Kitabı oku: «Bürger und Irre», sayfa 7

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Cullen konnte – trotz seiner überragenden Autorität – nur da nachhaltigen Einfluß auf die Psychiatrie gewinnen, wo einige seiner Schüler sich auf die praktischen Probleme des Irreseins einließen; dies gilt namentlich für Th. Arnold, A. Crichton, J. Ferriar und W. S. Hallaran. Darüber hinaus wurde Cullens Theorie zum einflußreichsten Modell für die Begründer der Psychiatrie in anderen Ländern, dem sie zum Teil folgten und an dem sie sich zum anderen Teil kritisch abarbeiteten. Hier sind für Frankreich Pinel, für die USA Rush, für Italien Chiarugi und für Deutschland mehrere Ärzte zu nennen. Das offenbar vollständige Konzept aus der Feder eines der berühmtesten Ärzte seiner Zeit mußte für diese Männer, die sich in ihren Ländern zum erstenmal unmittelbar mit den Irren befaßten, von großem Nutzen sein, mochte es noch so theoretisch sein und mochten sie auch durch eigene Erfahrungen zu anderen Ergebnissen kommen. Auf diesem Hintergrund läßt sich besser verstehen, daß ein Schüler Cullens, John Brown (1735–1788), der seinen Meister in der spekulativen Simplifizierung nervenphysiologischer Befunde weit übertraf, in England kaum Bedeutung erlangte, während sein Einfluß in Deutschland den Cullens in den Schatten stellte und zu einem nachgerade weltanschaulichen Streit um den »Brownianismus« führte. Der ehemalige Theologe Brown generalisierte in seinen Elementa medicinae (Edinburgh 1780) die »Nervenkraft« Cullens zu einer totalen Lebenskraft, der Erregbarkeit (»excitability«), d. h. der Fähigkeit, durch Reize erregt zu werden; und alles, was auf den Organismus wirkt, ist Reiz. Leben ist essentiell (angeborene) Erregbarkeit, wie Eisen magnetisch ist, und zugleich ist es erzwungen, da abhängig von den Reizen und ihrer Intensität; dabei hat die Reizung eines Teils eine einheitliche Kraftwirkung des Ganzen zur Folge. Hier sind die Grenzen der mechanischen Medizin gesprengt; an deren Stelle treten die Prinzipien der Totalität und der Kräfte-Polarität der romantischen Medizin, was die Wirkung auf Deutschland (besonders Schelling) begreiflich macht.76 Diesen Prinzipien des Lebens und der Gesundheit gehorchen auch die Krankheiten. Krankheit ist nur eine – sthenische oder asthenische – Abweichung von der normalen, mittleren Intensität der Erregbarkeit, der die Gesundheit entspricht. Das bedeutet für die Formen des Irreseins: Manie ist zu starke Erregbarkeit, also eine sthenische Krankheit, bedingt durch einen Hirnfehler oder durch zu heftige Reize (Leidenschaften); diese können sich sogar so weit steigern, daß die Erregbarkeit selbst zerstört wird, wodurch ein asthenischer Zustand als uneigentliche Schwäche (Epilepsie oder Schlaganfall) erzeugt wird. Dagegen liegt bei der Melancholie eine zu geringe Erregung, d. h. eine Verminderung der erregenden Leidenschaften vor; damit ist durch eigentliche Schwäche ein asthenischer Zustand entstanden. Das therapeutische Prinzip ergibt sich aus dieser Theorie; es besteht in einem System vielfältiger gegenwirkender Mittel bzw. im Reizausgleich, in deren Dienst Diätvorschriften ebenso treten können wie Züchtigung und die Erregung von Leidenschaften, die dem jeweiligen krankhaften Extrem bis zur Erreichung einer mittleren Norm entgegenwirken sollen.

