter und offenbarte seine strahlenden Zähne, die Conzellon erneut an ein Raubtier erinnerten.
„Die Derroterro bitte, mein Herr. – Mit ihr werde ich in der Lage sein, Eurer heißgeliebten Silberflotte aufzulauern und das ein oder andere Schiff um seine Schätze zu erleichtern.“
„Wisst Ihr nicht, dass jeder Kapitän der Silberflotte schwören muss, sein Schiff eher zu zerstören, als es in die Hände von Piraten fallen zu lassen?“
„Natürlich weiß ich das, - aber es beeindruckt mich nicht sonderlich!“
Hoffnungslosigkeit breitete sich in Capitan Juan Ramirez y Conzellon aus. Mit einem Gefühl der Leere streckte er die Hand mit der Ledermappe aus und reichte sie willenlos dem Piraten.
„Ich bedanke mich für Euer Entgegenkommen, Capitan.“
Captain Jess Morgan drehte sich um und wollte die Kajüte verlassen, als Conzellons Stimme ihn noch einmal zurückhielt.
„Bitte tut meiner Mannschaft nichts, Capitan Morgan.“ Seine Stimme war mehr ein Flüstern, da er die Antwort bereits zu kennen glaubte und die Bestätigung in den mitleidlosen Worten des Piraten erhielt.
Der Pirat stand für einen Moment bewegungslos mit dem Rücken zu ihm in der Tür, bis er seinen Kopf leicht zur Seite drehte und über die Schulter hinweg antwortete:
“Ich versichere Euch, ich werde Euren Männern nichts tun, Capitan. – Das wird das Meer erledigen.“
*
Als Jess Morgan und Finnegan wenige Augenblicke später das Deck der Nuestra Senora di Hispaniola betraten, war der größte Teil der Männer damit beschäftigt, die Ladung des Schiffes auf die Treasure zu bringen. Jintel und zwei weitere Männer bewachten die Gefangenen, die sich voller Angst zusammendrängten und in dumpfes Brüten verfallen waren. Die Anzahl der Passagiere hatte sich vergrößert. Einige Frauen drängten sich in dem Bemühen, Schutz zu finden, an ihre Männer. Offensichtlich hatte Jintel alle aus ihren Verstecken getrieben.
Jess verharrte für einen Augenblick und betrachtete nachdenklich die furchtsamen Leute, als das Aufpeitschen eines Schusses die Lethargie der Spanier zerriss, und sie sich erneut bekreuzigten und in Jammern verfielen. Ihr Kapitän hatte nicht den Mut gehabt, ihnen bis zu ihrem unausweichlichen Ende beizustehen. Jess lächelte verächtlich und wandte sich ab, um nach Cale zu suchen. Sein Freund stand neben der Laufplanke zur Monsoon Treasure und überwachte aufmerksam die Verladung ihrer Beute. Einer plötzlichen Eingebung folgend schritt er auf ihn zu.
„Lass die komplette Ladung rüber schaffen, Cale.“
„Die komplette Ladung?“ Cale sah überrascht auf seinen Captain. „Wir lassen keinen Anteil zurück?“
„Wir lassen keinen Anteil zurück!“ Jess verschränkte die Arme vor der Brust und sah Cale gerade in die Augen. Die Verwirrung seines Freundes schlug ihm wie eine Welle entgegen, und er wusste, dass er mit seinen nächsten Worten diese noch steigern würde. „Und wir werden keine Position übermitteln.“ Seine Worte ließen keine Zweifel an seinen Absichten. Cale stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Für einen Moment stand er sprachlos neben Jess und schien nicht in der Lage, einen klaren Gedanken fassen zu können. Seine Augen suchten in dem Gesicht von Jess, als könnte er dort einen Grund für diesen Befehl finden. Verwirrt richtete er dann seinen Blick auf die Mannschaft, bis er sich gefasst hatte.
