Kitabı oku: «Das Erbe von Tench'alin», sayfa 6

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»So, woher denn, Officer ... Pease?«, fragte Nikita freundlich. Sie hatte das Namensschild auf seiner Brusttasche gelesen.

»Na, Sie haben mich doch damals auf Pete Johnson angesprochen ... wissen Sie noch ... den neuen Star unseres Baseballteams! Ich hatte ein Magazin in der Hand mit seinem Foto drauf und Sie haben mich angehalten und sich nach ihm erkundigt. Sie sagten noch, dass Sie ihn kennen. So was vergisst Richie nicht.«

Er deutete mit dem Finger auf Nikita und zeigte dabei ein gewinnbringendes Lächeln. Jetzt fiel ihm ein, dass sie ihm damals gar nicht ihren Namen gesagt hatte.

»Jetzt, ja sicher, ich erinnere mich ... und? Hat er Ihre Erwartungen erfüllt?«, fragte Nikita mit einem schelmischen Seitenblick auf Chalsea, die daraufhin leicht errötete.

»Erfüllt? Machen Sie Scherze? Er ist eine Granate, sag ich Ihnen. Die beste Investition der Tiger seit ewigen Zeiten ... ich könnte heute noch dem Management die Füße küssen! Und die Summe, die sie für ihn ausgegeben haben, die ja wirklich nicht von schlechten Eltern war, haben sie alleine durch Trikotverkauf in den ersten drei Monaten locker wieder reingeholt!«

Dann hielt er abrupt inne und zeigte mit dem Finger auf Chalsea.

»Mann, Mann, Mann, bin ich blind! Entschuldigen Sie vielmals Mrs. Cromway, aber Sie sehen viel hübscher aus als auf den Fotos ... deswegen habe ich Sie nicht gleich erkannt. Schade, dass Sie nicht mehr mit ihm zusammen sind ... ich habs vor ein paar Tagen gelesen ... aber sorry, das geht mich ja nichts an.«

»Ist schon gut«, meinte Chal und zupfte Nikita am Ärmel, »komm jetzt, wir müssen los ... einen guten Tag noch, Officer.«

Sie hatte keine Lust, mit einem Mann vom Sicherheitspersonal über ihren Beziehungsstatus zu reden.

»Auf Wiedersehen, Officer Pease«, rief Nikita freundlich und eilte ihrer Freundin hinterher.

»Den wünsche ich Ihnen auch, Ladys«, erwiderte Richard fröhlich, der gegen ein Wiedersehen nichts einzuwenden hatte.

Dann schaltete er die MFB ein. Er mochte dieses ungeliebte Teil nicht ... vielleicht auch einfach nur, weil der Chief befohlen hatte, sie zu tragen. Er richtete seinen Blick auf die beiden Freundinnen, die jetzt vor einem Schaufenster standen und Schuhe betrachteten. Er war neugierig und berührte einen Sensor an der Brille.

»Chalsea Chromway«, murmelte er leise und wartete ein paar Sekunden auf den Rest der Mitteilung. Fotoreporterin ... das weiß ich ja inzwischen, aber so hat sie Pete bestimmt kennengelernt ... 65. Straße 67, App. 2001 ... das ist nicht weit von hier ... die wäre doch was für unseren Richie. Und die andere? Wer ist das?

Er richtete die Kamera auf Nikita und berührte den Sensor erneut, dann noch einmal und dann, leise fluchend, ein drittes Mal. Er nahm die MFB ab und betrachtete sie kopfschüttelnd von allen Seiten.

Scheißding, wieder mal defekt, dachte er und machte sich auf den Weg zurück in sein Office, denn in einer halben Stunde würde er ohnehin seine Schicht beenden, die mit einer defekten MFB keinen Sinn machte. Er würde eine gepfefferte Schadensmeldung loslassen und nach einem schnellen Imbiss zum öffentlichen Training der Tiger gehen. Die hatten am Wochenende ein wichtiges Heimspiel und konnten seine Unterstützung sicherlich gebrauchen. Da zählte jeder Fan.

Als der Morgen graute, lag Nikita immer noch mit offenen Augen auf ihrem Bett und fand keinen Schlaf, obwohl sie hundemüde war. Die Pillen, die sie in solchen Fällen früher genommen hätte, kamen für sie nicht mehr infrage. Sie dachte an Effel und an die Menschen in Seringat, die sie so in ihr Herz geschlossen hatte. Wie gut hatte sie in seinem Haus schlafen können. Der monotone Ruf des Nachtvogels hatte sie in einen tiefen und erholsamen Schlaf begleitet. Sie würde am nächsten Morgen auch nicht von ihm oder Sam geweckt werden. Sie vermisste einfach alles.

