Kitabı oku: «Bürger und Irre», sayfa 8

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Wie aber siegen die bürgerlichen Romanhelden, ihre romantischen Autoren und wie siegen die Ärzte der »nervous disorders« in diesem innerlichpsychischen und zugleich sozialmoralischen Kampf? Ihnen ist ein Mittel gemein, das an Wirksamkeit und Popularität nicht zu übertreffen ist: die Flucht, der Rückzug aus der Alltagswelt, aus der Unrast der Städte, den Anstrengungen und Mißerfolgen des Berufs und aus den nervenaufreibenden Vergnügungen, kurz: aus der mit Verantwortung, Schuld und Krankheit beladenen Reizüberflutung, der die empfindsame Seele ausgesetzt ist.99 Die Richtung dieser kulturkritischen Flucht liegt fest. Der Bürger kommt zum »Menschlichen« in sich, zu seiner inneren Natur, zur subjektiven Wahrheit über sich auf dem Weg über die Harmonie und Unschuld der unberührten äußeren Natur, und das Resultat entspricht der das Verhalten zur Norm hin temperierenden moralischen »Natürlichkeit«. Was mit Cheyne begann, wurde mit Richardson (dem man z. B. die Symptome einer »Bibliomanie« nachwies) zur Mode, zur physisch-moralisch therapeutischen Institution: das Hirtenleben, die Landpartie, Jagen, Fischen, Reiten, körperliche Gymnastik und der Englische Garten; hinzu kamen Milchkuren und sonstige naturgemäße Diäten. Seit die Nerven vibrierende, gespannte Saiten sind, besitzt auch die Musik die ideale Basis für eine sympathisch-regulierende Heilkraft (während die romantische Literatur im Gegenteil zur Überreizung führt).100 Die reinigende Wirkung des Wassers, seit je mit dem Mythos der inneren Wiedergeburt verbunden, wird institutionalisiert: Bath wird im 18. Jahrhundert zu einem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens.

Sind die bisher erwähnten Phänomene zum Teil bereits mit kleineren Reisen verbunden – eignen sich daher vor allem für den kleinen Spleen des Kleinbürgers –, so wird die Reise überhaupt, die große Reise das repräsentative Mittel gegen den großen Spleen der bessergestellten Bürger. Während man noch 100 Jahre zuvor durchs Reisen krank wurde (Heimwehkrankheit), und während wir bei Sydenham die Reise noch als mechanisch wirkendes Täuschungsmanöver fanden, wird sie um die Jahrhundertmitte zum beherrschenden Topos und zugleich zur Mode. Namentlich die Jugend wurde auf die große Tour nach Frankreich und Italien geschickt: Bildung, Vergnügen und die Kur des Weltschmerzes, der moralischen Skrupel und der unpassenden Absonderlichkeiten vor dem Eintritt in die Leistungswelt sind nicht mehr voneinander zu trennen. Flucht in die Natur und die in die Vergangenheit werden eins. Horace Walpole, Smollett, M. Green, Boswell, Beckford, Goldsmith und Sterne absolvieren das, was letzterer mit der Sentimental Journey (1768) zu epochaler Repräsentanz erhoben hat.101

Es versteht sich, daß die Armen an diesen Kulturprodukten nicht teilhaben, weder an den sublimeren Formen der »nervous disorders« noch an den kostspieligen und das »Menschliche« befreienden Mitteln ihrer Heilung. Ihnen bleiben – wenn überhaupt – die traditionellen entleerenden Medikamente und ähnliche Gewaltmaßnahmen, wobei freilich Wesleys Entdeckung des billigsten Heilmittels, der elektrischen Maschine, und ihre Anwendung auf die Armen einen integrierenden Fortschritt bezeichneten, der die Armen mit manchen besseren Bürgern auf eine Stufe stellte. Daß hiermit auch ein ärztliches Mittel der Integration der Leistungswelt geschaffen war, zeigt die Geschichte vom Heilungserfolg des Dr. W. St. Clare. Im Februar 1787 brach in einer Baumwollfabrik unter den weiblichen Arbeitern eine hysterische Epidemie mit Krämpfen und Angstanfällen aus. Sie griff sogar auf ein entferntes anderes Werk – sympathisch-infektiös – über. Die Fabrik (2–300 Arbeiter) mußte stillgelegt werden. Der herbeigerufene Arzt konnte jedoch mit seiner »portable electrical machine [...] by electric shocks« in kurzer Zeit alle Erkrankten heilen und so die Fabrik wieder in Gang bringen.102