„Aye, Sir.“ Seine Stimme war fest, doch Jess spürte Cales Unsicherheit, als er sich abwandte und über die Laufplanke zurück auf die Monsoon Treasure ging. In seinem Rücken vernahm er die Befehle, die Cale erteilte und spürte die Strömungen seiner Männer, die kurz ins Stocken gerieten und dann ebenso verwirrt wie Cale zu ihm drangen. Seit mehr als einem Jahrzehnt segelte er mit ihnen, und niemals hatten sie die gesamte Beute aufs Schiff verladen; niemals hatten sie das Schiff versenkt, ohne die Position an Waidami zu übermitteln. Jess lächelte grimmig vor sich hin, das würde jetzt anders werden. Mit entschlossenen Schritten ging er über das Hauptdeck der Treasure und kapselte sich von den Strömungen seiner Männer ab, die ihn nur in seinen Gedankengängen störten. Schon seit geraumer Zeit beschäftige ihn die Idee, sich von den Waidami zu lösen. Er fühlte sich wie eine Marionette, die als Waffe fungierte, und das missfiel ihm. Seitdem er denken konnte, überfiel er für sie andere Schiffe, nahm einen kleinen Teil der Beute an sich, ließ den größten Teil zurück und versenkte die Schiffe, um sie für die Schiffsbauer der Waidami nutzbar zu machen. Jess betrat das Achterdeck und beobachtete beiläufig, wie die Crew den Rest der Ladung an Bord brachte und sich dann langsam von der spanischen Galeone zurückzog, ohne die Gefangenen aus den Augen zu lassen. Das Entsetzen malte sich in ihren Gesichtern ab, als sie begriffen, dass die Piraten ihr Schiff verließen. Jeder Einzelne von ihnen musste wissen, was mit den Schiffen geschehen war, die von der Mannschaft der Monsoon Treasure überfallen worden waren. Das Krachen einer kleinen Explosion aus dem Schiffsinneren verriet ihnen ihr Schicksal. Zwei Frauen klammerten sich verzweifelt aufschluchzend an ihre Männer, die die Arme schützend um sie legten und ihnen etwas zuraunten. Einige der Gefangenen sanken ergeben auf die Knie. Als die Treasure mit langen Bootshaken von der Nuestra Senora di Hispaniola abgestoßen wurde, kam Leben in die spanische Mannschaft. Einige rannten unter Deck, um sich den Schaden zu besehen, andere versuchten eilig, die Beiboote zu Wasser zu lassen. Doch McPherson, der Schiffszimmermann der Treasure, hatte mit seiner Explosion dafür gesorgt, dass das Schiff sich schnell auf die Seite legte und somit das Abfieren der Beiboote unmöglich wurde. Es gab kein Entkommen.
Jess lenkte seinen Blick unbeteiligt von der Szene weg und richtete ihn auf seine Männer. Langsam ließ er ihre Strömungen wieder zu sich vordringen. Verwundert bemerkte er die Beklommenheit unter ihnen, als die sinkende Nuestra Senora di Hispaniola langsam und unaufhaltsam vom Nebel verschluckt wurde, bevor das Meer sie gänzlich in seine nasse Umarmung zog. Ein plötzliches Räuspern an seiner Seite ließ ihn aufblicken. Cale stand neben ihm und sah in fragend an: „Welchen Kurs, Sir?“
„Wir gehen wieder auf unseren alten Kurs. Unser Ziel ist der Hafen von Changuinola. Wir benötigen einen neuen Navigator.“
„Aye, Sir!“ Cale wandte sich ab und gab den Befehl an Jintel weiter, der gerade das Achterdeck betrat. Dann drehte er sich wieder Jess zu.
„Darf ich erfahren, warum wir unser Vorgehen ändern?“ Seine Stimme klang vorsichtig und doch ließ sie erkennen, dass er sich nicht abweisen lassen würde.
Jess betrachtete nachdenklich seinen Freund, dann nickte er.
„Ich habe nicht länger vor, für die Waidami zu segeln“, sagte er bestimmt und richtete seinen Blick offen auf Cale, der die Luft zischend ausstieß. Für einen Moment rang sein Freund um Fassung, doch dann nickte er zögernd.