Während Browns Theorie im Grunde schon nicht mehr dieser Epoche angehört (seine Überspitzung der Thesen Cullens, durch die etwas qualitativ Anderes entstand, verfeindete ihn mit seinem einstigen Förderer) und auf die Psychiatrie nur deshalb bezogen ist, weil sie universale Anwendbarkeit beanspruchte, entstand gleichzeitig mit den Hauptwerken Cullens und Browns das nach Battie zweite spezifisch psychiatrische »text-book« durch einen weiteren Cullen-Schüler, das für diese Übergangsära der gesellschaftlichen Integration der Irren und der Etablierung der auf sie gemünzten Einrichtungen und Theorien überaus bezeichnende Aspekte enthält. Der Autor, Thomas Arnold (1742–1816), verdeutlicht zunächst, daß die Bewegung, die Irren als Gegenstand eines spezifischen öffentlichen Interesses zu sehen, nun auch die »private madhouses« erreicht hatte, denn Arnold war Besitzer des drittgrößten von ihnen, in Leicester. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die privaten Häuser seit 1774 sich in den Bereich öffentlicher, sie zu nationaler Verantwortung aufrufender Gesetzgebung gestellt sahen. So geschah es immer häufiger, daß die privaten Unternehmer im »Mad business« in Zeitungsanzeigen, in denen sie ausgiebig Reklame für ihre Häuser machten, darauf hinwiesen, daß sie auch zu einem Teil »arme Irre« aufzunehmen bereit seien. Auch Arnold verstand sein Haus als »generous and patriotic institution«: er unterhielt acht Irre zu einem ermäßigten Kostensatz und »two other free of all expence whatever«. Zugleich arbeitete er gleichsam selbst an der Aufhebung der marktbeherrschenden Stellung des Privatunternehmertums im Irrenwesen – auf sein Betreiben wurde ab 1781 eine öffentliche Anstalt geplant und 1794 mit ihm als erstem Arzt als »Leicester Lunatic Asylum« eröffnet. Unmittelbar im Dienst dieser Intentionen steht auch sein Lehrbuch, das in zwei Bänden 1782 und 1786 erschien, nach Batties das erste eines Vollpsychiaters, sehr um wissenschaftlichen Standard bemüht, systematisch und erstmals mit sorgfältigen Zitatnachweisen. Die Einleitung enthält einen heftigen Protest dagegen, daß durch das System der Privathäuser die Irren zum Gegenstand der privaten Ausbeutung gemacht werden: »Unter der kleinen Zahl derer, die vollkommene Beobachtungen [...] anzustellen Gelegenheit haben, gibt es nur sehr wenige, die das, was ihrem Privatnutzen so vorteilhaft ist, öffentlich bekannt zu machen Lust haben«; daher habe sein Buch den Zweck, das »Interesse des Publikums« zu befördern.77 Dem Buch ist auf dem Titelblatt ein Satz des Epiktet vorangestellt, dem – mit Rücksicht auf die breitere Öffentlichkeit – die englische Übersetzung beigegeben ist: »Men are not disturbed by things themselves; but by the opinions which they form concerning them.« Mit all dem ist die Konstellation deutlicher gemacht, die sich bei Battie ankündete: Die Gesellschaft versteht sich zunehmend als eigengesetzliche Zirkulationssphäre, weswegen sie darauf angewiesen ist, auch die Armen und die Irren zu integrieren; sie braucht sie als Instrumente der zwei Richtungen ihrer Expansion. Sie braucht die Armen für ihre Expansion nach außen – für die ökonomische als Arbeiter, für die kolonial-militärische als Soldaten. Sie braucht aber auch die Irren für ihre Expansion nach innen, für die Herstellung einer inneren Zirkulation, deren sie zu ihrem Selbstverständnis, ihrer Identität, bedarf; denn in der bürgerlichen Revolution, in der Emanzipation von äußerer und physischer Autorität, sich auf sich selbst stellend und zugleich dem Marktprinzip folgend, ist die Gesellschaft zur Orientierung an sich selbst gezwungen. Die Mittel dazu werden die Empfindungen, die (nicht mehr in ratio und physis integrierten) Leidenschaften und die Meinungen (»opinions«); und die Gesellschaft lernt, an ihnen als an etwas Subjektivem, Selbstgesetztem zu leiden, während sie sie zugleich zu Treibriemen der gesellschaftlichen Bewegung wie des Selbstverständnisses macht. In dieser Kreisbewegung haben um 1750 schon die Hysterie und der Spleen ihren Ort; erst jetzt treten die Irren hinzu. Äußerer und innerer Haushalt, »industrial and animal oeconomy« sind nicht mehr zu trennen, wie sehr sich auch gerade hier der Widerspruch zwischen dem Eigentümer und dem Menschen entfaltet. Da die bürgerliche Gesellschaft ihren Anspruch auf öffentliche Autorität nicht von außen, sondern aus sich selbst bezieht und daher ständig der Legitimierungsnotwendigkeit ausgesetzt ist, werden Arme und Irre – diesmal gemeinsam – auch in dieser Hinsicht funktionalisiert: sie sind die hervorragenden Exempel zur Rechtfertigung der Pflicht des bürgerlichen Staates, die innere Ordnung, den Schutz der Öffentlichkeit – mit den Mitteln der Fürsorge und des sozialen Zwangs – zu gewährleisten, gerade in dem für die Strafgerichte nicht erreichbaren Raum.