Unter ihrem Apartment pulsierte das Nachtleben, das sich in seiner Lautstärke in nichts von der des Tages unterschied.

So weit oben kam dies lediglich als leises, ab- und anschwellendes Summen an, das sie an den Garten des Bienenfreundes Sendo erinnerte. Sie musste lächeln, als sie an den Korbmacher in Seringat dachte, der ihr so stolz seinen Garten gezeigt hatte. In diesem Moment kam ihr auch die Melodie wieder in den Sinn, die er gesummt hatte, als er mit seinen Bienen gesprochen hatte. Er hatte bei seiner Arbeit weder Netzhut noch Smoker gebraucht. Alleine sein Lied stimmte die Bienen ganz offensichtlich freundlich.

Sie war nach ihrem Treffen mit Chal – das Kleid hatte sie nicht gekauft – abends lange in der Firma geblieben. Sie wollte die Arbeiten unbedingt vorantreiben, wollte alles schnell zu Ende bringen. Nach dem Abschied von ihrer Freundin hatte sie zunächst bis in den späten Nachmittag an ihrem alten Arbeitsplatz verbracht und liegen gebliebene Dinge aufgearbeitet, bevor sie in die neuen Laborräume hinübergegangen war.

Als Professor Rhin in der Nacht alleine im Labor gewesen war, war er über etwas gestolpert, das ihm gehörig den Wind aus den Segeln genommen hatte. Er hatte Nikita erst einmal nichts davon erzählen wollen, hatte es dann aber doch getan.

Eine halbe Stunde später hatte er sie zu sich gerufen. Er hatte kopfschüttelnd und murmelnd über einem der Pläne gestanden, die fein säuberlich vor ihm auf dem Kartentisch ausgebreitet lagen.

»Herr Professor ... stimmt etwas nicht?«, hatte sie mit einem plötzlichen unguten Gefühl in der Magengegend gefragt. Ihr inneres Warnsystem war angesprungen.

»Ich weiß es noch nicht«, hatte er gemurmelt, »es ist sehr kompliziert das alles … viel komplizierter, als ich dachte. Damit meine ich nicht die lateinische Sprache, obwohl ich mich gefragt habe, warum der Entwickler die Pläne nicht in seiner Muttersprache verfasst hat. Aber ihre Erklärung hat mir eingeleuchtet.« Er hatte sich am Kinn gekratzt.

»Kann ich denn helfen?«

Sie hatte sich vor einer halben Stunde in den Nebenraum zurückgezogen und ein Modell des Myon-Neutrino-Projektes auf ihren Bildschirm projiziert. Es war ihr erster grober Entwurf, den sie nach Francis Zeichnungen angefertigt hatte. So ungefähr stellte sie sich das Endprodukt vor. Mit den Berechnungen würde sie sich später gemeinsam mit dem Professor beschäftigen. Man würde es wesentlich kleiner bauen können, als Francis es sich damals, vor vielen hundert Jahren, ausgedacht hatte, das war ihr allerdings bereits klar geworden.

Es sah aus wie ein kleiner Satellit mit einer endlos langen Nabelschnur, die bis zur Erde in einen Transformator hineinreichen würde. Dieser Transformator würde nach ihren Schätzungen mindestens die Größe des Baseball-Stadions von Bushtown haben müssen. Dort würde dann die endgültige Umwandlung der Ätherenergie in brauchbare elektrische Energie stattfinden. Tausende Male effizienter als sämtliche Solaranlagen oder Wasserkraftwerke, die in den Wüsten und Gebirgen des Kontinents installiert worden waren.

Sie hatte in sich hineingelächelt bei dem Gedanken, was Effel für Augen machen würde, wenn er eines Tages dies hier würde sehen können. Gleich darauf hatte sie diesen Gedanken allerdings wieder verworfen – er würde seine geniale Erfindung nie sehen. Es würde ihn allerdings heute auch nicht sonderlich interessieren, wie sie wusste.

»Schauen Sie bitte mal hier, Nikita«, er hatte auf einen der Pläne und dort auf eine bestimmte Stelle in den Berechnungen gezeigt.