„Ich verstehe – nein, eigentlich verstehe ich nicht.“ Seine Augen wurden schmal, und er trat einen Schritt zurück. „Woher kommt der Sinneswandel? Seit fünfzehn Jahren kapern wir für die Waidami. Nie hast du auch nur mit einem Wort verlauten lassen, dass dir das nicht gefällt. Und dann, von einem Moment auf den anderen, lösen wir uns? Wieso? Und was das Wichtigste in meinen Augen ist: Glaubst du, sie werden das so einfach akzeptieren?“ Mit jedem Wort war die Stimmung von Cale aufgebrachter geworden, und der sonst so ruhige Erste Maat stand Jess ungläubig gegenüber.
Jess ließ seinen Freund geduldig ausreden, doch eine Falte der Missbilligung grub sich zwischen seine Augen. Für einen Moment erwog er, das Gespräch in seiner Kajüte fortzuführen, als er bemerkte, dass einige Männer versuchten, unbemerkt dem Gespräch zuzuhören. Diese Fragen würden alle Männer beschäftigen, es hatte keinen Sinn, Platz für Gerüchte zu schaffen. Seine Männer folgten ihm bedingungslos, also hatten sie auch ein Recht, von seinen Beweggründen zu erfahren.
„Es handelt sich nicht um einen plötzlichen Sinneswandel. Ich warte bereits seit Jahren auf den passenden Augenblick, mich aus der Abhängigkeit der Waidami zu lösen. Vor zwei Wochen ist der alte Kyle gestorben. Er war unser Navigator und Freund, aber er war in allererster Linie ein Schiffshalter, der die Pflicht hatte, die Positionen unserer versenkten Beuteschiffe an sein Volk zu übermitteln. Er war fanatisch, was diese Pflicht anging und hätte niemals Abstand davon genommen. Seitdem er tot ist, scheint mir der Augenblick gekommen, dass wir auf eigene Rechnung segeln können. Ich bin nicht länger gewillt, nur ein Handlanger zu sein, und ich denke, dass ihr mir da zustimmen werdet.“ Jess hatte seine Stimme erhoben und sah Cale fest in die Augen, bevor er sich der inzwischen auf dem Hauptdeck versammelten Crew zuwandte.
„Wollt ihr wirklich für immer den größten Teil der Schätze an jemand anderen verschenken? An jemanden, der nichts dafür tut, außer uns zu kontrollieren?“ Jess ließ seinen Blick über die Gesichter seiner Männer wandern. Der ein oder andere sah ihn beunruhigt an, doch der größte Teil schüttelte ablehnend mit den Köpfen.
„Wir sind Piraten! Und Piraten segeln dorthin, wo es ihnen gefällt, und nehmen sich, was ihnen gefällt. Wollt ihr euch das für den Rest eures Lebens von einem Volk vorschreiben lassen, mit denen ihr nichts, aber auch gar nichts gemein habt? Wer von euch ist nur ein kleiner Diener und hat Angst, seine eigenen Wege zu gehen? Jeder, der weiterhin für die Waidami segeln möchte, wird von mir im nächsten Hafen abgesetzt. Jeder, der den Mut hat, mit mir zu segeln, wird sicherlich den Zorn dieses Volkes heraufbeschwören, und ich kann euch nicht mehr versprechen, als in Freiheit zu sterben!“ Jess neigte seinen Kopf auf die Seite und sah Cale herausfordernd an: „Also, was sagst du?“
Cales Gesicht wirkte verschlossen, denn er wusste genau, dass die Blicke sämtlicher Männer auf ihm ruhten. Seine Entscheidung würde maßgeblich zu ihren Entscheidungen beitragen, und das wusste auch Jess Morgan, der ihn mit überlegener Miene gelassen beobachtete.
