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2. Teil Allgemeiner Teil des IPR › B. Qualifikationsprobleme

B. Qualifikationsprobleme

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Wie bereits gesehen,[1] meint Qualifikation die Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand einer Kollisionsnorm. Dieser Vorgang ist im IPR mit Schwierigkeiten verbunden, wenn der Sachverhalt einer Kollisionsnorm nicht eindeutig zugeordnet werden kann.

Beispiel

Die Französin F kauft eine DVD bei dem Deutschen V und bezahlt nicht. Daraufhin fordert V das Geld von ihrem Ehemann M.

Es geht um eine Konstellation, wie sie § 1357 BGB im deutschen Sachrecht behandelt. Im deutschen Kollisionsrecht wird dieser Fall hingegen nicht ausdrücklich geregelt. Man könnte ihn einerseits – wie das deutsche materielle Recht – familienrechtlich einordnen und Art. 14 unterstellen. Andererseits knüpft § 1357 BGB jeweils an einen Vertrag an, sodass auch die Heranziehung der Rom I-VO in Betracht käme. Da die Qualifikation jedoch nach der lex fori erfolgt, erscheint erstere Ansicht zutreffend.

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Insbesondere bei fremden Rechtsinstituten, die dem deutschen Recht unbekannt sind, bereitet die Zuordnung zu einer Kollisionsnorm häufig Probleme. Nach der Lehre von der funktionalen Qualifikation soll es für die Einordnung darauf ankommen, welche Funktion das ausländische Institut in seiner Rechtsordnung aus deutscher Sicht wahrnimmt.[2]

Beispiel

Das italienische Recht lässt in Art. 111 Codice Civile unter bestimmten Voraussetzungen zu, dass ein Ehegatte oder beide Ehegatten bei der Eheschließung einen Boten schicken, der sie vertritt. Da der Handschuh früher als ein Symbol der Vollmacht angesehen wurde, wird von sog. Handschuhehen gesprochen. Deutschland lässt solche Eheschließungen nach § 1311 BGB nicht zu. Welcher deutschen Kollisionsnorm wird die Handschuhehe unterstellt?

Naheliegend wäre die Heranziehung von Art. 13 Abs. 1, der die Eheschließung regelt. Da jedoch aus deutscher Sicht die Frage, ob die Erklärungsübermittlung durch einen Boten zulässig ist, nicht den Ehewillen selbst betrifft, sondern nur die äußere Gestalt der Eheschließung, handelt es sich um eine Formfrage. Die Handschuhehe ist daher grundsätzlich nach Art. 11 oder Art. 13 Abs. 4 zu qualifizieren.[3]

Anmerkungen

[1]

Rn. 29 f.

[2]

Hohloch/Klöckner IPRax 2010, 522, 525; Palandt-Thorn Einl. vor Art. 3 Rn. 27; näher Rauscher Rn. 473 ff.; Sendmeyer JURA 2011, 588, 590.

[3]

Näher unter Rn. 101.

2. Teil Allgemeiner Teil des IPR › C. Rück- und Weiterverweisung

C. Rück- und Weiterverweisung

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Soweit eine deutsche Kollisionsnorm auf eine fremde Rechtsordnung verweist, so verweist sie gem. Art. 4 Abs. 1 S. 1 grundsätzlich auf ihr IPR, nicht auf ihr Sachrecht (sog. Grundsatz der Gesamtverweisung[1]). Daher muss in einem weiteren Schritt das fremde IPR geprüft werden, um zum letztlich anwendbaren Sachrecht zu gelangen.

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Das fremde IPR kann die Verweisung annehmen, also das eigene Sachrecht für anwendbar erklären, oder ablehnen (renvoi), indem es andere Anknüpfungsmomente als das deutsche IPR vorsieht und so zu einer Verweisung zurück auf deutsches Recht (sog. Rückverweisung) oder auf drittstaatliches Recht (sog. Weiterverweisung) führt. Kommt es zu einer Rückverweisung, nimmt das deutsche IPR diese Verweisung gem. Art. 4 Abs. 1 S. 2 stets an, d.h. es erklärt in diesem Fall immer die eigenen Sachvorschriften für anwendbar. Das ist sinnvoll, denn andernfalls käme es zu einem nicht endenden „Pingpong-Effekt“ zwischen dem deutschen und dem rückverweisenden ausländischen IPR.

Beispiel[2]

Die argentinischen Staatsangehörigen M und F sind 2009 wirksam die Ehe eingegangen und leben seither in Deutschland. M fragt Sie im Jahre 2018, welchem Recht die Wirkungen ihrer Ehe unterstehen.