Bei Arnold sind diese Themen angeschlagen, obschon seine Praxis und Theorie noch nicht zu den Reformversuchen der folgenden Epoche zu rechnen sind. In seinem Buch wird die Häufigkeit des Wahnsinns in England unmittelbar zum Maßstab der Freiheit und Ökonomischen Fortschrittlichkeit Englands erhoben. Damit weitet er den Ansatz Blackmores und Cheynes nicht nur auf den Stand Englands als Industriegesellschaft aus, sondern dehnt auch erstmals die Funktionalisierung von der Hysterie und dem Spleen auf Formen des eigentlichen Irreseins aus: Während die Franzosen von allen gesitteten Nationen die wenigsten Wahnsinnigen haben, weil sie weniger Anlage zu tiefen, starken, traurigen und anhaltenden Leidenschaften besitzen (Zeugen: Addison und Hume), findet man in England gerade diese in reichem Maße, besonders soweit sie auf Religion, Liebe und Handel bezogen sind; und eben diese Leidenschaften sind die entscheidenden Ursachen für den Wahnsinn. Liebe z. B. ist in Frankreich nur eine Angelegenheit flüchtiger Galanterie, nicht eine ernste Sache des Herzens wie in England (Zeuge: Sterne). Auch die Religion weckt in Frankreich keine echten Leidenschaften (z. B. Schuldgefühle), da die dort herrschende katholische Kirche sie durch Absolution niederhält. Endlich sind die Franzosen kaum von der Sehnsucht nach Reichtum oder vom Gewinn selbst affiziert, da sie noch in einem sklavischen Land mit absoluter Monarchie leben, in dem Handel und Äcker darniederliegen. England dagegen, das Land der Freiheit, fördert Unternehmergeist und Risiko, weil das Eigentum garantiert ist, und hat Bedingungen geschaffen, in denen eine »gesunde Philosophie« und das Christentum »den Gebrauch und den innerlichen Werth der Wohlthaten des Überflusses vollkommen lehren«.78 In Frankreich, wo sich »die Ehre eines Edelmannes mit dem Charakter eines Kaufmannes nicht verträgt« und wo der Zwang der Regierung alle Leidenschaften dämpft, kann der Wunsch nach Besitz nicht so stark werden, daß daraus Wahnsinn entsteht. Daher gibt es dort auch nur Luxus in der oberen, in England aber in allen Klassen.79 Wahnsinn ist also funktionell gebunden vor allem an die Ausbreitung von Besitz, Reichtum und Luxus, findet sich daher am meisten auf der Welt »bei der Englischen reichen, freyen und handelnden Nation«.80

Die eigentliche Theorie Arnolds ist von solchen Anschauungen nicht zu trennen; sie ist nicht nur von seinem Lehrer Cullen, sondern – aufgrund seiner ausgiebigen praktischen Erfahrungen – auch von Battie beeinflußt. Die obligate sensualistische Position wird nicht mehr nur über Locke, sondern auch über David Hartley,81 der ebenfalls psychiatrisch interessierter Arzt war, gewonnen. Die Tendenz Batties wird fortgesetzt, wenn Arnold die Störungen der Sinnesempfindung, d. h. die Halluzinationen, als »ideal insanity« in den Wahnsinn aufnimmt und dieser Form den Wahn der Begriffe, also das Irrereden, die Assoziationsstörung der Lockeschen Tradition, als »notional insanity« gegenüberstellt.

Verschiedene Eigenheiten und Akzente verweisen darauf, daß Arnold bereits mit der Verinnerlichung der romantischen Erfahrung befaßt ist. Er betont nicht nur den (melancholisch oder manisch) affektiven Charakter des Wahnsinns, sondern auch die Möglichkeit, über eine zur Gewohnheit verselbständigte Leidenschaft wahnsinnig zu werden. Das »empire of passions« (und damit die Basis der »pathetic insanity«) umfaßt Liebe, Aberglauben, Geiz, Verzweiflung ebenso wie Heimweh, alle ungeordneten Strebungen und »heftige Neigung zu den ausschweifendst romantischen, kindischen, ungeschicktesten Erdichtungen«.82 Überdies gibt es für ihn zwischen dem bloßen Irrereden aller Menschen und dem eigentlichen Wahnsinn fließende Übergänge. Das heißt, alle Menschen werden – aufgrund der in ihnen selbst verankerten Leidenschaften und Wahnsinnsdispositionen – in den natürlich-moralischen Kreis des Wahnsinns mit der ständigen Möglichkeit zur widernatürlich-medizinischen Form des Wahnsinns einbezogen: »moral insanity« ist die natürlich-allgemein-menschliche Basis der »medical insanity«. Der Narr und das Genie sind in dieser Hinsicht gefährdete, sozial-moralische Grenzgänger (Shakespeare). An Arnolds Einzelbeschreibungen zeigt sich, daß er seinen Begriff des Wahnsinns auf der Erfahrung des Selbstbezugs der Menschen und seiner Störungen (Entfremdungserlebnisse, Deprivationen) gründet.