Nicht weniger als die Romantik beeinflußt die schottische Moralphilosophie die Entstehung einer Medizin des menschlichen Geistes, der Psychiatrie. Das gilt für die theoretische Rechtfertigung der Besonderheit eines solchen wissenschaftlichen Bereichs ebenso wie für die Entwicklung einer pragmatisch-menschenfreundlichen Haltung der Ärzte dem Gegenstand ihrer Wissenschaft, den Irren, gegenüber und nicht minder für die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Psychiatrie. Wie der Romantik, so ist auch der schottischen Philosophie ein doppelter Protest immanent. Sie ist skeptisch gegenüber der Metaphysik, aber auch gegenüber dem Sensualismus. Sie wendet sich gegen die Absolutheit äußerer Autorität und will sie doch – nach dem Kriterium der Nützlichkeit – erhalten wissen. Das heißt, sie vertraut nicht einer sich aus den Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft von selbst ergebenden Autorität, sondern hält an der Tradition als Basis einer kontinuierlichen Entwicklung, eines naturwüchsigen Fortschritts fest. »Ihre Kritik hält sich im Einklang mit dem Konservatismus der Naturgeschichte selbst.«103 Mit der Überlegenheit des Herzens über den Kopf, der Bestimmung der sozialen Tugend der »sympathy«, knüpfen die Schotten an Shaftesbury an, ebenso mit dem »common sense«, der ursprüngliche und natürliche Urteile und damit gesellschaftliches Dasein ermöglicht: »They serve to direct us in the common affairs of life, where our reasoning faculty would leave us in the dark.«104 Freilich subjektivieren sie den »common sense«; er hat nicht mehr den medizinisch im Organismus bestimmbaren Ort wie bei Willis, bleibt nur per analogiam auf die Natur bezogen. Relativ abgelöst von ihr konstituiert »common sense« einen Bereich subjektiver Evidenz. Die schottische Philosophie »setzte an die Stelle von Erkenntnis im eigentlichen Sinne ein pragmatisch bestimmtes Vertrauen auf die Gültigkeit des ›gesunden Menschenverstandes‹ und darauf, daß die Wahrheit immer in der Mitte liege. [...] Der common sense war gewissermaßen ein statistisches Mittleres aller in der Welt vorkommenden Überzeugungen«.105 Es wird hier der Versuch unternommen, unmittelbar zu Aussagen über psychische und soziale Gegebenheiten zu gelangen, nur noch indirekt bezogen auf Kopf und Körper, auf rationale Erkenntis und Natur.