»Ich komme hiermit nicht weiter, er hat mitten im Text ein paar merkwürdige Sätze stehen, nicht vollständig und mit einem Hinweis versehen … es ist eine Verschlüsselung, vermute ich«, hatte der Professor mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme gesagt.

Nach einer kurzen Pause war er fortgefahren: »Hier, an der entscheidenden Stelle, bei der Umwandlung der Neuronen auf der Erde ... da ist ein, ich nenne es mal, Rätselcode eingebaut. Ich weiß nicht, was das soll. Es hat damals doch überhaupt keinen Sinn gemacht. Er muss eine Vorliebe für Rätsel gehabt haben. Wenn wir das nicht lösen, können wir das ganze Projekt vergessen ... und das wäre gar nicht auszudenken, es wäre einfach tragisch! Aber das muss ich Ihnen nicht erklären. Sie haben es offensichtlich noch nicht gesehen. Schauen Sie hier.« Er zeigte auf eine Stelle in dem Originaltext.

Quis sum? Hieme e nubibus nigris leniter venio atque super ardua tecta domorum tarde cado, ut cadens asperum TEGAM …(Reliquum et aenigma in Monastère Terre Sainte quaerens invenit.)

Professor Rhin blickte Nikita fragend an. »Sie haben das noch gar nicht gelesen, stimmts?«

»Nein, das sehe ich erst jetzt. Verstehe es aber nicht.«

»Nun, hier ist die Übersetzung.«

Er nahm das oberste Blatt von seinem Stapel handschriftlicher Unterlagen.

Im Winter komme ich aus dunklen Wolken und ich falle langsam auf die steilen Dächer der Häuser, sodass ich beim Fallen den schroffen Menschen bedecke … (den Rest und die Lösung findet der Suchende im Kloster zum Heiligen Grund)

»Das heißt, dass dieser lateinische Text nicht vollständig ist und wir das Rätsel nicht lösen können, wenn wir nicht dieses Kloster finden?«

»Das Kloster oder Effel Eltringham«, meinte der Professor trocken.

Dann hätte er mir ja etwas verschwiegen oder er wusste es einfach selbst nicht mehr, dachte Nikita, sprach es aber nicht aus. Dennoch musste sie innerlich grinsen, denn sie kannte ja Effels Liebe zu Rätseln und ganz offensichtlich hatte er diese auch früher schon gehabt. Dieses hier war allerdings unvollständig und vielleicht sehr kompliziert. Jedenfalls hatte sie keine spontane Idee.

»Hm, so schnell fällt mir da auch nichts ein, aber das werden wir doch herausbekommen … das wäre doch gelacht.«

»Ihre Zuversicht in allen Ehren, Nikita. Wir haben nicht sehr viel Zeit dafür, die Menschen wollen Ergebnisse. Ich war ja dagegen, so schnell an die Öffentlichkeit zu gehen, aber nun ist es geschehen. Es wird im Fernsehen berichtet, mit allen Interviews. Wie stehen wir da, wenn das hier herauskommt?

Alles andere hier ist mir inzwischen klar. Wie wir Neuronen einfangen können, wissen wir ja schon lange. Aber die Umwandlung! Gerade um die geht es doch. Früher galt das Atom noch als kleinster Baustein des Universums.«

Der Professor war dabei, in seinen Vorlesungsmodus zu verfallen, wie Nikita bemerkt hatte. Sie hatte ihn aber in diesem Moment ungern unterbrechen wollen. Sie hatte sich damals bei der Entdeckung der Pläne in der Burg Gisor auch schon gefragt, warum Francis diese in lateinischer Sprache verfasst hatte, dann aber von ihm selbst eine Erklärung dafür bekommen. Das Rätsel war ihr bislang nicht aufgefallen, da sie die Pläne zunächst einmal nur überflogen hatte.

»Später«, war Professor Rhin dozierend fortgefahren und dabei gestikulierend im Raum auf und ab gegangen, »wurden die Bestandteile der Atome, die Elektronen, Protonen und Neutronen gefunden. Dann sprachen die Physiker gar von einem Zoo der subatomaren Teilchen, als sie mit damals modernster Technik mehr als 200 winzige und teils sehr exotische Partikel entdeckt hatten. Die Neutrinos, um die es bei unserem Projekt hier geht, gehören zu den Leptonen, den sogenannten leichten Elementarteilchen, aber das wissen Sie ja, Nikita. Sie waren lange Zeit kaum nachweisbar und können mühelos die Erde durchqueren. Sie spielen bei radioaktiven Prozessen eine wichtige Rolle. Ihre Masse ist sehr gering. Für über ein halbes Jahrhundert hatten alle Wissenschaftler gedacht, dass Neutrinos keine Masse haben. Dabei passieren jede Sekunde Milliarden von Neutrinos unseren Körper.