Die allgemeinen Ehewirkungen richten sich nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 1. Danach ist die gemeinsame Staatsangehörigkeit maßgebliches Anknüpfungsmoment. Verwiesen wird mithin auf argentinisches Recht. Das ist aber noch nicht die Antwort auf die Fallfrage, denn es handelt sich nur um die Verweisung auf argentinisches IPR (Gesamtverweisung). Das argentinische IPR knüpft im Unterschied zum deutschen IPR an den Wohnsitz der Ehegatten an (das wäre in einer Klausur im Sachverhalt angegeben). Da der gemeinsame Wohnsitz vorliegend in Deutschland liegt, kommt es zu einer Rückverweisung auf deutsches Recht. Der renvoi wird gem. Art. 4 Abs. 1 S. 2 angenommen. Folglich ist im Ergebnis deutsches Sachrecht auf die Scheidung anzuwenden.

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Den Gegensatz zu Gesamtverweisungen bilden die sog. Sachnormverweisungen. Wie Art. 3a Abs. 1 verdeutlicht, führen diese Verweisungen nicht zunächst zur Anwendung des fremden IPR, sondern unmittelbar zum jeweiligen Sachrecht (sog. lex causae = das letztlich anwendbare Recht). Von einer derartigen Sachnormverweisung ist nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 auszugehen, wenn eine Gesamtverweisung dem Sinn der Verweisung widerspricht. Dies ist nach h.M. v.a. dann der Fall, wenn die Anwendung einer Ausweichklausel zu dem fremden Recht führt.[3] Weiterhin ist bei einer wirksamen Rechtswahl stets von einer Sachnormverweisung auszugehen, Art. 4 Abs. 2.

Sofern es nach der für Sie maßgeblichen Prüfungsordnung zulässig ist, können Sie sich Gesamtverweisungen im EGBGB durch Hinweis auf Art. 4 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 und Sachnormverweisungen jeweils durch Verweise auf Art. 4 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 am Rande Ihres Gesetzestextes kenntlich machen.


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Im EGBGB sind Sachnormverweisungen die Ausnahme, außerhalb des EGBGB sind sie die Regel: Das Ziel der Rechtsvereinheitlichung, das Unionsrecht und Staatsverträge verfolgen, verlangt die Verweisung auf Sachnormen. Dementsprechend sind etwa Verweisungen in der Rom I- und Rom II-VO nach deren Art. 20 bzw. 24 allesamt[4] Sachnormverweisungen.

JURIQ-Klausurtipp

Wenn dem Klausursachverhalt keine Gesetzestexte zu ausländischem IPR beigefügt sind, könnte für die Lösung des Falles eine Sachnormverweisung entscheidend sein. Andernfalls spricht alles dafür, dass die Anwendung der Gesamtverweisungsnorm zu deutschem Recht führt. Denn ein Fall mit Gesamtnormverweisung auf fremdes Recht kann ohne das entsprechende ausländische IPR nicht zu Ende gelöst werden.


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Anmerkungen

[1]

Synonym zur Gesamtverweisung wird mitunter von einer „IPR-Verweisung“ gesprochen, um deutlich(er) zu machen, dass auf das jeweilige IPR verwiesen wird.

[2]

Lose angelehnt an OLG Schleswig FamRZ 2001, 1460 = JuS 2002, 295 m. Anm. Hohloch.

[3]

Vgl. Erman-Hohloch Art. 4 EGBGB Rn. 17 mit zahlreichen Nachweisen zum (kaum klausurrelevanten) Streitstand.

[4]

Von den beiden nebensächlichen Ausnahmen in Art. 7 Abs. 3 und 4 Rom I-VO abgesehen, vgl. MüKo-Martiny Art. 20 Rom I-VO Rn. 4.

2. Teil Allgemeiner Teil des IPR › D. Vorfrage

D. Vorfrage

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Wie der Begriff bereits nahe legt, geht es bei Vorfragen[1] darum, innerhalb eines Tatbestandes eine Frage zu klären, die der eigentlichen Hauptfrage (z.B.: „Welches Recht gilt für die Scheidung?“) vorgelagert ist. So setzt beispielsweise eine Scheidung denklogisch das Bestehen einer Ehe voraus. Ob eine Ehe wirksam eingegangen wurde, ist gerade bei Fällen mit Auslandsbezug nicht immer selbstverständlich.

