Kitabı oku: «SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert», sayfa 2
1.1 Festreden aus besonderem Anlass des Gymnasiums OHZ
1.1.1 Festrede zur Entlassung des Abiturjahrgangs am 24. 06. 1967
(Klassenlehrer: StR. Schikore)
Herr Direktor!
Verehrtes Kollegium!
Werte Gäste!
Meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!
Als Sie vor noch nicht Jahresfrist sich als kommende Oberprimaner in diesem Saale versammelten, um durch Ihr Anwesendsein die ersten Abiturienten unseres Gymnasiums zu verabschieden, mag mancher sich von Ihnen noch unbewusst gewehrt haben gegen den Gedanken, in abzählbaren Tagen selbst in der Prüfung zu stehen und – zu bestehen: vor sich selbst, vor uns Lehrern und der Öffentlichkeit, d. h. doch vor der Gemeinschaft, in die wir alle gestellt sind. Aber ist es nicht zu verständlich, dass wir Menschen uns immer erst innerlich gegen etwas wehren, von dem wir wissen, dass es auf uns zukommt? Allein, darauf nimmt das Leben keine Rücksicht, es fordert uns, und in dem Moment besonders, wo wir vielleicht meinten, in Abwehr gegen das Unbekannt-Bekannte, in Geborgenheit oder gar in Gewöhnung uns einen vertraut gewordenen Lebensraum geschaffen zu haben.
Heute haben Sie „bestanden“, das Damals ist für Sie gewesen. Heute ist es an Ihnen, Abschied zu nehmen. Und wer weiß, wer Sie morgen sein werden? Nicht Skepsis liegt in dieser letzten Frage, nicht ein Zweifeln an Ihrer Kraft, an Ihrem Willen, das Neuland, in das Sie nun hineintreten, auch bewusster und tapferer – im alten römischen Sinne – zu durchschreiten. Bangen könnten wir um Sie gewiss, die Sie als junge Menschen – noch relativ unbelastet mit den Erfahrungen des Lebens – in eine Welt hinausgehen, die anscheinend aus keiner Erfahrung ihrer Geschichte gelernt hat, die trotz furchtbarer Geschehnisse nach wie vor Parolen aus Hass, Neid, Missgunst und Blut auf die Transparente eines Fortschritts geheftet hat.
Nein, dieses Unsichere, Beklemmende und vor aller Zukunft noch Ungeborene war mit der Frage nach Ihrem späteren Dasein noch nicht gemeint. Sie sollten sich nur einmal bewusst werden, wie sehr dieser für Sie so bedeutsame erste Abschluss Ihres Lebensweges eingebettet liegt in dem Gesamtzusammenhang dessen, was Geschehen heißt. Und dann stellen Sie vielleicht ein erstes Mal betroffen fest, wie gering, wie klein Ihr eben Erreichtes gegenüber dem ist, was jetzt neu kommt. Sie stehen wieder an einem Anfang: doch dieses Mal nicht – wie Rilke sagen würde – „vor allem Anfang“, sondern schon mitten in unseren Anfängen. Was aber ist dieses Mittendrin-Stehen in den Anfängen anderes als ein Beteiligtsein an Geschichte?
Es ist manch einem Schüler – auch Abiturienten – liebgewordener Brauch, nach dem Erreichen seines Klassen- bzw. Schulzieles, die Schulbücher und -hefte den Flammen zu übergeben. Niemand – des seien Sie gewiss – würde beim Schein eines solchen Feuers glauben, die makabren Ereignisse des 10. Mai 1933 brächten sich unbewusst wieder in Erinnerung. Feuer muss nicht immer Schaden-, es kann auch Freudenfeuer sein. Aber doch symbolisiert eine solche Handlung den Abbruch mit einer Welt, die einem bislang geistige Heimat bedeutete, es symbolisiert das Überbordwerfen dessen, was man für spätere Zeiten als Ballast glaubt nicht mitschleppen zu brauchen oder – zu können. Ein solches Feuer im Kamin oder im Garten brennt sicher doch auch zur Freude darüber, dass für uns Menschen Abbruch Aufbruch ist.