Den Nobelpreis für Physik hatten im Jahr … lassen Sie mich nachdenken … es muss Anfang des 21. Jahrhunderts gewesen sein … genau, 2015, der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur B. McDonald erhalten. Die beiden Physiker hatten endlich den Nachweis erbracht, dass Neutrinos eine Masse besitzen.«

Nikita hatte wieder einmal, wie schon so oft, das enorme Gedächtnis des Professors bewundert, der für Jahreszahlen und Namen eine gesonderte Abteilung in seinem Gehirn haben musste.

Dann war sie zum eigentlichen Thema zurückgekommen.

»Aber das Rätsel werden wir doch wohl lösen können. Wir werden alle möglichen Suchprogramme starten und dann können wir ja mit den Berechnungen weitermachen. Notfalls lassen wir sämtliche Rechner drüberlaufen, auch wenn dadurch alle anderen Arbeiten erst einmal liegen bleiben. Die

werden aber dann auch nicht lange brauchen.«

»Das hoffe ich sehr, Nikita … wenn wir das aber nicht schaffen sollten, und zwar in absehbarer Zeit … ach, lassen Sie uns positiv denken. Bisher hat ja auch alles wunderbar geklappt. Machen wir weiter und vertrauen auf unseren Grips und die Technik.«

Wenn wir es nicht lösen können, wäre dieser Teil meiner Mission umsonst gewesen, hatte sie gedacht, und der nächste Gedanke, der sich ihr aufdrängte, hatte sie erschreckt.

***

Kapitel 6

»Sie kennen dieses Tal also doch. Dann war meine Vermutung ja richtig.« Jared hatte recht gehabt. Wenn es einen Menschen gäbe, von dem er etwas über das geheimnisvolle Tal erfahren könnte, so hatte er vor ein paar Tagen zu Scotty gesagt, dann wäre das die Äbtissin von Haldergrond. Er hatte diesen letzten Strohhalm ergriffen und war vor Kurzem in der ehemaligen Klosteranlage eingetroffen, die seit einigen hundert Jahren die berühmteste Schule für Heilkunst und Musik war. Es wurden hier nur junge Frauen aufgenommen, die sich einem strengen Auswahlverfahren unterzogen hatten oder sich auf Empfehlung einer anerkannten Heilerin für einen Ausbildungsplatz bewarben.

Wenn ihm vor einer Woche jemand, ganz egal wer, diesen Schritt vorausgesagt hätte, hätte er dieser Person ans Herz gelegt, einen guten Arzt aufzusuchen.

Jetzt saß er im Allerheiligsten von Haldergrond in einem alten Ledersessel, in dem schon viele Menschen gesessen haben mussten, was an den abgewetzten Armlehnen und der tief nach innen gewölbten Sitzfläche deutlich zu erkennen gewesen war.

Fast die gleichen Sessel wie bei uns daheim, hatte er festgestellt, als er sich vorsichtig niedergelassen hatte, wenn unsere auch in einem deutlich besseren Zustand sind.

Ihm gegenüber hatte die Leiterin der Schule, die im Volksmund nur die Äbtissin genannt wurde, auf einem mächtigen, mit wertvollem Brokat bezogenen Stuhl Platz genommen.

Dessen hohe kunstvoll geschnitzte Lehne war am oberen Ende mit zwei zu den Seiten ausladenden, stilisierten Engelsflügeln verziert. Sie sah klein darin aus, obwohl sie es nicht war. Wie er bei der Begrüßung hatte feststellen können, war sie nur etwa einen Kopf kleiner als er. Sie trug ein cremefarbenes Leinenkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihre nackten Füße steckten in braunen Sandalen mit silbernen Schnallen. Die schwarzen Haare, er hatte nicht eine graue Strähne darin entdecken können, hatte sie zu einem imposanten Knoten geflochten, der von einer ebenfalls silbernen Spange gehalten wurde. Am Ringfinger ihrer rechten Hand trug sie einen schlichten Siegelring mit einem dunkelroten Stein. Ihr linkes Handgelenk zierte eine schmale silberne Armbanduhr.