In der ambivalenten Stellung, die Arnold den Leidenschaften zuschreibt, wird der Widerspruch in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft deutlich. Auf der einen – der wirtschaftenden – Seite ist die Intensität der Leidenschaften Indikator für Unternehmergeist, Gewinnstreben, Mut zum Risiko, Reichtum und Luxus und damit für die Größe und Freiheit der Nation; hier werden die Leidenschaften zudem durch eine »gesunde Philosophie« und durchs Christentum legitimiert. Auf der anderen – der privatinnerlichen – Seite ist die Zeche dafür zu zahlen; hier tragen die Leidenschaften, die Bedürfnisse, nicht nur viel stärker das Risiko des Wahnsinns in sich, sondern hier figurieren sie immer schon als Anlaß, zur Moralisierung des menschlichen Verhaltens aufzufordern, hier geht es um das Verbot der Extreme, um das Einhalten der moralischen Norm, um die Wahrheit, die in der Mitte, im Durchschnitt liegt. Abweichendes Verhalten – ob als Narr und Sonderling oder als Genie – ist gleichsam mit der Strafe der Erkrankung, des Wahnsinns, der »medical insanity« bedroht. Da aber die Disposition zu den verschiedenen moralischen Abweichungen allgemein ist, stellt gerade das Konzept der »moral insanity« – im Gegensatz zur »medical insanity« und nur graduell von dieser zu unterscheiden – eine universale Bedrohung dar, der sich kein Glied der Gesellschaft entziehen kann. Dies sei exemplifiziert an der »appetitive insanity«: Es leidet derjenige an ihr, der unbedingt einem Bedürfnis Genüge tun will, auch wo das den Umständen nach nicht adäquat ist; »sie befällt insgemein solche, die im ledigen Stand, und unter dem äußeren Zwang einer erkünstelten Bescheidenheit geilen Gedanken verliebter Sehnsucht nachhingen, da doch Gesetze, Gewohnheit und Religion sie davon hätten abhalten sollen«, also die, »die eine heimliche, verbotene Flamme in sich ernährten«.83

1809 ließ Arnold einen 3. Band folgen: Observations on the Management of the Insane, Ergebnis einer 42jährigen Erfahrung der Irrenbehandlung, wobei der Unterschied in der Heilungsquote zwischen seinem Privathaus und der öffentlichen Anstalt sich wie 3:2 zu 2:1 verhielt. Die soziale Differenz, die sich hierin ausdrückt, wird noch deutlicher, wenn Arnold einerseits für Humanität und »mild and indulgent treatment« plädiert, andererseits aber offen bekennt: »Chains should never be used but in the case of poor patients, whose pecuniary circumstances will not admit of such attendance as is necessary to procure safety without them.«84

c) Funktionalisierung der Hysterie

Es ist die Entwicklung nachzutragen, die die Bedeutung von Hysterie bzw. Spleen seit 1750 genommen hat, d. h. derjenigen minder schweren Nervenstörungen, die schon vor dieser Zeit Bürgerrecht erlangt hatten. 1746 erschien von John Andrée das erste Buch speziell über Epilepsie; als Gründer und Arzt des »London Infirmary« hatte er erstmals Gelegenheit, über diese Kankheit ausgedehnte Erfahrungen zu sammeln. Auch auf diesem Gebiet bedingte also eine praktische Einrichtung die ersten wissenschaftlichen Fortschritte. Jedenfalls führte das dazu, daß man Hysterie deutlicher von der schwereren und eher organisch anmutenden Epilepsie abzuheben verstand, wenngleich diese Differenzierung letztlich noch über 100 Jahre in Anspruch nehmen sollte. Weiter erschien 1796 G. B. Morgagnis, des größten Anatomen seiner Zeit, Werk über die Befunde von über 700 Sektionen. Es machte klar, daß man sich bei Annahmen über die körperliche Fundierung der Krankheiten des Geistes und der Nerven kritisch zurückzuhalten hatte.