„Denke darüber nach, Cale. Bisher haben wir stets den größten Teil der Beute abgetreten und mussten in regelmäßigen Abständen ein Dorf der Waidami aufsuchen, um von dort Befehle für weitere Überfälle entgegen zu nehmen. Wenn wir uns jetzt dazu entscheiden, weiterhin den Waidami treu zu bleiben, müssen wir uns innerhalb der nächsten Wochen dort wieder melden und werden einen neuen Schiffshalter an Bord nehmen müssen. Alles würde von vorne beginnen, unsere Positionen würden laufend übermittelt, sodass die Waidami immer wissen, wo wir uns gerade aufhalten. Nichts würde unentdeckt bleiben. Jetzt ist die Gelegenheit, ihnen auszuweichen und vielleicht sogar vollständig aus dem Netz zu entwischen. In diesem Moment haben sie nicht die geringste Ahnung, wo wir uns gerade befinden.“
Cale atmete tief ein und verdrehte die Augen.
„Aye, Sir! Bieten wir den Waidami die Stirn!“
Jess lächelte, und der Jubel der Männer drang in den Nebel, wo er sich scheinbar unbemerkt in den dunstigen Schleiern verlor.
*
Langsam und würdevoll schritten die Seher in einer langen Reihe hintereinander durch den Eingang zur Sichtungshöhle. Ihre langen Umhänge schwangen bei jeder Bewegung schwerfällig mit und hoben sich durch die lavagraue Färbung kaum von der düsteren Atmosphäre in der Höhle ab. Nach einer vorbestimmten Reihenfolge ordneten sie sich in einem weiten Kreis an, der die ganze Höhle ausfüllte, und verharrten stumm in spiritueller Ehrfurcht. Jeder Einzelne schloss die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Stelle in seinem Inneren, in denen sie fest verschlossen ihre Visionen aufbewahrten. Sie öffneten den Zugang und drangen in ihre Erinnerungen, sortierten die Bilder und bereiteten sich auf die große Zeremonie der Sichtung vor, die zu jedem Neumond stattfand.
Die herrschende Stille wurde von den festen Schritten einer hochgewachsenen, hageren Gestalt unterbrochen, die die Höhle in dem Augenblick betrat, in dem alle Seher mit ihren Vorbereitungen abgeschlossen hatten.
Bairani, der Oberste Seher, trat in den Kreis und ließ seine kalten Augen über die Männer wandern. Wie immer war er in diesem Moment von Gier erfüllt, die ihn zunehmend beherrschte. Die Gier nach den Visionen seiner Seher fraß ihn immer mehr auf. Zu Beginn seiner Zeit als Oberster Seher hatte er von seinem Vorgänger Visionen erhalten, die seit Generationen weitergegeben wurden. Sie zeigten schemenhaft einen Waidami-Piraten, der ihnen entweder den Weg zur absoluten Macht in der karibischen See ebnen oder aber für das Ende der Seher verantwortlich sein würde. Wie genau das vonstattengehen würde, zeigte die Vision nur bruchstückhaft, und nur die beiden möglichen Ergebnisse waren deutlich. Jede Vision der Zukunft offenbarte nur Wege, die beschritten werden konnten, und jeder Seher wusste, dass es immer Möglichkeiten gab, andere Wege einzuschlagen. Für Bairani bedeutete das, dass er diesen Piraten finden musste. Denn in dem Punkt war die Vision eindeutig gewesen: Der Pirat würde zu Bairanis Zeit als Oberster Seher in den Reihen ihrer Piraten auftauchen. Er musste ihn finden, bevor er sich gegen die Waidami stellen konnte, und derart beeinflussen, dass sie und damit er selbst an Macht in der karibischen See gewannen und die verhassten Spanier zurückdrängten. Bairani betrachtete die Gesichter der Männer, die seltsam entrückt schienen, genauer. Sein Blick blieb an zwei der älteren Seher hängen, die beieinanderstanden. Ronam war der älteste von ihnen und hatte einen widerspenstigen Charakter. Auf dem Weg zur Sichtungszeremonie hatte der alte Mann tatsächlich den Mut gehabt, ihn aufzuhalten.