Neben seinem Sessel befand sich ein kleiner, runder, dreibeiniger Messingtisch. Dort stand ein Krug Wasser, dessen Boden mit Halbedelsteinen bedeckt war, daneben ein bunt verziertes Glas.

Die Nachmittagssonne, die durch das mit einem kunstvollen mandalaartigen Ornament versehene runde Fenster schien, das fast die gesamte Fläche der Wand einnahm, tauchte den Raum in mildes, fast unwirkliches Licht. In der Mitte des Mandalas war ein grüner Drache mit einem roten Hahnenkopf abgebildet.

Jared hatte beim Hereinkommen kurz die Gelegenheit gehabt, einen Blick aus einem der hohen schmalen Fenster zu werfen, die das Drachenfenster flankierten. Dabei hatte er festgestellt, dass man weit in das Tal über einen sich durch Wiesen und Felder schlängelnden Fluss bis hin zu den Wäldern sehen konnte, die, wie er wusste, ebenfalls zu Haldergrond gehörten. Dann war sein Blick für einen kurzen Moment an der Darstellung des Drachen haften geblieben.

»Unser Schutzpatron«, hatte die Äbtissin leise erklärt. Mehr hatte sie dazu nicht gesagt, denn sie hatte Jareds gerunzelte Augenbrauen durchaus bemerkt.

Adegunde musterte den Farmer aus ihren klaren dunkelgrünen Augen, die ihn an einen ruhigen Waldsee erinnerten.

»Bitte bedienen Sie sich, das Wasser stammt aus einer unserer Heilquellen.«

Dabei hatte die Äbtissin auf den Krug gedeutet und Jared schenkte sich ein Glas voll ein und kostete. Es schmeckte ein wenig süßlich.

Er hatte zuvor in seinem Gästezimmer, dessen komfortable Ausstattung ihn überrascht hatte – von einem Kloster hätte er anderes erwartet – eine ausgiebige Dusche genommen und in seinem Rucksack sogar noch ein frisches Hemd gefunden.

Schon nach dem Überschreiten der alten Zugbrücke, die in das Innere Haldergronds führte, hatte er das Gefühl gehabt, eine völlig andere Welt zu betreten. Als er dann vor dem Gebäude gestanden hatte, in dem er die Äbtissin treffen sollte, war er aus dem Staunen fast nicht mehr herausgekommen.

Sieht aus wie ein Palast, die haben hier wirklich an nichts gespart, hatte er gedacht.

Adegunde schien über seinen Besuch nicht sonderlich überrascht zu sein und er hatte auch nicht lange warten müssen, um zu ihr vorgelassen zu werden. Sie hatte ihm auf seine Bitte hin absolute Vertraulichkeit zugesichert. Das Wesentliche war bald erzählt und sie hatte ihm gerade bestätigt, von der Existenz des Tals zu wissen. Für sie schien es das Normalste der Welt zu sein.

»Dann sind Sie wahrscheinlich der einzige Mensch in ganz Flaaland, der es kennt«, fuhr Jared, dem es zunehmend unbehaglich wurde, fort. Er fühlte sich von dieser Frau, deren Alter er auch nicht nur annähernd einschätzen konnte, auf einen Prüfstand gestellt, ohne zu wissen, was genau geprüft wurde. Sie sprach langsam, machte zwischen den Sätzen Pausen und beobachtete ihn währenddessen hinter halb geschlossenen Lidern durch ihre langen Wimpern hindurch. Sie schien vollkommen in sich zu ruhen. Diese Frau imponierte ihm, war ihm aber auch ein wenig unheimlich. Er konnte in diesem Moment nachvollziehen, dass sich so viele seltsame Geschichten um sie rankten.

Von dem, was er bisher von Haldergrond gesehen hatte, war er mehr als beeindruckt, denn so gewaltig hatte er es sich nicht vorgestellt. Dagegen war Raitjenland ein kleiner Bauernhof, wie er neidlos feststellen musste, obwohl die Farm mit 250 Hektar bei Weitem die größte in der Provinz Winsget und weit darüber hinaus war.