Beispiel

Der Engländer M und die Deutsche F heiraten 2015 während eines Urlaubs in Rom in der dortigen anglikanischen Kirche. Nach vierjähriger Ehe, die M und F in Hannover verbracht haben, beantragt F beim zuständigen Amtsgericht in Hannover die Scheidung.

Die Scheidung setzt als Vorfrage eine wirksam eingegangene und noch bestehende Ehe voraus. Nach deutschem Sachrecht kann nur „vor dem Standesbeamten“ (§ 1310 Abs. 1 BGB) geheiratet werden („obligatorische Zivilehe“ in Deutschland); die kirchliche Trauung ist hierzulande rechtlich unerheblich (vgl. § 1588 BGB).

Im Unterschied dazu erkennt das italienische Eherecht auch die kirchliche Ehe an („fakultative Zivilehe“ in Italien). Der Vorfrage, nach welchem Recht sich die Eheschließung richtet, kommt damit im vorliegenden Fall entscheidende Bedeutung zu.

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Manche Stimmen in der Literatur wollen Vorfragen unselbstständig nach der lex causae anknüpfen, also immer nach dem Sachrecht beurteilen, das für die Hauptfrage (hier: die Scheidung) gilt. Die ganz h.M. plädiert dagegen grundsätzlich für eine selbstständige Anknüpfung, d.h. sie sucht für die jeweilige Vorfrage die passende Kollisionsnorm und ermittelt auf dieser Grundlage – von der Hauptfrage unabhängig – das auf die Vorfrage anzuwendende Recht. Nur für das Internationale Namensrecht sowie für Vorfragen in völkerrechtlichen Verträgen und im Staatsangehörigkeitsrecht knüpft auch die h.M. unselbstständig an. Für letztere Ansicht spricht v.a. der interne Entscheidungseinklang.[2]

Beispiel

Konkret heißt das für das obige Beispiel (Rn. 59), dass nach der unselbstständigen Anknüpfung deutsches materielles Eheschließungsrecht anzuwenden wäre, da dieses für die Scheidung als Hauptfrage gem. Art. 8 lit. a Rom III-VO[3] berufen ist (die Vorfrage selbst wird vom Anwendungsbereich der Rom III-VO nicht erfasst, siehe Art. 1 Abs. 2 lit. b sowie Erwägungsgrund 10 der Rom III-VO). Da nach deutschem Eheschließungsrecht aber wie gesehen gar keine Ehe zwischen M und F besteht, wäre der Scheidungsantrag erfolglos (vgl. jetzt auch Art. 13 Var. 2 Rom III-VO, wonach das Gericht eine Entscheidung über den Scheidungsantrag sogar insgesamt verweigern dürfte[4]).

Aufgrund des internen Entscheidungseinklangs ist die Eheschließung jedoch richtiger Ansicht nach selbstständig anzuknüpfen. Es ist daher nach der für die Eheschließung passenden Kollisionsnorm zu suchen. Diese ist vorliegend nicht in Art. 11 oder Art. 13 zu erblicken, sondern im Haager Eheschließungsabkommen[5] zu finden. Dieser Staatsvertrag enthält im Verhältnis zu Italien dem EGBGB vorgehende Kollisionsnormen. Nach Art. 5 Abs. 1 des Abkommens bestimmt sich die Formwirksamkeit der Ehe nach dem Recht des Landes, in dem die Eheschließung erfolgt ist, hier also nach italienischem Recht. Danach ist die Ehe zwischen M und F wirksam. Für die Scheidung gilt nach Art. 8 lit. a Rom III-VO deutsches Recht. Die gültige Ehe kann danach unter den Voraussetzungen der §§ 1565, 1566 BGB geschieden werden.

Anmerkungen

[1]

Viele Autoren differenzieren zwischen Vor-, Erst- und Teilfragen. Auf diese erhebliche Verkomplizierung wird hier nicht eingegangen, da sie in der Sache kaum weiterführt und zudem keinen hinreichenden Rückhalt in der Rechtsprechung findet.

[2]

Weiterführend Rauscher § 5 Rn. 504 ff.; Hoffmann/Thorn § 6 Rn. 60 ff.; in der Klausur bedarf es regelmäßig keines Eingehens auf diesen „Grundsatzstreit“.

[3]

Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts [J/H Nr. 34]; dazu Rn. 111 ff.

[4]

Siehe hierzu Gade JuS 2013, 779, 782.