„Besinne dich auf den Ursprung der Seher und höre endlich damit auf, die Karibik mit Piratenschiffen heimzusuchen!“, hatte er gefordert. Und dies war nicht das erste Mal gewesen. Bairani widerstand dem Drang, die Fäuste zu ballen, und richtete seine Aufmerksamkeit unauffällig auf Tamaka. Der Mann hatte eine ungewöhnliche Gabe die Zukunft zu sehen, vielleicht würde er den Piraten entlarven. Doch manchmal zweifelte Bairani an Tamakas Loyalität und war sich nicht sicher, ob er auch alle Visionen offenbarte, die er empfing. Die Zeremonie der Sichtung war eingeführt worden, um alle Visionen dem Obersten Seher zugänglich zu machen. Nicht alle erhielten dieselben Bilder, manche konnten sogar nur Dinge sehen, die in der Vergangenheit geschahen oder in der Gegenwart.
Mit jeder Sichtungszeremonie hoffte er, endlich die Vision zu finden, die ihm den Piraten deutlich zeigte, doch bisher war niemals eine Spur von ihm aufgetaucht. Selbst unklare Visionen, wie sie an ihn weitergereicht worden waren, waren nicht mehr erschienen. Bairani atmete tief ein und breitete seine Arme aus, um mit der Zeremonie zu beginnen.
*
Torek rannte, so schnell er konnte durch die langen Gänge zur Sichtungshöhle. Der Weg erschien ihm unendlich weit, und die Worte seiner Mutter hallten in ihm nach: „Lauf so schnell du kannst, Torek. Du musst in die Sichtungshöhle bevor die Zeremonie vorbei ist.“
Eigentlich verstand er nicht wirklich die Eile, aber sie hatte fast panisch geklungen. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich anzuziehen, so schnell hatte sie ihn aus der Hütte gedrängt. Seine Beine fühlten sich bereits schwer an, nachdem er den Aufstieg zu der weiter oben am Vulkankrater gelegenen Höhle hinter sich gebracht hatte. Jetzt schienen die Gänge nicht enden zu wollen. Er rannte atemlos um jede neue Biegung, in der Hoffnung endlich die Zeremonienhöhle vor sich zu haben, aber er wurde jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Ein Wächter, an dem er vorbei hastete und im Laufen nach dem Weg fragte, deutete ihm eine Treppe zu nehmen, die steil nach unten führte. Torek stolperte und fiel einige der in den Felsen gehauenen Stufen nach unten. Er war so erschöpft, dass er am liebsten liegen geblieben wäre, doch entschlossen rappelte er sich auf. Sein Blick folgte dem Gang, an dessen Ende er einen rötlichen Schein erkennen konnte. Offensichtlich gab es hier keine weiteren Abzweigungen, und er schien endlich die Höhle erreicht zu haben. Leise gemurmelte Worte drangen an seine Ohren. Jetzt war er sich sicher. Mit neuer Energie erfüllt lief der Junge los und stürmte auf den Eingang der Sichtungshöhle zu. Für einen Moment dachte er daran, ob der Oberste Seher ihn bestrafen würde, weil er die Zeremonie störte. Doch er verfolgte den Gedanken nicht weiter, als er durch den Eingang stürzte, hastig über den Kreis der Seher blickte und sich vor Bairani auf den Boden warf, der gerade die Arme ausgebreitet hatte, um mit der Zeremonie zu beginnen.
*
Der Oberste Seher ließ unwillig die Arme sinken und schenkte dem Jungen zu seinen Füßen einen vernichtenden Blick. Doch irgendetwas flüsterte ihm zu sein, dass dies eine wichtige Unterbrechung war. Er zwang sich zu einem verständnisvollen Lächeln.
„Was ist so eilig, junger Torek, dass du die Sichtung aufhältst?“ Seine Stimme klang krächzend und ließ den Jungen vor ihm erschaudern.
„Ich … hat-te Vi-sionen …“ Der Junge stotterte vor Aufregung und blickte voller Furcht auf den Obersten Seher, der vor ihm aufragte und auf ihn hinabsah.