»Nein, ich bin nicht der einzige Mensch, der von diesem Tal Kenntnis hat. Viele meiner Mitschwestern waren ebenfalls schon dort, die meisten von ihnen leben bedauerlicherweise aber nicht mehr ... vielleicht gibt es auch noch mehr Menschen, die es kennen. Ich weiß das nicht. Früher haben wir dort unsere Heilkräuter gefunden und das Gelübde abgelegt, den Weg als Geheimnis zu hüten.«

Die Äbtissin hielt für einen Moment inne, bevor sie erklärte: »Inzwischen bauen wir die meisten dieser Pflanzen in unseren eigenen Gärten an, obwohl sie sicher nicht ganz die Qualität erreichen. Der Weg in dieses Tal ist sehr lang und beschwerlich ... natürlich nicht für einen Mann wie Sie.« Sie machte erneut eine Pause. »Ich bewundere Ihren Mut, Jared, ich darf Sie doch Jared nennen, Herr Swensson?«

»Ja, das dürfen Sie.«

»Es gibt ... Geschichten über dieses Tal ... sicher haben Sie davon gehört«, fuhr die Äbtissin jetzt mit leiser Stimme fort, wobei sie ihre Augenlider wieder halb geschlossen hatte.

Hat sie überhaupt ihren Mund bewegt?, fragte sich Jared. Und wem gegenüber haben sie wohl dieses Gelübde abgelegt?

Er traute sich nicht, diese Frage laut zu stellen. Stattdessen nickte er schwach und erwiderte: »Ich weiß, meine alte Kinderfrau hat sie meinem Sohn oft genug erzählt und ... und mir wahrscheinlich früher auch. Bisher hielt ich solche Erzählungen für ... na ja, für Ammenmärchen ... inzwischen bin ich mir da allerdings nicht mehr ganz so sicher«, räumte er ein und lächelte verlegen.

»Sie hätten Vrena mehr vertrauen sollen, Jared.«

Hatte er den Namen seiner Kinderfrau erwähnt? Er war sich sicher, dass er das nicht getan hatte. Woher kannte also diese merkwürdige Frau den Namen seiner Amme?

»Es tut mir leid um Ihren Sohn, aber er hätte dieses Tal nicht betreten dürfen, Jared. Vrena hat ihm sicher erzählt, dass ... nun, dass es verboten ist«, sagte Adegunde jetzt, ohne ihm viel Zeit zum Nachdenken zu lassen. War da eine gewisse Strenge in ihrer Stimme aufgetaucht oder hatte er sich die bloß eingebildet? Und konnte es sein, dass ihre Augen für einen Moment, einen sehr kurzen Augenblick nur, rot aufgeleuchtet hatten? Wahrscheinlich nur eine Lichtspiegelung, beruhigte er sich sogleich.

»Hat er deswegen mit seinem Leben bezahlt? Er hat dieses Tal durch Zufall gefunden, so wie ich auch, da bin ich mir sicher. Kann man ihn dafür bestrafen? Wieso bin ich dann nicht getötet worden? Können Sie mir das sagen? Glauben Sie mir, als ich die Leiche meines Sohnes dort oben zwischen den Felsen gefunden hatte, hatte ich mir das sogar für einen Moment gewünscht.«

»Ich fürchte, deswegen musste er sterben, ja ... nein, ich bin mir sicher, dass das der Grund war. Das Tal wurde streng bewacht, seit Hunderten von Jahren. Sie hatten einfach Glück, dass die meisten der Wächter nicht mehr dort sind, Jared.«

Der Farmer beugte sich in seinem Sessel nach vorne.

»Das konnte mein Sohn nicht wissen ... da bin ich mir sicher. Vielleicht hat Vrena ihm früher einmal davon erzählt, aber inzwischen ist mein Sohn erwachsen und …«, der Farmer hielt inne, weil das Bild des toten Vincent vor seinem geistigen Auge aufgetaucht war und sich seine Augen sofort mit Tränen füllten. Sie rannen ihm die Wangen herab. Er nahm ein Taschentuch aus der Jacke und wischte sie ab. Dann lehnte er sich wieder zurück und schnäuzte sich geräuschvoll.

»Verzeihen Sie … aber ich glaube diesen ganzen …«, hielt er inne, denn er wollte die Äbtissin nicht verärgern.