Wichtiger noch ist eine Spaltung der medizinischen Vorstellungen, die gerade um die Jahrhundertmitte hervortritt. Die Spirits repräsentierten noch eine nahezu metaphysische Einheit der körperlichen und nichtkörperlichen, der äußeren und inneren Phänomene. Sie werden jetzt allmählich ersetzt durch Modelle der Nerventätigkeit, die – im Verein mit den Fortschritten physiologischer Experimente – stärker an der Physik orientiert sind: an der Bewegung fester und flüssiger Materie, an Tonus und Spannung/Erschlaffung elastischer Fasern, an der Vibration gespannter Saiten. Auf der einen Seite werden so die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die medizinischen Fächer zu einer einheitlichen Wissenschaft von den Gesetzen des menschlichen Körpers und seiner Störungen werden. Auf der anderen Seite entwickelt sich an denselben physikalischen Begriffen eine – von ihrer Funktion der Erklärung körperlicher Vorgänge sich abhebende – bildhaft – symbolische Bedeutung. Die »Natur« des Menschen wird doppeldeutig, zerfällt in eine innere und äußere. Die »innere Sicht«, die Sydenham noch für die somatisch-psychosozialen Spirits behauptete, löst sich von der Körpersphäre, deren Funktionen nun einer äußeren Erklärung verbleiben, und wird zunehmend zu einer – psychologischen – Betrachtung mit unmittelbarem und subjektivem Wahrheitsgehalt. Für »Seele«, »Empfindung«, »Sympathie«, »Sensus communis«, »Leidenschaft« gilt das Äußerlich-Sichtbare nur noch als Mittel oder als Analogie, um das Innerlich-Unsichtbare erkennen zu können. Auch der Begriff der »Konstitution« wird zu einem Instrument, mit dem man anhand äußerer Zeichen psychisch-innere Dispositionen ablesen kann. Wie sehr die Leidenschaften ihr Kriterium an moralischen Normen statt an Naturgesetzen finden, war bei Arnold das Thema. Wie sehr z. B. das Modell der Elektrizität Vorstellungen über das Innere des Menschen und auch diesbezüglichen praktischen Absichten dienlich sein kann, deuteten wir bei Wesley an. Wie die an physiologischen Experimenten geprägten Begriffe der Sensibilität und Irritabilität Hallers ärztlichen und weltanschaulichen Bedürfnissen zuliebe verändert wurden, war im Extrem an J. Brown zu sehen. Zugleich bilden all diese begrifflichen Verinnerlichungen eine Vorlage der literarischen Romantik in England.

In dieser Bewegung steht Robert Whytt (1714-1766), der den Ruf der schottischen Medizin als Vorgänger Cullens begründete, der 1751 eine erste, von Spirits weitgehend befreite somatisch-neurologische Medizin schuf und der 1765 das einzige bedeutende Buch über Hysterie der 2. Jahrhunderthälfte schrieb. Als »Neurologe« entdeckte er nicht nur einige höchst wichtige Reflexe: die Pupillenreaktion auf Licht, Pupillenstarre nach Zerstörung der Vierhügelregion des Gehirns, Nies-, Würg-, Husten-, Blasenentleerungsreflex, Erektion und Ejakulation.85 Gerade gelegentlich seiner Reflex-Experimente kam er zu klareren Vorstellungen-von der Beziehung der Muskelbewegung zur Sensibilität. Insbesondere fand er in diesem Zusammenhang zu der Annahme, daß Bewegung durch einen Nervenimpuls, auch ohne Anstoß durch einen höheren Willen oder einen äußeren Reiz, in Gang gesetzt werden kann; d. h. es gibt »vital« oder »involuntary motions« ohne »express consciousness«, also ohne eine dirigierende Instanz wie die Seele. Dann gibt es auch nicht – getrennt voneinander – eine anima = »vital or sentient soul«, die wir mit den Tieren gemein haben, und einen rein menschlichen Animus = »the seat of reason and intelligence«, sondern »there seems to be in man one sentient and intelligent PRINCIPLE, which is equally the source of life, sense and motion, as of reason«.86 Es ist dieses – bei Whytt stets abstrakt bleibende – »Prinzip«, das es ihm erlaubt, die traditionelle Trennungslinie zwischen menschlich-bewußten und tierischunbewußten Funktionen durch eine andere zu ersetzen, die, wie Hunter und Macalpine meinen, eine neurophysiologische von einer psychologischen Betrachtungsweise scheidet87, wobei beide – die eine äußerlich, die andere innerlich – die Gesamtheit der Funktionen des Menschen als einen eigengesetzlichen, gleichsam geschlossenen Kreislauf zu beschreiben in der Lage sind.