Bairani nickte langsam und hob erstaunt eine Augenbraue. Der Onkel des Jungen war Seher gewesen und vor einigen Tagen verstorben. Die Fähigkeit des Sehens wurde immer in der Familie nach dem Tode eines Sehers weitervererbt. Er hatte sich schon gefragt, wer der Erbe sein würde und wann sich die Gabe bei ihm zeigte. Doch normalerweise kamen Visionen erst langsam und wurden erst mit der Zeit ausgeprägter. Zu Anfang waren es eigentlich nur einzelne, undeutliche Bilder, niemals eine ganze Vision, geschweige denn mehrere. Er beugte sich neugierig vor und hielt Torek seine knöchernen Hände entgegen, um ihm aufzuhelfen. Dann machte er eine einladende Bewegung in die Runde der Seher.
„Sei willkommen zur Sichtungszeremonie, Seher Torek, und offenbare uns deine Visionen.“
„Ich weiß nicht, wie …“ Torek sah sich unsicher mit weit aufgerissen Augen um und stellte sich zwischen Tamaka und Durvin, die beide seinen Onkel gut gekannt hatten und ihn bereitwillig in ihre Mitte nahmen.
„Wir leiten dich.“ Bairani sah ihn auf eine hypnotisierende Art an. Torek zog den Kopf ein wenig zwischen die mageren Schultern.
Erneut breitete Bairani mit einer demonstrativ langsamen Bewegung die Arme aus und ließ sie nach oben wandern. Sein Blick schien nach innen gerichtet, während er unablässig die Worte der Alten Sprache murmelte.
Ein Seher nach dem anderen folgte seinem Beispiel, bis sich ihr Kreis schloss. Ihr Murmeln vereinigte sich zu einem Chor, der immer mehr anschwoll, eine Art Netz webte und sich bis zu der weit über ihnen liegenden Höhlendecke ausbreitete. Das Murmeln brach abrupt ab, als Bairani seine Arme sinken ließ und gemächlich den Kreis der Männer abschritt. Es herrschte eine vollkommene Stille, die durchdrungen wurde von der fühlbaren Präsenz der Visionen, die die Seher seit der letzten Zeremonie gehabt hatten und jetzt unterschwellig brodelnd unter der Oberfläche darauf warteten, endlich ausbrechen und sich zeigen zu können. Bairani blieb vor Torek stehen, dessen Visionen völlig durcheinander waren und nur mühsam von ihm zurückgehalten werden konnten. Der Oberste Seher wollte gerade dem Jungen helfen, die Bilder geordnet zu entlassen, als ihn etwas Unbestimmtes zu Tamaka blicken ließ. Misstrauisch verengte er seine Augen, als er deutlich spürte, dass Tamaka vollkommen gelassen dastand und nur wenige Visionen aufzubewahren schien. In diesem Augenblick wünschte sich Bairani inbrünstig, ein Mittel zu besitzen, um jeden Seher zur Offenbarung sämtlicher Visionen zwingen zu können. Er war sich sicher wie nie zuvor, dass Tamaka etwas verschwieg. Bairani knurrte innerlich und zwang sich wieder dazu, seine Aufmerksamkeit auf Torek zu richten, der ihn schüchtern ansah. In einer fürsorglichen Geste legte er eine Hand zwischen die Augen des Jungen, dann schloss er selbst seine Augen. Bedächtig löste er sich von Torek, der ruhiger geworden war, und ging zurück in die Mitte des Kreises. Vor seinen geschlossenen Augen zeichneten sich die Seher als Schemen ab, von deren Schultern sich nun kaum wahrnehmbare Schatten lösten und über die Gruppe schwebten. Dort begannen sie sich zu verdichten und formierten sich zu einer Kuppel aus unzähligen Bildern, die sich über die Seher legte und sie vollkommen einschloss.