»Sie wollten Unsinn sagen, nicht wahr? Sie können es gerne als Unsinn betrachten, das steht Ihnen frei, Jared. Sie brauchen sich auch Ihrer Tränen nicht zu schämen. Niemand braucht sich dafür zu entschuldigen, dass er weint«, sagte sie jetzt in einem sanften Tonfall. »Männer, die weinen, beweisen Stärke. Unsere Tränen sind die Perlen der Seele.«

Das hatte er bisher anders gesehen. Das letzte Mal, dass er sich erinnern konnte geweint zu haben, war, als er seine geliebte Akira auf Geheiß seines Vaters wieder in die Freiheit hatte fliegen lassen. Er hatte das Adlerweibchen als Jungvogel in einer halsbrecherischen Aktion aus seinem Horst gestohlen, dann aber liebevoll großgezogen. Und da war er viel jünger gewesen. Nicht mehr ein Knabe, aber auch noch kein Mann. Die Narbe, die sich gut sichtbar über einen Teil seiner Stirn zog, zeugte noch immer von diesem waghalsigen Abenteuer.

Hätten die Hunde sich nicht auf die verzweifelt angreifenden Altvögel gestürzt und sie damit vertrieben, hätte es wesentlich schlimmer ausgehen können.

»Aber warum ist uns dann nichts geschehen, wenn dieses Tal so gut bewacht wird, wie Sie behaupten ... ich meine, dem Freund meines Sohnes und mir?«

»Das weiß ich nicht, Jared, ... ich sagte schon, dass Sie vielleicht einfach Glück hatten und viele der Wächter nicht mehr dort sind.«

Die Äbtissin lächelte. Seltsam, aber er hatte für einen Moment den Eindruck gehabt, dass sie es sehr wohl hätte sagen können. Sie war offensichtlich sehr gut informiert.

»Wer, um Gottes willen, hat das getan? Können Sie sich vorstellen, mit welcher Brutalität mein Sohn getötet worden ist? Das war einfach ... unmenschlich!« Er schüttelte verzweifelt den Kopf und ahnte nicht, wie nah er mit dieser Aussage an der Wahrheit war. »Was soll so schlimm daran sein, dass ein unschuldiger junger Mann mit seinem Leben dafür bezahlen muss, nur weil er zufällig – und ich bin mir da absolut sicher, dass es Zufall war – in dieses Tal geraten ist?«

»Nun, ich glaube, dass es irgendeinen Hinweis gegeben hat, dem er hätte entnehmen können, dass es nicht nur verboten, sondern auch sehr gefährlich war weiterzugehen.«

Jared wollte gerade vehement widersprechen, als ihm die Inschrift auf der merkwürdigen Steintafel in der Höhle, in der sein Sohn übernachtet oder zumindest zu Abend gegessen haben musste, in den Sinn kam. Sicher hatte Vincent diese Tafel auch gesehen und dann hatte er natürlich ebenfalls den Gang gleich daneben entdeckt, der ihn schließlich direkt in dieses verfluchte Tal geführt hatte. Dass es verflucht war, davon war Jared inzwischen überzeugt. Das behielt er allerdings für sich. Er schüttelte nur den Kopf.

»Ja, ich habe eine Inschrift in einer der Höhlen gesehen, darauf wurde allerdings vor gar nichts gewarnt. Dort stand irgendetwas von einem Geheimnis, das von einer starken Macht bewacht werden würde. Ich erinnere mich, dass der Text nicht vollständig war. Wissen Sie, auch wir haben als Kinder in den Höhlen der Agillen gespielt und so manchen Schabernack getrieben … auch mit uns ist die Fantasie während unserer Abenteuerspiele mehr als einmal durchgegangen.«

»Nur, dass diese Inschrift weder ein Schabernack noch das Produkt kindlicher Fantasien war«, wurde er unterbrochen.

»Na gut, aber dann frage ich Sie noch einmal, verehrte Äbtissin: Warum ist uns dann nichts geschehen? Wo sind die Wächter hin? Warum sind sie nicht mehr da?«

Er wollte nicht lockerlassen, aber Adegunde antwortete auf seine letzte Frage gar nicht, sondern schaute ihn nur durch fast geschlossene Augenlider hindurch aufmerksam an. Er brauchte auch keine Antwort, denn er glaubte nicht an diese Geschichten von Schätzen, Gnomen und irgendwelchen Wächtern.

»Es war niemand dort!«, beharrte er. »Ich war schließlich ein paar Tage da oben und mir wäre nicht entgangen, wenn in diesem Tal jemand leben würde, das können Sie mir glauben.

Früher, ja sehr viel früher, haben dort Menschen gelebt. Aber jetzt gibt es außer Hühnern, Schafen und wilden Ziegen nichts Besonderes ... wenn man einmal von der unglaublichen Vegetation, den Ruinen und der mächtigen Burg absieht ... ach ja ... und von diesem Museum mit den merkwürdigen Bildern von noch merkwürdigeren Wesen … und dem Segelschiff ... aber das wissen Sie ja sicher auch.« Jared lächelte gequält.