[5]

Haager Abkommen zur Regelung des Geltungsbereichs der Gesetze auf dem Gebiete der Eheschließung [J/H Nr. 30].

2. Teil Allgemeiner Teil des IPR › E. Ordre public

E. Ordre public

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Die Suche nach dem anwendbaren Recht erfolgt neutral ohne Rücksicht auf den Inhalt der berufenen Rechtsordnung. Sie gleicht damit einem „Sprung ins Dunkle“. Doch was gilt, wenn deutsche Gerichte bei anzuwendendem ausländischem Sachrecht feststellen müssen, dass dessen Anwendung zu einem nach hiesigen Wertvorstellungen unerträglichen Ergebnis führen würde?

Beispiel[1]

Die in Deutschland lebenden iranischen Staatsangehörigen M und F streiten um das Sorgerecht ihres Sohnes S. S möchte zu F, da der drogenabhängige M ihn in der Vergangenheit oft heftig geschlagen hat. Das mit dem Sorgerechtsstreit befasste Gericht in Frankfurt gelangt zur Anwendung iranischen Sachrechts. Nach diesem unterstehen minderjährige Kinder grundsätzlich der Obhut des Vaters. Das Gericht müsste danach also dem M das Sorgerecht zusprechen.

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Für derartige Fälle liefert der ordre public (= öffentliche Ordnung) einen „Notausgang“. Er wehrt die Anwendung ausländischen Rechts ab, wenn es zu nicht hinnehmbaren Ergebnissen führt. An dessen Stelle tritt ein – je nach Einzelfall unterschiedlich zu bestimmendes[2] – Ersatzrecht, auf dessen Grundlage das Gericht zu einem tragbaren Ergebnis gelangt.

Beispiel[3]

Der M und die F sind Staatsangehörige von Haiti. Sie leben in Deutschland. M wird das Eheleben mit F bald zu langweilig. Er vergnügt sich daher regelmäßig mit anderen Frauen, mit denen er aber nicht zusammenlebt. F ist sehr gekränkt darüber und wünscht vor einem zuständigen deutschen Gericht die Scheidung. Das deutsche Gericht kommt aufgrund einer wirksamen Rechtswahlvereinbarung zur Anwendung des Scheidungsrechts von Haiti. Danach ist zwar der Ehebruch der Ehefrau stets Scheidungsgrund (Art. 215); der Ehebruch durch den Ehemann ist nach dem Scheidungsrecht von Haiti dagegen nur dann Scheidungsgrund, wenn der Mann die Konkubine im Haushalt hält (Art. 216).

Da M nicht mit seinen Liebhaberinnen zusammenlebt und mithin kein Scheidungsgrund nach dem Recht von Haiti vorliegt, dürfte das deutsche Gericht die Ehe im Ergebnis nicht scheiden. Dieses Ergebnis verstößt jedoch gegen den ordre public. Anstelle des gleichheitswidrigen Art. 216 des Scheidungsrechts von Haiti bietet sich als Ersatzrecht an, den Scheidungsgrund des Art. 215 auch auf den Fall zu übertragen, dass der Ehemann Ehebruch begeht. Da dieser Fall eingetreten ist, könnte die Ehe zwischen M und F geschieden werden.

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Ordre-public-Klauseln finden sich in EU-Verordnungen (etwa Art. 21 Rom I-VO, Art. 26 Rom II-VO, Art. 12 Rom III-VO, Art. 35 EuErbVO), in Staatsverträgen (etwa Art. 22 KSÜ) und im nationalen IPR (Art. 6). Sie sind nur in besonderen Ausnahmefällen anzuwenden, in denen das konkrete Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts (nicht die ausländische Norm an sich[4]) bei hinreichendem Inlandsbezug[5] mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Ein solcher Ausnahmefall liegt im obigen Beispiel (Rn. 61) vor: Es wäre ein nicht hinnehmbares Ergebnis, das Sorgerecht dem M zuzusprechen und so den S weiteren Gesundheitsgefährdungen auszusetzen. Dies gilt umso mehr, als dieses Ergebnis Art. 3 GG und dem Recht des Kindes auf Entfaltung seiner Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG widerspräche. Wie Art. 6 S. 2 klarstellt, der auf den berühmten „Spanier-Beschluss“ des BVerfG[6] zurückgeht, sind nämlich v.a. solche Ergebnisse abzuwehren, die mit den Grundrechten unvereinbar sind.