Sie, meine lieben Abiturienten, dürfen, ja, Sie müssen mit Ihrer Jugend sich freuen für Ihren Aufbruch. Denn die Räume, in die Sie hinausgehen, sind für Sie ebenfalls noch jung, neu. Und alles Junge und Neue birgt in sich den Reiz des Wagnisses. Wenn das Wagnis nicht wäre, wer wollte dann Geschicke und Geschichte, den Fortschritt unserer Menschheit begreifen? Auch wenn die Welt, die Sie erwartet, von Ihnen noch nicht recht verstanden werden kann, weil scheinbar das Koordinatensystem von schulischer Erfahrung, schulischem Wissen und Lebenswirklichkeit trügt oder kaum noch vernünftige Orientierung zulässt, so haben Sie doch in das Wagnis einzutreten. Was sollen Sie nun wagen? Und wofür? Diese Frage hat Ihre Generation an uns, die wir Ihnen ein Gerüst für Ihr weiteres Leben gesetzt haben, zu stellen.
Es sei mir als Ihren einstigen Klassenlehrer in der Stunde Ihres Aufbruchs noch einmal gestattet, einige Gedanken und Orientierungspunkte abzustecken, die Ihnen helfen mögen, sich in unserer heutigen Welt einzurichten. Geschichte verläuft nicht nur im Nacheinander von Geschehnissen, sondern ist zugleich auch ein „Zusammenhang im Geschehen“ (Nicolai Hartmann). Der Mensch als kulturell determiniertes Wesen ist in ihr verwurzelt. Das heißt, der Zeitgeist, in dem der Mensch steht und mit dem er lebt, findet seinen Ausdruck nicht nur im Tradieren von Vergangenem, sondern wird auch geprägt von einem vielfachen Zusammenwirken waltender politischer, soziologischer und geistiger Strömungen und Veränderungen. Karl Jaspers sagt über Geschichte, dass wir durch sie uns selbst sähen, „gleichsam an einer Stelle in der Zeit, mit dem Staunen vor der Herkunft und vor der möglichen Zukunft, ganz gegenwärtig, je vieldeutiger die Zukunft wird.“-
Wahrlich, die Menschheitsgeschichte versetzt uns in Staunen! Sie beginnt da, wo zum ersten Male der Gebrauch der Sprache, des Feuers und einfacher Werkzeuge die Arbeit des Menschen die Tätigkeit seines Geistes bezeugt; das mag 500 000 bis 600 000 Jahre her sein. Manch Historiker der nach den schriftlichen Quellen kaum mehr als 200 Generationen – also etwa den hundertsten Teil der Menschheitsgeschichte – einzuordnen vermag, sträubt sich dagegen, dass für die rund 20000 Generationen seit dem ersten Auftreten des Menschen ein so unheimlich langsames Entwicklungstempo angenommen werden soll. Dabei vergegenwärtige man sich einmal, wenn ein Mensch aus der Zeit um 1800 plötzlich in unsere Gegenwart hingestellt wäre, um einen Spaziergang vom Bremer Bürgerpark zum Hauptbahnhof zu unternehmen: Dieser Mensch fände sich wohl eher in der Welt zur Zeit der römischen Republik oder gar Babylons zurecht. Träte heute Ikarus unvermittelt in den Kreis der Weltraumpiloten, er würde angesichts der technischen Möglichkeiten den Sinn seines Sturzes wohl kaum begreifen. Der Mensch der Urwaldtrommel ließe heute sein Tam-Tam fassungslos verstummen, wenn er erleben könnte, wie durch die vervollkommnete Nachrichtenübermittlung, durch Rundfunk und Fernsehen jedes Tagesereignis an jedem anderen Ort der Erde miterfahren werden kann.