»Hätten Sie Ihrer Amme besser zugehört, wüssten Sie, dass es dort oben mehr gibt, Jared von Raitjenland«, sagte die Äbtissin mit mildem Tadel, ohne auf seine letzten Bemerkungen einzugehen. Es war lange her, dass ihn jemand getadelt hatte.

»Sie meinen die Geschichte mit den Gnomen und ihrem Schatz? Ist das Ihr Ernst? Sind das die Gestalten, die ich auf den Bildern in diesem Museum gesehen habe? In den Märchenbüchern unserer Kinder werden die aber anders dargestellt.

Vrena hat so etwas meinem Sohn mehr als einmal erzählt ... und sie hat ihm damit jedes Mal eine Heidenangst eingejagt. Wissen Sie, wie oft er deswegen nachts zu uns ins Bett gekrochen kam? Am ganzen Körper hat er gezittert! Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon? Am nächsten Tag noch war er kaum zu irgendetwas zu gebrauchen.«

»Ja, genau diese Geschichten meine ich ...«

»Und diese Gnome bewachen einen sagenhaften Schatz ... das wollen Sie mir jetzt auch erzählen«, unterbrach er die Äbtissin. Es sollte hämisch klingen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen.

»So ist es wohl«, erwiderte Adegunde, ohne sich von dieser offensichtlichen Unhöflichkeit beeindruckt zu zeigen. »Sie bewachen dort oben etwas, das für sie einen unermesslichen Wert besitzt ... seit sehr langen Zeiten übrigens. Sie und Scotty dürften die ersten Menschen sein, die das Tal ohne Einladung betreten und wieder lebend verlassen haben.«

Da ... da war es wieder, dieses Aufblitzen in ihren Augen, länger diesmal – blutrot – und jetzt war sich Jared zweier Dinge sicher. Es war keine Lichtspiegelung gewesen und Scotty hatte er namentlich nicht erwähnt. Diese Frau wurde ihm immer unheimlicher. Es war merkwürdig, aber wie sie ihm dort so gelassen in dem hohen Stuhl gegenübersaß, war er fast geneigt, ihr diese Geschichten zu glauben.

»Dann bin ich einmal gespannt, wie man verhindern möchte, dass jetzt noch mehr Menschen kommen ... nachdem zwei von uns den Weg kennen, die kein Gelübde abgelegt haben und auch nie eines ablegen werden«, gab er jetzt mit Spott in der Stimme zurück.

»Sind Sie sich da ganz sicher, Jared, dass Sie den Weg wiederfinden?«, fragte Adegunde unbeeindruckt und ruhig mit hochgezogener Augenbraue und bohrendem Blick aus jetzt wieder dunkelgrünen Augen.

»Na klar bin ich das«, wollte er gerade sagen, als ihm im gleichen Moment bewusst wurde, dass er es wirklich nicht könnte. So sehr er auch nachdachte, seine Erinnerung an den Zugang war, auf welche Weise auch immer, gelöscht.

Jesper hatte vor ein paar Tagen die Höhle gefunden, weil er die Reste von Vincents Abendessen gewittert hatte, die dort um die erkaltete Feuerstelle gelegen hatten. Typisch Herr Sohn, hatte der Farmer damals gedacht. Daran, dass er einen steilen Hang hatte erklimmen müssen um sie zu erreichen, erinnerte er sich noch. Auch diese Inschrift auf der steinernen Tafel hatte er, wenn auch nur bruchstückhaft, vor Augen … aber Steilhänge und Höhlen gab es in den Agillen viele. Wer wusste das besser als er. Alles Nachgrübeln half nichts, zumindest im Moment nicht, gerade als ob die letzten Strahlen der Sonne, die eben hinter den Wäldern Haldergronds verschwand, seine Erinnerungen einfach so mir nichts dir nichts mitgenommen hätten. Er konnte es nicht fassen. Er war geradezu berühmt für seinen Orientierungssinn. Einen einmal entdeckten ergiebigen Jagdgrund fand er betrunken im Schlaf wieder, mochte er auch noch so weit von seiner Heimat entfernt sein. Er erschrak.

Der Äbtissin war das nicht entgangen.

»Sie können sich nicht erinnern, nicht wahr?«, wollte sie jetzt von ihm wissen.