So finden wir schon Hutcheson um denselben Nachweis bemüht, den auch Battie, Arnold und Whytt anstrebten: daß es im menschlichen Subjekt einen Bereich gibt, in dem rational Durchschaubares und moralisch Beurteilbares eigenständig wird und gleichsam mit der Macht einer zweiten Natur agiert, gegen die der rationale Korrekturversuch ohnmächtig ist, ja nur noch der Rationalisierung dient: »... and commonly beget some secret Opinions to justify the Passions«.106 Dies ist für Th. Reid bereits so selbstverständlich, daß er für sein Vorhaben – »anatomy of the mind«, »analysis of the human faculties« – nur die Introspektion in den eigenen Geist zuläßt. Aber auch diese komme, als Reflexion, immer zu spät, um den Berg der anerzogenen Vorurteile bis auf die »simple and original principles of the Constitution« abzutragen.107 Von hier aus zeichnen sich Wege ab, diese Art Psychologie für die Medizin nutzbar zu machen. Für J. Gregory, Professor der Philosophie und dann der Medizin in Aberdeen, ist das möglich über eine »comparative Animal Oeconomy of Mankind and other Animals«; denn in Übereinstimmung mit Whytt ist der Instinkt, im Gegensatz zur Vernunft, ein untrügliches Prinzip für den Menschen und eine sichere Basis für sein psychologisches Verständnis. Die guten, natürlichen Instinkte der Tiere und der Wilden sind für Gregory das Kriterium dafür, daß diese auch beim Menschen zu trennen sind vom »depraved and unnatural State, into which mankind are plunged«. Man sieht: nicht nur von Richardson, auch aus Schottland führen Wege zur Zivilisationskritik Rousseaus. Durch praktische Anwendung solcher »vergleichenden Beobachtung« wird namentlich die Psychiatrie zu einer »progressive art«, da »intimate knowledge of the Human Heart« und »employing one Passion against another« nur durchs Leben selbst, aber niemals durch ein Buch zu lehren ist.108 In der Tat zeigt gerade die Funktionalisierung der Hysterie, daß die Psychiatrie von Anfang an auch in jener Bewegung steht, die den Ursprung des Übels in dem sieht, was durch die Zivilisation und: die bürgerliche Gesellschaft der Natur künstlich hinzu- und zugefügt wird, und die umgekehrt den Anspruch abgibt, nicht durch exakte Wissenschaft, sondern durch Wissenschaft als Kunst diese Mißstände wieder an eine heile Natur anzunähern, die sich indessen zumeist unter der Hand in den Normbereich des »common sense« als bürgerlich-moralischer Natürlichkeit verwandelt. Wichtigste Erkenntnis des schottischen Philosophierens für die Psychiatrie: die (psychischen) Gesetze des Herzens und seiner Störungen bilden eine eigene Realität, die aber ebenso real ist wie die der körperlichen Natur: »Although the fears of these patients are generally groundless, yet their sufferings are real. [...] Disorders in the imagination may be as properly the object of a physician’s attention as a disorder of the body.« Auch Gregory sieht, daß mit den »armen Irren« und den bürgerlichen »nervous disorders« die psychische Medizin von ihrer Entstehung an in der Praxis zwei sozio-ökonomische Gruppen unterscheidet: »It is not unusual to find physicians treating these complaints with the most barbarous neglect, or mortifying ridicule, when the patients can ill afford to fee them ; while at the same time, among patients of higher rank, they foster them with the utmost care and apparent sympathy: there being no diseases, in the stile of the trade, so lucrative as these of the nervous kind.«109

3. Reformbewegung und die Dialektik des Zwangs
a) Krise – die liberale und die konservative Antwort

Gemeinhin läßt man die Psychiatrie in England wie in Frankreich mit der Zeit der Französischen Revolution beginnen, namentlich mit der Eröffnung des »Retreat« bei York durch S. Tuke 1796. Es ist demgegenüber daran festzuhalten, daß das, was zwischen dieser Etablierung eines neuen Anstaltstyps und Conollys »No Restraint Movement« der 1840er Jahre geschah, nichts anderes war als die Entfaltung, Ausführung und Verwirklichung dessen, was in und nach der Mitte des 18. Jahrhunderts angestoßen worden war, durch Battie, aber auch durch Whytt, Cullen und Arnold, und was wesentlich im Rahmen der ökonomischen Revolution, der Romantik und der psychologisch-soziologischen Philosophie Schottlands zu begreifen ist. Das heißt, wir finden hier keinen Neuansatz, kein neues Paradigma, sondern in dem genauen Sinne eine Reformbewegung, wie auf der Basis der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft in England in eben dieser Zeit die soziale »Reform Movement« stattfindet, in der durch die Revolution in Frankreich die bürgerliche Gesellschaft – und die Psychiatrie – sich konstituieren.

Nach dem politischen Rückschlag durch die Niederlage im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beginnt mit Pitt d. J. (1783) eine allgemeine Diskussion um die Sicherung des Friedens und der Wirtschaft, um Sparprogramme, politische Freiheiten und Rechte und um Reformen in den verschiedenen sozialen Bereichen. Es gibt von nun an eine ständige Kontroverse über die Frage, wie weit Eingriffe des Staates zunächst in die Regulierung der sozialen, später auch der ökonomischen Ordnung der Gesellschaft schädlich oder nützlich, verboten oder notwendig seien. In dieser Diskussion entwickelt sich erst zum Begriff, was als »soziale Frage« den Inhalt der bürgerlichen Gesellschaft selbst antastet; und wie die »labouring poors« und die »poor lunatics« gemeinsam sichtbar geworden waren, so figurieren sie auch innerhalb derselben »sozialen Frage«, die sich die Öffentlichkeit jetzt programmatisch stellt. Zwar findet die »Arbeiterfrage« verständlicherweise mehr Interessenten als die »Irrenfrage«, doch bestehen zwischen beiden enge Beziehungen, und in manchen Aspekten sind die Lösungen der letzteren für die erstere wegweisend – namentlich was die Rolle des Staates angeht. Gemeinsam treten beide Fragen um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der öffentlichen Diskussion – dem Anschein nach befriedet – zurück, und gemeinsam werden sie an dessen Ende wieder virulent werden.