Nicht anders ist es bei Whytts Analyse der Hysterie und der Hypochondrie, die er – die eine die Frauen, die andere die Männer betreffend – als »nervous disorders« identifiziert. Ihre Ursache ist »an uncommon weakness, or a depraved or unnatural feeling, in some of the organes of the body«, wobei kennzeichnend die Vielzahl und die Entferntheit der kranken Organe voneinander sind, was nur durch eine gesteigerte Beweglichkeit der körperlichen Beziehungen (besonders der Frau eigen, die daher häufiger erkrankt) zu erklären ist, d. h. durch übergroße »sympathy«, »consensus«. Letztere existieren in den Organen, sind aber zugleich eine Form der Sensibilität und werden durch das Nervensystem vermittelt. Die andere Ursache der »nervous disorders« ist daher »a too great delicacy and sensibility of the whole nervous system«.88 Diese Eigenschaften des Nervensystems sind zugleich psychische, ja moralische Kategorien, und Foucault bemerkt mit Recht: »From now on one fell ill from too much feeling; one suffered from an excessive solidarity with all the beings around one. One was no longer compelled by one’s secret nature; one was the victim of everything which, on the surface of the world, solicited the body and the soul. And as a result, one was both more innocent and more guilty.«89 Denn einerseits werden die Kranken durch die nervliche Irritation, durch ihre schwache und delikate Konstitution in körperliche und unbewußte Reaktionen, ja bis zur Bewußtlosigkeit getrieben. Andererseits kann die Krankheit in einem viel tieferen Sinne als natürliche Strafe für eine Schuld angesehen werden, gerade weil die Ratio nicht mehr eine unabhängige Instanz ist, deren Irrtum einzusehen und zu korrigieren ist. Wo das Ausmaß des Gefühls die Kapazität der Nervenirritation übersteigt, wird der bloße Irrtum zum moralischen Fehler, kann die private Lebensführung in ihrer Gesamtheit zur Sünde an der Natur werden, die hier als bürgerliche Norm der Natürlichkeit erscheint90 und gleichzeitig als körperliche Natur und als Bereitschaft zu abnormer Reaktion zur Instanz moralischer Strafandrohung wird. In ein derartiges säkularisiert-bürgerliches Schuld-Strafe-Verhältnis, das im Dienst einer sich selbst regulierenden Sozialordnung steht, können alle Bedürfnis-Ansprüche, Leidenschaften und Vorstellungen eintreten, besonders aber jeder Mißbrauch, alles »Unnatürlich«-Extreme: das Leben der Städter, Romanlektüre, Theaterbesuch, Diätfehler, Wissensdurst, sexuelle Leidenschaft und jene Gewohnheit, die ihrer Kriminalität wegen nur in Umschreibungen ausgesprochen wurde: die Onanie. Es versteht sich, daß gegenüber der »moral insanity« bei Arnold, die mit dem Wahnsinn droht, diese Konzeption der Hysterie eine unmittelbarere Wirkung hat, da sie schon bei dem unscheinbarsten Ansatz der Selbstbeobachtung und Selbstverständigung als ein Faszination und Zwang ausstrahlendes Interpretationsschema zur Verfügung steht.

Die Moralisierung der Sensibilität und die »Revolution der Gefühle«, die neue Konzeption der »nervous disorders« und die literarische Romantik sind nicht nur gleichzeitig, sie durchdringen sich nicht nur gegenseitig theoretisch und praktisch, sie entsprechen einander auch in ihren gesellschaftlichen Funktionen. Denn wie die ökonomische Revolution um die Jahrhundertmitte beginnt, so auch die Neuordnung des Bereichs des bürgerlichen Privatlebens – wie die Expansion nach außen, so die nach innen. Der Begriff »capital« gewinnt seinen Kurswert, während Sterne die Attribute »interesting« und »sentimental« in Umlauf setzt.91 Die Literaten verlieren mit der Industrialisierung ihre öffentliche Bedeutung für Politik und Wirtschaft, ihre politischen Mäzene, und wenden sich dem Individuum, seiner Natur und Innerlichkeit, seinem Privatleben und seinem Selbstverständnis zu. Der Bürger als Eigentümer und als Mensch treten auseinander; in beiderlei Gestalt zwar – als Unternehmer und als Genie – freie Individuen, markieren sie zwei dem Anspruch nach sich widersprechende, in Wirklichkeit aber sich kompensierende Welten. Es etabliert sich ein Lesepublikum, eine bisher unbekannte allgemeine »Lesewut«, die über die Leidenschaft zur »nervous disorder« oder zur »Manie« führen mag. Smollet entwickelt die erste »Literaturfabrik«. Etwa 1780 ist die Buchproduktion durch das große Verlagswesen rationalisiert: Der Bedarf ist so groß geworden, daß man das Buch nur noch als Ware kalkulieren kann, die für einen anonymen Markt produziert wird, dessen Bedürfnisse man berücksichtigen muß und durch Konkurrenz erfolgreich befriedigen kann. Eins der Konkurrenzmittel ist die Kultivierung der Originalität; 1759 schrieb der Geistliche E. Young seine Conjectures on Original Composition.