Die Technik hat unsere Welt umfassend verwandelt. Wunschträume der Menschheit sind Wirklichkeiten geworden – und wir ergründen dies beinahe als Selbstverständlichkeiten. Dennoch vermögen wir heute trotz unseres noch so entwickelten Intellekts nicht abzuschätzen, wie die Welt aussieht, kämen wir einmal in die Verlegenheit, als Besucher aus der Vergangenheit eine Stippvisite in die Welt nach weiteren 3000 Jahren vorzunehmen. Meinen wir wirklich, im historischen Gang der Dinge alle Zusammenhänge, alle Entwicklung als kausale Notwendigkeit der Geschichte zu verstehen? Was ist denn notwendig geworden, dass unsere Welt so ist, wie wir sie heute vorfinden? Meinen wir, mit dem Bewusstsein der Notwendigkeit des Gewordenen in der Geschichte schon die Garantie für ein richtiges Handeln und Verhalten in der Gegenwart gepachtet und für die Zukunft geplant zu haben? Die noch so zündenden und frappierenden Theorien oder historischen Idealkonstruktionen über den notwendigen Verlauf von Geschichte dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass aller Notwendigkeit des Geschehens auch die Zufälligkeit beigegeben ist, die Zufälligkeit, die im Handeln von uns Menschen liegt.
Meine Damen und Herren! In der Weltgeschichte – und das ist Hegels Täuschung – ist es nicht vernünftig zugegangen. Er irrte in der Annahme, dass eine philosophische Betrachtung der Geschichte die Absicht verfolgen müsse, alles Zufällige zu entfernen und nur den allgemeinen Endzweck der Welt zu konzipieren, nach dem in den großen Menschen der Geschichte sich nichts anderes äußere als der jeweils partikulare Wille des Weltgeistes. Auch die auf den ersten Blick bestechende Marx’sche Konzeption von dem notwendigen Ablauf der ökonomischen Gesellschaftsformationen oder das fatalistische Geschichtsbild eines Toynbee und ebenso das von Spengler großartig geschilderte Untergangsgemälde unserer Kultur entbehren der Notwendigkeit ihrer Erfüllung. All diese auf den notwendigen Ablauf von Geschichte gegründeten Theorien und Vorstellungen, ob sie nun auf Endzeithoffnung oder Endzeituntergang verfasst sind, fassen nicht das Element des Zufälligen, des Unvorhersehbaren in der Geschichte. Dieses Element aber liegt in ihr, wie es in uns Menschen liegt. Hier stehen wir vor dem Unbegreifbaren, dem Nichtverstehbaren von Geschichte, weil sie uns auch die Tiefgründigkeit unserer Existenz offenbart – in unseren guten wie in unseren bösen Handlungen. Hier waltet Geschichte in uns, und sie hat uns in der Gewalt. Es ist eine der schwersten Übungen für uns, diese Gewalt zu bewältigen.
Jaspers hält das Sich-bewusst-machen von Gewalt als eine sehr wichtige Orientierung für unser heutiges politisches Denken, weil Gewalt ein unser Dasein bestimmender Faktor ist. Ich zitiere aus seinem von manchem Politiker nicht gerade geschätzten, weil zu offenherzigen Buch ‚Wohin treibt die Bundesrepublik?‘: „Wir müssen die Wirklichkeit der Gewalt anerkennen. Sie ist nicht schon abgeschafft durch den Willen zur Gewaltlosigkeit. Sie ist eine harte, nicht wegzudenkende Wirklichkeit. Wo sie verschwunden scheint in glücklichen, friedlichen, privaten Situationen, wird vergessen, dass auch dieses Dasein sich irgendwo auf Gewalt gründet, die andere vollzogen haben oder vollziehen. Der Gewaltlose ist Nutznießer solcher Gewalt. Und sogar in der Friedlichkeit selbst ist die Gewalt doch plötzlich in irgendeiner Form wieder da. Für politische Zielsetzungen ist sie zwar nicht Norm, aber einschränkender Faktor. Wer Vorstellungen absoluter Gewaltlosigkeit hat und an sie glaubt, verfällt eines Tages erst recht an die Gewalt.“ (a.a.O.; S 206) – Soweit Jaspers.