In den letzten Jahrzehnten des 18. und den ersten des 19. Jahrhunderts war die Gesellschaft so weit von der Industrialisierung ergriffen, daß zumindest von weitblickenden Politikern und Schriftstellern nicht mehr zu übersehen war, daß die Arbeiter zu einem wenn auch von den Bürgern unterschiedenen – Teil der bürgerlichen Gesellschaft geworden waren und damit auch ihre Zwangssituation und Armut gesellschaftlicher Art waren. Zwang und Armut konnten nicht mehr verharmlost werden als Judikaturen der jenseits der aufgeklärten und humanen bürgerlichen Gesellschaft angesiedelten ausgegrenzten Unvernunft. Sie waren nicht mehr Bestandteil einer unbefragten Naturordnung. Vielmehr waren sie Produkte der industriellen Wirtschaft, gehörten zu den Produktionsmitteln ihrer Waren, waren also Produkte der vernünftigen Gesellschaft und damit der Aufklärung. Die Vernunft der Gesellschaft, der Anspruch der Aufklärung, war fragwürdig geworden. Die Arbeitszeit stieg, die Löhne sanken, Frauen- und Kinderarbeit nahmen zu, Geldstrafen zur Einhaltung der Fabrikvorschriften und das Truck-System erhöhten den Zwang. Es fehlten Wohnungen, die Familien zerfielen, Schulbesuch war illusorisch. Unterernährung, Erschöpfung und Arbeitsunfälle erhöhten Morbidität und Sterberaten. Der Alkoholismus förderte die Verkümmerung. Die klassische Nationalökonomie wußte von keiner Hoffnung. Nach Ricardo konnte der Lohn ein kulturelles Existenzminimum nicht wesentlich übersteigen. Malthus empfahl den Arbeitenden 1798, sich zu dem übrigen Zwang auch noch dem »moral restraint« zu unterwerfen, um den Lohndruck durch Verhinderung eigener Nachkommen zu senken. Beide sprachen sich aus demselben Grund gegen Armengesetze und jede öffentliche Fürsorge aus. »So fand sich alles in allem gerade mit Konsolidierung der neuen, industriellen Verhältnisse die humanitäre Hoffnung der Aufklärungszeit enttäuscht.«110 Die Wahrnehmung dieser Probleme wurde noch schärfer, als an den zyklischen Überproduktionskrisen, deren erste in die Jahre 1792/93 fällt111, deutlich wurde, daß auch die konsolidierte kapitalistische Produktion selbst weder krisenfrei funktionierte noch gradlinig fortschritt, und als, ebenfalls 1793, der Verlauf der Französischen Revolution zeigte, wie nahe der erhabenste Kampf um die Menschenrechte dem Terror sein kann – eine Erfahrung, die die Mehrheit der englischen Öffentlichkeit gegen jede revolutionäre Veränderung sozialer Verhältnisse einnahm. Äußere Zeichen sind weiter die Streiks von 1815, die Schlacht gegen die Arbeiter bei Manchester (1819), Kampf und Bekämpfung der Trade Unions ab 1824 und die Chartistenbewegung der 30er und 40er Jahre, deren Niederlage 1848 den Zeitpunkt einer relativen Integration der »Arbeiterfrage«, ja der »sozialen Frage« überhaupt bei steigendem Wohlstand markiert.