Was aber sind die Bedürfnisse des breiten lesenden Bürgertums? Von der Jahrhundertmitte an wird nicht nur die äußerlich ausgegrenzte Unvernunft sichtbar, sondern wird auch die Unvernunft im Innern des Menschen thematisch. Die Vernunft wird nicht nur medizinisch durch Whytt entthront und als eine Instanz unter anderen in den Kreislauf der psychischen Gesetze einbezogen oder durch Arnold mit dem Kompaß der bürgerlichen Gesetze, der Gewohnheiten und der Religion versehen; sie wird auch den Literaten tief fragwürdig, so dem chronisch melancholischen S. Johnson in Rasselas (1759): »Of the uncertainties of our present state, the most dreadful and alarming is the uncertain continuance of reason. [...] No man will be found in whose mind airy notions do not sometimes tyrannise, and force him to hope or fear beyond the limits of sober probability. All power of fancy over reason is a degree of insanity.«92 Die Kehrseite dieser betrauerten Relativierung ist die große Apologie des Rechts aufs Gefühl, und diese entspricht in der Tat dem Bedürfnis des Bürgers. »Die Romantik ist ihrem Ursprung nach eine englische Bewegung, so wie das moderne Bürgertum selbst, das hier zum erstenmal von der Aristokratie unabhängig zu Wort kommt, ein Ergebnis der englischen Verhältnisse ist. Sowohl die Naturpoesie Thomsons, die Nachtgesänge Youngs und die Ossianischen Klagelieder Macphersons als auch der sentimentale Sittenroman Richardsons, Fieldings und Sternes sind nur die literarische Form des Individualismus, der sich auch im laissez faire und in der Industriellen Revolution ausdrückt.«93

Kann der Bürger es anerkennen, daß der Mensch keineswegs vollkommen rational ist, so wird ihm auch das Sichtbarwerden der ausgegrenzten Unvernunft erträglicher – der Irre erscheint ihm nicht mehr als vollkommen irrational. Im Gegenteil, zwischen der sichtbaren Unvernunft der Irren und seiner eigenen unsichtbaren inneren Unvernunft findet der Bürger Gemeinsames: Gefühlsrausch, namentlich schmerzlicher Art, Leidenschaft, Sensibilität, unwiderstehliche Begierden und überhaupt die menschliche Unzulänglichkeit, das freie Spiel der Einbildungen, Träume und andere Aktivitäten der Nachtseite der Seele. Die Erfahrung dieses Gemeinsamen, für die die »nervous disorders« das Modell einer beliebig skalierbaren, verbindenden Brücke darstellen, wirkt nun nicht mehr so provozierend wie zu Zeiten Swifts, als die Irren noch ausgegrenzt waren. Sie kann vielmehr von vielen Autoren und einem breiten Lesepublikum geteilt bzw. nachvollzogen werden – leidend und genießend. Provozierend kann sie freilich werden, wenn etwa Sternes Tristram Shandy, »der Ritter des Steckenpferdes«, sich die Freiheit des Individuums aus der Welt des Narren borgt, der als Besonderer, als Sonderling die Beschränktheit des Menschen akzeptiert und so den Verzicht auf die rationale »Persönlichkeit« und auf die Erkenntnis des Absoluten ebenso erklärt wie auf das Expertentum der Leistungswelt: »I triumph’d over him as I always do, like a fool.«94