Auf eine schlichte – vielleicht schlechte – Formel gebracht, heißt das: Gewalt bewältigen durch Gewalt. Wir finden diese Formel überall in der Geschichte bestätigt. In ihrer scheinbaren Paradoxie jedoch liegt für uns der Reiz, aber auch die Versuchung. Den Maßstab der Anwendung von Gewalt finden wir allein in der Rangordnung unserer Werte, nach denen wir – gleich von welcher Position aus – unser Leben eingerichtet haben. Keiner kann so vermessen sein, von sich zu behaupten, er habe die alleingültige Wertskala in der Hand und das allein glückverheißende Rezept. Wir wissen, dass die Menschen unterschiedlicher Auffassung sind über die Vorstellungen von Menschenwürde und Freiheit. Es sollte jedoch zum Wesen jedes offenen Denkens gehören, den Standpunkt des anderen zu überprüfen, zu überdenken, um vielleicht das eigene Urteil auch einmal zu revidieren. Wissen um Tatbestände und Offenheit im Anliegen sind Grundpfeiler echter Gewalt, auch geistiger. Man hat sich aber nicht in der Gewalt, wenn man die Meinung des Gegners gewaltsam oder mit versteckten Mitteln der Verketzerung zu unterdrücken trachtet.
Sie, meine Abiturienten, werden bald erfahren – das gilt für unseren kleinen provinziellen Alltag genauso wie für den Bereich der großen Politik –, wie schwer das Maß echter Gewalt zu handhaben ist. Gewalt bewältigen ist nicht, in jugendlichem Übereifer und politischer Unausgegorenheit Macht zu demonstrieren und Gewalt herauszufordern. Gewalt bewältigen ist aber auch nicht, in institutioneller oder staatlicher Überheblichkeit den Willen Andersdenkender niederzuknüppeln. Es ist eine schwere Kunst, sich in der Gewalt zu haben. Es gehört manches Maß an Mäßigung dazu, auch Gelassenheit – wenn ich Sie an Gedanken meines Vorgängers an diesem Platze erinnern darf. Sie dürfen aber nicht gelassen zuschauen, wenn Gewalt missbraucht wird, und Sie haben die Pflicht – das möchte ich nicht versäumen, Ihnen mit auf den Weg zu geben –, Gewalt dort zu brandmarken und mit aller Kraft zu überwältigen, wo sie Verbrechen wird oder zum Verbrechen aufpeitscht. Noch sind die Wunden des Wahns nicht vernarbt, die ein Mann im Namen des deutschen Volkes der Welt zugefügt hat, da regen sich wieder Gesinnungstreue und versprechen, die „Ehre der Nation“ wiederherzustellen. Wehren Sie solchen uns bekannten Anfängen! Bekennen Sie, dass Sie nicht gewillt sind, solchen Rattenfängern zu folgen!
In einem 1957 in der Aula der Universität von Uppsala gehaltenen Vortrag hat Albert Camus den Zuschauern das Bild jenes orientalischen Weisen in Erinnerung gerufen, der einmal um die Gnade zu beten pflegte, die Gottheit möge ihm ersparen, in einer interessanten Zeit zu leben. Da wir aber keine Weisen sind –so hat der Dichter das Bild auf uns Heutige umgekehrt –, habe die Gottheit es uns nicht erspart; und wir lebten in einer interessanten Zeit. So auch Sie, wenngleich Ihre Generation nicht die Erfahrung der unsrigen und der älteren hat durchstehen müssen. Ich wünsche Ihnen diese auch nicht. Nur wachhalten möchte ich Ihr Bewusstsein dafür, dass die Menschheit aus den furchtbarsten Katastrophen ihrer Geschichte noch immer nicht zu lernen bereit ist. Wie anders konnten wir in den vergangenen Tagen und Wochen die Absurdität der Worte eines – so nennt er sich – Staatsmannes begreifen, der sein Volk und die arabische Welt zum Kampf aufstachelte und sich nicht schämte, vor aller Weltöffentlichkeit die Vernichtung des Staates und die Ausrottung des Volkes zu fordern, das vor noch nicht Generationsfrist den schrecklichsten Blutzoll seiner über dreitausendjährigen Geschichte in deutschen Konzentrationslagern und Gaskammern hat zahlen müssen. Und wenn ein so in seiner Existenz bedrohtes Volk zur Notwehr gezwungen ist (wir spüren hier die tragische Problematik), darf sich eine mächtige Nation vor aller Welt hinstellen und Israel bezichtigen, es überfalle im Sinne „zionistischer Weltverschwörung“ und in der Manier Hitler-Deutschlands die friedlichen arabischen Nationen. In solchen Situationen haben Sie dann ein feines Gespür, mit wieviel Heuchelei und Verlogenheit in unserer heutigen Politik Machtpositionen gehalten werden sollen.