Das Unbehagen, das sich in England spätestens seit 1750 regte, konnte noch als Stadt-Land-Gegensatz verstanden werden, als Macht der Leidenschaften gegenüber der Rationalität und als Suche nach der moralischen Ordnung der Gesellschaft in Einklang mit oder zumindest in Analogie zu einer unmittelbaren Relation zwischen Natur und Vernunft. So konnten wir es im Roman über die menschliche Innerlichkeit der Frühromantik, in der moralphilosophischen Psychologie und in der Praxis und Theorie der beginnenden Psychiatrie sehen. All diese Formen konnten sich noch begreifen als Entwürfe zum Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Kampf um Emanzipation von der als Zwang empfundenen Herrschaft absolutistisch-rationalistischer Instanzen. Am Ende des 18. Jahrhunderts jedoch war nicht nur dieser Rechtfertigungsgrund dahin; Armut, Zwang, Unfreiheit und andere Formen der Unvernunft wurden nun auch innerhalb der Gesellschaft, und zwar als ihre Produkte, sichtbar. Wenn aber die Gesellschaft selbst ihre Leiden produziert112 – und das wird nicht nur an den noch randständigen Arbeitern, sondern auch an dem vom Abstieg bedrohten Kleinbürgertum, an ruinierten Bauern und Pächtern und an bankrotten Unternehmern deutlich – und wenn, der Medizin zwischen Whytt und J. Brown zufolge, die Sensibilität, die Nerven- und Lebenskraft, also der Mensch mit seiner Anlage und mit seinen von ihm selbst produzierten Reizen die Krankheiten selbst hervorbringen, dann wird das Unbehagen an der Gesellschaft zur Krise ihres Selbstverständnisses. Ihre Geschichte ist nicht mehr Naturgeschichte, ist nicht mehr fraglos vernünftig, nicht mehr identisch mit natürlichem Fortschritt zu Freiheit und Reichtum aller. Das Denken, das sich dieser Krise stellt, hat zwischen zwei Wegen zu wählen, je nachdem, wie seine Diagnose der Situation ausfällt.

Sieht das die Krise reflektierende Denken hier primär und fortschrittsgläubig eine Stufe der Emanzipation der Gesellschaft, deren Mißstände zu überwinden sind, wenn man sie nur weitertreibt und wenn man davon ausgeht, daß die Ansprüche der Aufklärung erst noch zu verwirklichen sind, so wird dieses Denken zu einer konsistenten theoretischen Analyse kommen, die auf die Dynamik der Triebkräfte der Gesellschaft bzw. des Menschen baut und deren Naturgesetze zu erkennen sucht. Es wird einen technologischen Plan für die zu konstruierende Gesellschaft entwerfen, in dem Autorität in der Rationalität der Organisation gleichsam aufgegangen ist. Dieser Ansatz hat jedoch den Kern seiner Schwierigkeiten darin, daß seine Übersetzung in gesellschaftliche Praxis scheitert – weder reicht die Rationalität der Menschen im allgemeinen hin, noch existiert eine soziale Klasse als subjektiver Träger, um dieses liberale Modell zu verwirklichen. An der Praxis entscheidet es sich, daß dieses Modell unter den gegebenen Bedingungen einerseits sozialen Utopien folgt, während seine theoretische Stärke andererseits Beihilfe leistet bei der Entstehung der akademischen Disziplinen naturwissenschaftlich betriebener Soziologie, Psychologie und Psychiatrie. Für diesen Ansatz sind J. Bentham und J. S. Mill ebenso zu nennen wie die meisten Vertreter der frühen »Sozialen Bewegung« (z.B. die Agrarsozialisten, der radikalindividualistische Dissenterprediger und Philanthrop W. Godwin)113, die phrenologisch-naturwissenschaftliche Psychiatrie und, in der Literatur, die gegen Ausbeutung und Industriestädte protestierenden, humanistisch-atheistischen jüngeren Romantiker (Coleridge, Shelley, Byron), erst recht der unsentimentale Tory W. Scott, der den psychologischen Roman der Frühromantik naturalistisch-soziologisch zu Schilderungen von Klassendifferenzen und sozialen Ursachen der Charakterbildung entwikkelt.114 Die Spielarten liberalen Denkens dieser Zeit garantieren zwar dem Industrialismus jeden Spielraum der Selbstentfaltung, sie erweisen sich aber als ohnmächtig zur praktischen Veränderung der mißlichen Folgen dieser Entwicklung. Sie kennen noch kein Mißtrauen gegen gesellschaftlichen Zwang, bekämpfen daher vornehmlich nur die Reste »alten« Zwangs, für den der Staat anzuschuldigen ist. Daher ihre Verdienste auch in Bereichen wie denen der Gefängnisreform.