Der Individualismus als Forderung nach freier Entfaltung aller Fähigkeiten ist in der Tat einerseits Protest gegen die aristokratische Welt, und hier sind Literat und Unternehmer Bundesgenossen. Andererseits ist er Protest gegen das, was an ihre Stelle getreten ist, und dort steht der Literat durchaus gegen den Unternehmer, gegen die Nivellierung, Mechanisierung und Entpersönlichung in der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft. In dieser Konstellation wird der Angriff gegen die kalkulierende Rationalität der Ökonomie irrational-emotionaler Emphase vorgetragen, und gegenüber einer die Natur ausbeutenden Gesellschaft gewinnt die eigene Natur moralische Qualitäten. So sind Suggestion und Übertreibung der eigenen Gefühle, die Selbstbespiegelung und das Ernstnehmen jeder Stimmung und Regung nicht mehr nur gegen aristokratische Distanz gerichtet, sondern sie fungieren zugleich als »Entschädigung für die Erfolglosigkeit im praktischen Leben«.95 Unübertrefflich hat S. Richardson diese Bedürfnisse auf eine literarische Formel gebracht und wurde damit einer der erfolgreichsten Schriftsteller überhaupt. Bei ihm wird das Privatleben, das »Herzensproblem« einfacher, aber tugendhafter Bürger zu einem Seelendrama rührseliger Intimität, nervöser Empfindsamkeit und erbaulicher Selbstenthüllung. Hier besteht die äußere Welt nur noch aus Versuchungen, die es nach qualvollem Gewissenskampf durch innere Standhaftigkeit zu überwinden gilt; dann wenden sich auch die äußeren Umstände zum Guten. Pamela (1740), die bedrohte und sich doch rein erhaltende Jungfrau, die zur Belohnung von ihrem Herrn geheiratet wird, ist das Urbild aller späteren Wunschphantasien und moralisierenden Romane, worin Anständigkeit das kleinbürgerliche Mittel zum Zweck wird: die unmoralische Erfolgsmoral der Erfolglosen. Der Held bringt das unerfüllte Leben des Lesers zur Vollendung. Moralische Rechtfertigung der bürgerlichen Sozialordnung als der »natürlichen« und Ideologie für den Lebenskampf finden in dieser Psychologie zusammen. Dabei ist kaum einer dieser Literaten, der nicht zur Erklärung des Leidens seiner Helden wie seines eigenen Lebens das Schema der »nervous diseases« benutzt – die Gesellschaft, die zivilisierte, städtische Welt, ist ein einziges Reizspektrum, dem der empfindsame und damit moralische Bürger in erhöhtem Maße ausgesetzt ist, während derjenige, der davon gar nicht berührt wird, dafür kein »Organ« hat, der nur seinen Geschäften nachgeht, sich eben dadurch als unsensibel, gefühlsstumpf, un-sympathisch96 und also im bürgerlichen Sinne als unmoralisch erweist, als Nicht-bürger. Um so mehr erscheint jetzt der Stumpf- und Blödsinn nicht nur als Folge und irreversibles Endstadium des Irreseins, sondern zugleich als ein moralisches Kausalverhältnis: als schreckliche Strafe für die Schuld, daß man dem genußbereitenden Instrument der Empfindsamkeit nicht moralische Zügel angelegt hat, daß man den Versuchungen des künstlich-städtischen Lebens erlegen ist, die Leidenschaften maßlos werden und die Grenzen der bürgerlichen Norm und des Natürlichen hinter sich ließ. Die Empfindsamkeit, der Vorzug des Bürgers, stellt die moralische Aufgabe, die durch Beschränkung, Verzicht, zu lösen ist, was mit Erfolg belohnt wird. Versagt man, steigert sich die Empfindsamkeit ins Unnatürlich-Maßlose, ist Krankheit eine der möglichen Strafen. Die Übergänge sind fließend: »nervous disorders« – »madness« – »insensibility«/Stumpfsinn. Mit anderen Begriffen werden sie von Arnold dargestellt: »moral insanity« und »medical insanity«. Das Bewußtsein moralischer Schuld und die Vorstellung der seelischen Krankheit als Strafe gehen eine die moralische Ordnung sanktionierende und den Bürger bedrohende Verbindung ein. Es muß in diesem Zusammenhang gesehen werden, wenn Johnson schreibt: »No disease of the imagination [...] is so difficult of cure, as that which is complicated with the dread of guilt.«97 Während die Wirtschaft der Rationalität, der Nützlichkeit und der Selbsterhaltung folgt, entwickelt James Vere, Kaufmann und Governor of Bedlam, 1778 mit Hilfe der »nervous disorders« die kompensierende bürgerliche Moral: Wenn die »moral instincts« ihre Herrschaft über die »lower order of instincts« (d. h. »self-preservation«, »self-love«) verlieren, entsteht »a sort of internal war, which divides the man against himself: and hence a large share of disquiet and restlessness will be the unavoidable consequence«.98

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