Bairani drehte sich einmal um seine eigene Achse, um sich einen Überblick über die Visionen zu verschaffen. Er entdeckte drei neue Kinder, die als Kapitäne auserwählt waren, doch schenkte er ihnen momentan keine Beachtung. Sein Blick wanderte die Reihen entlang, vorbei an dem Tod einiger Stammesmitglieder, Geburten, Streitigkeiten; alles Dinge, die für ihn nicht weiter von Belang waren. Die alltäglichen Dinge des Volkes interessierten ihn schon lange nicht mehr. Er strebte mit seiner ganzen Seele danach, die Macht der Waidami auszubauen und die Spanier aus der karibischen See zurückzudrängen. Mit Genugtuung entdeckte er den Bau von weiteren Waidami-Schiffen, als sich überraschend die noch etwas unklaren Bilder von Torek in den Vordergrund drängten. Die Visionen schwangen in ihrer Position unruhig auf und ab und waren kaum zu fassen. Bairani ging kurzerhand zu dem Jungen und legte ihm wieder die Hand zwischen die Augen. Sofort beruhigte sich das Bild. Bairani hielt unwillkürlich den Atem an. Vor ihm zeichnete sich das deutliche Bild von einer leblosen Gestalt ab, die Bairani als Kyle, den Schiffshalter, erkannte, der auf der Monsoon Treasure seinen Dienst versah. Das Bild verschwamm, und ein neues Bild formierte sich. Die Gestalt von Captain Jess Morgan erschien in überklarer Deutlichkeit, der vor seiner Crew eine Rede gegen die Waidami führte, der die Männer mit lautem Jubel zustimmten. Der Jubel schien die ganze Höhle auszufüllen und wurde von den Wänden zurückgeworfen, bis Bairani mit einer unwirschen Bewegung die Vision wegschob. Doch sofort reihte sich ein weiteres Bild ein. Bairani konnte nicht glauben, dass ein frischer Erbe in der Lage war, solche klaren Visionen in dieser Anzahl zu empfangen. Das neue Bild, das sich ihnen offenbarte, zeigte, wie die Monsoon Treasure andere Waidami-Schiffe in einer Schlacht versenkte, und ging dann fließend in das Gesicht eines rothaarigen Mädchens über, dessen funkelnde Augen für einen Moment die ganze Höhle in smaragdgrünes Licht tauchten. Bairani lenkte seinen Blick wie eine Schlange, die gerade erst eine Beute entdeckt hatte, auf Tamaka, der bleich neben Torek stand und die Bilder verfolgte. Als er spürte, dass Bairani ihn beobachtete, trafen sich ihre Blicke. Tamaka senkte entsetzt den Kopf. Der Oberste Seher sah mit Genugtuung, dass dem Seher bewusst war, dass er seine Tochter erkannt hatte. Sein Gesicht verzog sich zu einem hässlichen Lächeln. Captain Jess Morgan also! Endlich wusste er, wer der Gesuchte war.
„Schluss! Das ist genug für heute. Wir wollen unseren jungen Seher nicht überanstrengen. Ihr könnt gehen.“ Mit einer herrischen Geste beendete Bairani abrupt die Sichtung und scheuchte die Seher aus der Höhle. Er hatte das, was er brauchte. Mit berechnenden Blicken verfolgte er, wie die Seher die Höhle verließen. Als Tamaka an ihm vorbei wollte, hielt Bairani ihn mit einem boshaften Lächeln zurück.
„Wie wir alle gesehen haben, benötigt die Monsoon Treasure dringend einen neuen Schiffshalter. Finde heraus, wo Jess Morgan sich aufhält und schicke deine Tochter zu ihm. Jedoch möchte ich, dass sie sich nicht als Schiffshalter zu erkennen gibt, sondern lediglich als Navigator an Bord geht. Sie soll ihn beobachten, soll herausfinden, ob er uns weiterhin treu ergeben ist, und ich möchte regelmäßig Positionsangaben haben.“ Er kicherte leise, als er sah, wie der Mann ergeben die Augen schloss. Die Vision hatte interessante Figuren ins Spiel gebracht, und Bairani war sich sicher, dass er Jess Morgan wieder auf seine Seite würde ziehen können.
„Wie du befiehlst, Bairani!“ Tamaka verbeugte sich steif und wandte sich dann ab, um den anderen Sehern eilig zu folgen.