Der andere mögliche Weg des Denkens nimmt seinen Ausgang von der Bestimmung der Krise als Zustand des Chaos und der Anarchie, der gerade nicht dem Staat und anderen traditionellen Autoritäten anzulasten ist, sondern der unbegrenzt wuchernden Freizügigkeit der gesellschaftlichen Bewegungen, damit aber den Ideen der Aufklärung selbst. Von dieser Diagnose aus kommt man dazu, entweder romantisch hinter die Aufklärung und den Industrialisierungsprozeß in traditionelle Gemeinschaftsbindungen zurückzustreben oder die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft im wesentlichen zu akzeptieren, sie aber durch Einbindung in gewachsene, hinzunehmende Autoritätsstrukturen zu stabilisieren. Hier besteht kein Vertrauen in die Rationalität, die sich durch die Dynamik der gesellschaftlichen und menschlichen Triebe und Bedürfnisse durchsetzen soll; was sich als Gesellschaft verselbständigt hat, soll in irrationale Instanzen eingebettet, von der der Natur entlehnten Autorität der Familie unterbaut, von moralischen Normen umgeben und aufs Maß beschnitten und von den gesetzten Institutionen des Staates und der Kirche überhöht werden. Dieses konservative Modell hat wie jedes derartige seine Schwäche in der Theorie, da sich schlecht mit rationalen Argumenten für die Restituierung einer Ordnung streiten läßt, die auf unbefragbare Autorität und Glaubenssätze verpflichtet werden soll. Daher setzt es sich in den Wissenschaften weniger über die Theorie, vielmehr über die praktische Anwendung durch, leichter auch in den normativen Disziplinen als in den kausal betriebenen Naturwissenschaften. Denn der theoretischen Schwäche des konservativen Modells korrespondiert die Stärke in der Praxis. Während die Ideen der Aufklärung und die Menschenrechte ebenso wie die Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaft abstrakte Instanzen darstellen und Naturwissenschaften und gesellschaftliche Organisationspläne von der Formalisierbarkeit leben, sind die Einrichtungen, auf die hin das konservative Denken die Gesellschaft integrieren will, höchst konkreter Art; sie verfügen kraft Autorität über die Mittel, zu ihnen selbst zu erziehen (Familie, Staat, Kirche), bzw. sie sind die unmittelbaren Zwecke dieser Erziehung (sozialmoralische Verhaltensnormen). Jedenfalls baut dieses Denken auf die Medien unmittelbarer, praktischer Einwirkung, appelliert an die Eigengesetzlichkeit des menschlichen Innern, an seine normative Bindungsbedürftigkeit und arbeitet auf ordnungsstiftende Konstellationen hin, in denen die moralische Schuldfähigkeit des Menschen – auch jenseits der Strafgerichtsbarkeit – funktionali-siert wird, wie wir es in unserem Zusammenhang z. B. für die Entwicklung der Hysterievorstellungen nachzuweisen suchten. Freilich wird das konservative Modell an der Stelle ideologisch, an der das liberale utopisch wird, nämlich dort, wo sich herausstellt, daß es nicht in der Lage ist, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, diese vielmehr der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsweise überläßt und sie rechtfertigt, indem es die Menschen an sie anpaßt und ihnen nur außerhalb ihres ökonomischen Daseins irrational-autoritäre Kompensationsmöglichkeiten verschafft: der ökonomisch erfolglose Bürger als autoritäres Familienoberhaupt, patriotischer