Setzen Sie dagegen – gleich, wo Sie dazu später Gelegenheit haben werden – all Ihre Aufmerksamkeit über unser Tagesgeschehen und vor allem Offenheit und Anständigkeit im Denken! Haben Sie den Mut zur Offenheit, wagen Sie Offenheit immer dann, wenn Sie einem Denken und Handeln begegnen, das des Menschen unwürdig ist! Auch – wenn Sie es Freunden vorhalten müssen. Ja, ich denke hier an Vietnam: Bilder von brennenden Hütten unschuldiger, hilfloser Menschen, von zerrissenen Kindern, Frauen und Greisen sind des Menschen unwürdig! Neben der Verderbtheit unserer Welt haben wir nämlich eine Hoffnung: Wir können Schlechtes erkennen und uns bekennen zum Besseren. Wissen um die Wirklichkeiten unseres Weltgeschehens allein genügt nicht. Um unser Wissen zu nutzen, benötigen wir die bekennende Kraft unseres Geistes. Wollen wir Deutsche in der heutigen Welt mit die Beteiligten am Fortschritt der Menschheitsgeschichte sein, so müssen wir – um mit Jaspers zu sprechen – unserer mit „unwahrhaftiger Auffassung erfahrene Situation in Bezug auf unsere nächste Vergangenheit“ vor allem mit „Tatsachentreue und Urteilskraft“ begegnen. Wir brauchen – so sagt der Philosoph – für die „Redlichkeit unseres Selbstbewusstseins und unseres politischen Denkens“ ein neues Unterscheidungsvermögen von Wesentlichem und Unwesentlichem, ja, für unseren Anteil an der Geschichte sei „die Klarheit eines neuen Geschichtsbewusstseins“ entscheidend. Lassen Sie mich hierzu einige letzte kurze Anmerkungen machen.
Wenn wir aus den beiden letzten Jahrhunderten unserer Geschichte eine Erfahrung gewonnen haben, so diese: Wir sind am Ende unserer nationalen Geschichtsbilder angelangt. In der Welt wird heute in anderen Größenordnungen gedacht, nicht mehr in der engen Lokalhistorie eines Nationalstaates. Wir sehen heute unser Volk eingeordnet in einen größeren Funktionszusammenhang einer großräumig gegliederten Welt. Das zwingt uns zu Konsequenzen. Wir haben unser eigenes Geschichtsbild zu revidieren, und nicht nur das, sondern auch das Bild von uns selbst und unserer Rolle in der Geschichte. Dazu gehört auch das Bewusstsein von der Tragik unserer gegenwärtigen Situation. Wir überwinden sie aber nicht, wenn wir Wunschbilder einer Vergangenheit träumen, sondern nur, wenn wir nüchtern, aber zielbewusst an der Aufgabe der Zukunft bauen. Diese geht über Deutschland hinaus (ich sage absichtlich nicht „hinweg“) und heißt: Europa. –
Lassen Sie mich, meine Abiturienten, an dieser Stelle noch einmal Ihren alten Schulmeister spielen und Ihnen sagen: Herrschaften, politische Rückfälle in nationales Gebaren gleichen nur retardierenden Momenten eines Dramas, dessen Handlung den Tiefpunkt bereits hinter sich gelassen hat und nun aufsteigend der Lösung zueilt, wobei sie (die Rückfälle) selbst nur die Trittstufen, nicht die Setzstufen der steigenden Handlung darstellen.