Beispiel[7]

Der Muslim M war bis zu seinem Tod im Jahr 2007 mit der Christin F kinderlos verheiratet. Die Erbfolge richtet sich nach ägyptischem Sachrecht. Danach beträgt bei kinderlosen Ehepaaren der Erbteil des Ehemannes die Hälfte des Nachlasses, der Erbteil der Ehefrau nur ein Viertel. Bei einer Ehe zwischen einem Muslim und einer Nichtmuslimin erbt die Ehefrau nichts.

Diese beiden an das Geschlecht bzw. die Religion anknüpfenden Vorgaben des ägyptischen Rechts sind mit den Grundrechten des Art. 3 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 3 GG unvereinbar. Nach Art. 3 Abs. 2 GG sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Gem. Art. 3 Abs. 3 GG darf niemand wegen seines Geschlechts oder seines Glaubens und seiner religiösen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Diskriminierung der F durch die zweifache Benachteiligung im ägyptischen Erbrecht wird wegen Verstoßes gegen den ordre public dergestalt korrigiert, dass F erbrechtlich wie ein Mann zu behandeln ist.

JURIQ-Klausurtipp

In der Klausur dürfte der ordre public des Öfteren zu prüfen, meist jedoch abzulehnen sein. Dies u.a. deshalb, weil die Ermittlung des Ersatzrechts stark vom Einzelfall abhängt und keiner stringenten Dogmatik folgt.

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Der ordre public wird auch als allgemeine Vorbehaltsklausel bezeichnet. Dieser gehen sog. besondere Vorbehaltsklauseln vor (Art. 13 Abs. 2 Nr. 3, Art. 13 Abs. 3, 13 Abs. 4 S. 1, 17 Abs. 2, 17 Abs. 3 S. 2, 18 Abs. 2, 23 S. 2), die für spezielle Einzelfälle die Anwendung deutschen Rechts verlangen.

Allgemeines Prüfungsvorgehen im IPR

I. Weist der Sachverhalt Auslandsbezug auf?

II. Wenn ja: Qualifikation des Sachverhalts zu passendem Anknüpfungsgegenstand aus

1.vorrangigem Staatsvertrags- oder Europarecht

2.sonst: EGBGB

III. Anwendung der Kollisionsnorm mit ihrem maßgeblichen Anknüpfungsmoment

IV. Verweisung auf deutsches Recht?

1.Wenn ja: Anwendung deutschen Sachrechts

2.Wenn nein: Sach- oder Gesamtnormverweisung auf das fremde Recht?

a)Wenn Sachnormverweisung: Anwendung des ausländischen Sachrechts

b)Wenn Gesamtverweisung: Anwendung des ausländischen IPR, das Verweisung annimmt, rück- oder weiterverweist

aa)Bei Annahme: Anwendung des ausländischen Sachrechts

bb)Bei Weiterverweisung: Weiter wie oben unter IV. 2.

cc)Bei Rückverweisung: Anwendung deutschen Sachrechts


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Anmerkungen

[1]

Stark abgewandelt und vereinfacht nach BGH NJW 1993, 848.

[2]

Näher Rauscher Rn. 595 ff.; anschauliches Beispiel aus der Rechtsprechung OLG Zweibrücken NJW-RR 2002, 581 = JuS 2002, 1025 m. Anm. Hohloch.

[3]

Nach J. Stürner JURA 2012, 708, 713.

[4]

Scholz ZJS 2010, 185, 186 m.w.N. (abrufbar unter: http://www.zjs-online.com/dat/artikel/2010_2_297.pdf); lesenswertes Beispiel hierzu OLG Frankfurt NJW-Spezial 2009, 758.

[5]

Wann ein hinreichender Inlandsbezug vorliegt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab; Indizien können beispielsweise eine deutsche Staatsangehörigkeit oder Inlandsvermögen sein, siehe OLG Frankfurt a. M. ZEV 2011, 135, 136.

[6]

BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509. Siehe hierzu aus jüngerer Zeit Winkler von Mohrenfels in: FS Martiny 2014, 595, 579 ff. Die Schlussfolgerungen dieser grundlegenden Entscheidung des BVerfG sind heute in Art. 6 kodifiziert.

[7]

Nach OLG Frankfurt a. M. ZEV 2011, 135.

3. Teil Besonderer Teil des IPR

Inhaltsverzeichnis

A. Internationales Personen- und Gesellschaftsrecht

B. Internationales Familienrecht

C. Internationales Erbrecht

D. Internationales Vertragsrecht

E. IPR der außervertraglichen Schuldverhältnisse

F. Internationales Sachenrecht

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