Untertan, puritanisch-tugendhaft, krank an der Gesellschaft, im Jenseits belohnt. Es versteht sich, daß dieses konservative Modell an die traditionalistischen Momente der schottischen Moralphilosophie, die noch zugleich utilitaristisch sein konnte, und an die frühromantische Apotheose der bürgerlichen Innerlichkeit, der Flucht aufs Land und in die heroische Vergangenheit anknüpfen konnte, nicht minder an die entpolitisierende Spiritualisierung und an die praktisch-caritative Philanthropie der Methodisten und ähnlicher Bewegungen. Hierher gehören auch die verschiedenen, besonders die fürsorgerischen, sozialen Reformen, unter diesen die hier zu verfolgenden Entwicklungen der praktischen Psychiatrie, aber auch die gesetzlichen Eingriffe in die Wirtschaft, so die familienfördernde Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit (1819 und 1833), Gesetze über die Fabrikhygiene und Einsetzung von Fabrikinspektoren (1829) und die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit (1847) – Maßnahmen, die eine erhebliche Vergrößerung der staatlichen Bürokratie erforderten. Die jüngere Romantik hat hier nicht weniger eine Funktion als maschinenstürmender Antikapitalismus, als ästhetische Mythologisierung der realen Ausbeutung (Shelley, Coleridge) und, bei Wordsworth, als Feier der Reinheit der Natur und des Kindes und der Unbedingtheit der sittlichen Pflicht – und das erstmals didaktisch bewußt in einfacher Sprache. Ihren Höhepunkt erlebt die konservative Bewegung – immer in funktioneller Beziehung zur gleichzeitigen ökonomischen Expansion – im Viktorianischen Zeitalter, namentlich um die Jahrhundertmitte. »Die ideelle Reaktion gegen den wirtschaftlichen Liberalismus wird zu einer inneren Angelegenheit, einer moralischen Selbstrettung der Bourgeoisie. Sie wird von derselben Schicht getragen, die in der Praxis das Prinzip der Wirtschaftsfreiheit vertritt, und bildet im viktorianischen Kompromiß das den Materialismus und Egoismus ausgleichende Element.«115 Nach der Niederlage des Proletariats entsteht sogar so »etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft zwischen der Aristokratie und dem Volk«, in der wenn schon nicht Lord Ashley s, so doch Carlyles antiliberal-staatsautoritäre und romantisch-philanthropische Motive zumindest gleich stark waren. »Der Feudalismus Disraelis ist politische Romantik, die ›Oxford-Bewegung‹ religiöse Romantik, die Kulturkritik Carlyles soziale Romantik, die Kunstphilosophie Ruskins ästhetische Romantik; alle diese Lehren und Richtungen verneinen den Liberalismus und Rationalismus und nehmen ihre Zuflucht vor den Problemen der Gegenwart zu einer höheren, überpersönlichen, übernatürlichen Ordnung, einem Zustand, der dauert und der Anarchie der liberalen und individualistischen Gesellschaft nicht unterworfen ist.«116 Obschon die Utilitaristen, Kapitalisten und Materialisten mit den Aufklärungsideen tiefer verbunden waren als ihre romantisch-konservativen Gegner mit ihrer irrationalen Autoritätssehnsucht, so steht doch zugleich außer Zweifel, daß gerade auch die letzteren die »aufgeklärte« Gesellschaft in ihrem außerökonomischen Bereich mitgeprägt haben, sowohl durch die Praxis der sozialen Reformen als durch die Etablierung einer den äußeren Zwang innerlich übersetzenden moralischen Ordnung.

Die »armen Irren« waren buchstäblich eine Erscheinung des Unbehagens und der sich anbahnenden Krise der Mitte des 18. Jahrhunderts. Nun, da an dessen Ende die Krise offenkundig ist, gehören auch sie zu den großen Gegenständen der öffentlichen Diskussion – die Zahl der Publikationen steigt sprunghaft an117; die Irren figurieren in den Themen der inneren Unvernunft der Menschen und der Gesellschaft; das bewußte Produzieren heilender Krisen spielt umgekehrt in der Therapie zunehmend eine Rolle118, und – wie von der List der Vernunft in der Geschichte bestellt – verfällt 1788 die höchste Autorität, König George III., dem Wahnsinn, was sinnfällig macht, daß das Irresein eine allgemeine menschliche Möglichkeit ist und daher auch eine allgemeine Regelung verlangt. Gerade indem eine – unterschiedlich große – Eigengesetzlichkeit des Psychischen in der Psychiatrie zugelassen wird, tritt diese in den Kreis der Wissenschaften, die sich mit der Krise konfrontiert sehen, mischen und differenzieren sich auch ihre liberalen und konservativen, aufklärungs- und stabilisierungswissenschaftlichen Elemente.

Auch in der Psychiatrie beginnt die Diskussion um die Reform nicht von paradigmatischen Neuansätzen der Theorie her, sondern als Antwort auf gesellschaftliche Bedürfnisse und auf die Frage nach den konkreten Chancen psychiatrischer Praxis. 1771 erschien das erste Buch über Krankenhäuser und andere Einrichtungen für die Armen119, in dem auch Einrichtungen für die »armen Irren« berücksichtigt wurden und in dem durch den Autor, den Arzt J. Aikin, hierfür der Begriff »asylum« publik gemacht wurde, der sich in der Folge durchsetzte. Als Vorbild für den Bau weiterer »asylums«/ Anstalten knüpfte Aikin an die schon erwähnte Einrichtung von Manchester an. Freilich läßt sich, was Aikin den humanen und »generous and disinterested zeal of individuals« nennt, im sozialen Kontext auch anders lesen. Mag man das Ergebnis einen humanen Fortschritt nennen können, so liegt ihm gleichwohl ein definiertes ökonomisches Interesse zugrunde; ja, es ist eine unabdingbare Voraussetzung für die industrielle Produktionsweise, nachdem sie in die Gesellschaft auch das Reservoir der ehemals ausgegrenzten Unvernunft einzubeziehen gezwungen ist, daß auch dieser Bereich »poliziert« wird, daß eine äußere soziale Ordnung gewährleistet und für ein Minimum an humanitären Einrichtungen gesorgt ist. Es müssen Differenzierungen und Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden, die es dem Unternehmer gestatten, das Potential an Arbeitskraft zu überschauen, das ihm in diesem Bereich zur Verfügung steht, und die zugleich ein störungsfreies Funktionieren seines Betriebes – des öffentlichen Verkehrs überhaupt – garantieren. Aus diesem Grund müssen spezielle und abgesonderte Anstalten für die »armen Irren« errichtet werden, auch um die in ihrer Gesamtheit für den Arbeitsprozeß zu mobilisierenden Familien (Frauen und Kinder) von der Überwachung und Pflege eines verrückten Familienmitgliedes freizustellen.

Aikin begründet erstmals ganz offen die ökonomische Notwendigkeit von »asylums«; denn abgesehen von ihrem Leiden sind die Irren »a nusance and terror to others; and are not only themselves lost to society, but take up the whole time and attention of others. By placing a number of them in a common receptacle, they may be taken care of by a much smaller number of attendants; at the same time they are removed from the publik eye to which they were multiplied objects of alarm, and the mischiefs they are liable to do to themselves and others, are with much greater certainty prevented«. Öffentliche Irrenanstalten würden daher vielfältigen Nutzen haben: »instead of being a burthen, they would be a saving to the community, not only from the relief of private families, but that of parishes.«120 Die bürgerliche Gesellschaft als wirtschaftende integriert die ehemals ausgegrenzte Unvernunft durch Differenzierung und durch Plazierung in Spezialanstalten. Sie erfaßt sie zwar rigoroser und lokalisiert sie »ordentlicher«, aber man kann nicht einfach – wie Foucault – sagen, daß sie damit die Irren vollends zum Schweigen und zum Verschwinden gebracht hat. Der Sachverhalt ist komplizierter. Dadurch, daß die Irren in den Bereich der Gesellschaft hineingenommen werden, daß sie in die Diskussion um die bürgerlichen Rechte einbezogen werden, ist die Gesellschaft zugleich leistungsfähiger, dynamischer, aber auch irritierbarer, labiler und normierungsbedürftiger geworden. Gerade insofern die Irren nun innerhalb der Gesellschaft stehen, muß diese der mit ihnen aufgenommenen Bedrohung mit den schützenden, differenzierenden und ordnenden Mitteln begegnen, die sie zur Verfügung hat. Ja, die Irren bleiben sogar in besonderer Weise sichtbar und auf die Gesellschaftsstruktur funktional bezogen, als u. a. an ihnen in ihrer Besonderheit sich die sozial-ökonomische und die moralische Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft definiert, wie umgekehrt die Heilungsmöglichkeit zumindest eines Teils der Irren sich gerade in dem durch diese zweckrationalen ökonomischen Bedürfnisse geschaffenen Rahmen entwikkeln konnte. An Aikin ist zudem bemerkenswert, daß die Anstaltsgründung mit der Entlastung der Familie zum Zweck der Freisetzung von ökonomischer Arbeitskraft begründet wird, lange Zeit bevor das formale soziologische Argument lauten wird: nach dem Übergang von der agrarischen Groß- zur bürgerlichen Kleinfamilie sei es dieser unmöglich, für ein verrücktes (idiotisches, krankes, altes) Familienmitglied zu sorgen, was die Schaffung einer zunehmenden Zahl von Spezialeinrichtungen erfordere.

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