Mit dem Bild der „Stufen“ möchte ich Sie, meine Abiturientinnen und Abiturienten, nun aus unserer Schule entlassen. Es möge Ihnen nach Ihrem Auszug Sinnbild sein für das Aufsteigende Ihres Lebens. Die Schlussworte über die Ausdeutung jenes Bildes von den „Stufen“ soll Ihnen ein Dichter mitgeben:
Stufen (Hermann Hesse)
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen;
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden:
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
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1.1.2 „Zwischen Aufbruch und Reise – Aus der Geschichte eines 25jährigen Gymnasiums“
, Osterholz-Scharmbeck,
17. Mai 1985 Festansprache: StD. Schikore
Liebe Schülerinnen und Schüler, für die diese Schule in erster Linie da ist, seid auch an Eurem Jubiläumstage zuerst begrüßt!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie jahrein, jahraus in erster Linie für die Schüler da sein sollen, weil zwischen Pflicht und Neigung der Pädagogik verschrieben, Ihnen gilt der nächste Gruß! Ich schließe in diesen Gruß zum Jubiläumstage mit aufrichtigem Dank der heute noch Tätigen auch diejenigen ein, die als unsere Pensionäre heute wieder unter uns sind – und auch denjenigen, die an diesem Tage nicht mehr unter uns weilen, sei still gedacht und gedankt, während wir in bunten Bildern 25 Jahre aus der Erinnerung wieder lebendig werden lassen.
Liebe Eltern, die Sie heute und während der vergangenen 25 Jahre zwischen Hoffen und Bangen den Werdegang Ihrer Kinder begleitet haben, manchmal der Schule gegrollt, oft doch auch der Schule Dank gezollt … liebe gute Geister aus Verwaltung und Säuberungsdienst, die Sie täglich unsere Arbeit organisieren helfen und vergessen machen, dass wir in einer Wegwerfgesellschaft leben – Sie alle seien als vom Jubiläum Betroffene begrüßt!
Werte Gäste von unseren Nachbarschulen am Ort, mit denen uns in all den Jahren Bildung und Schulung unserer Jugend verbindet … werte Gäste aus Kreistag und Kreisverwaltung, die Sie auf der nüchtern-materiellen Ebene des Schulträgers die sachlichen Voraussetzungen für unsere Arbeit geschaffen – und es manchmal doch so schwierig mit uns haben: Auch Ihnen allen gilt unser Gruß zum Jubiläumstage!
Und nicht zuletzt sei unsere Presse begrüßt: Erst durch sie hat sich unser eigentlich namenloses Gymnasium einen Namen gemacht, und ihre Mitarbeiter sind durch uns sicherlich nicht arbeitslos geworden. Zu einem guten Teil auf Ihre Arbeit greift heute der Chronist zurück, wenn er aus der Geschichte eines 25jährigen Gymnasiums „Aufbruch und Reise“ einer Schule skizziert.
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Gestatten Sie dem Chronisten, bevor er zum eigentlichen Thema kommt, zwei Vorbemerkungen: eine allgemeine über den Sinn eines Jubiläumsrückblickes von 25 Jahren und eine persönliche zum angenommenen Auftrag.
Zur ersten: „Geschichte… – sagte Jakob Burkhardt einmal - ist, was ein Zeitalter an einem anderen interessiert.“ Reichen dazu 25 Jahre? Sind wir nicht alle doch zu eingefangen, auch zu belastet von dem jungen Geschehen, das bildlich nach eingewohnter Tradition uns allenfalls einen „Silberlorbeer“ einbringt, wo wir doch so nach „Gold“ trachten? Hat sich eine Schule nicht erst dann den Anspruch auf einen würdigen Rückblick erworben, wenn sie auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken kann? Was interessiert unsere Mitwelt denn an unseren 25 Jahren? Dennoch – wir sind ja gerade erst der Anfang unserer Geschichte, wir stehen noch im „Aufbruch unserer Reise in die Vergangenheit“, wenn künftige Schülergenerationen aus ihrer Zeit Überlieferungswertes aus der unseren mit einer Elle messen, an der wir nur die ersten Messdaten und Maßeinheiten eingeritzt haben. Aber diese sind unauslöschlich, nur: Welche sind einkerbungswürdig?
Hier liegt der Grund zur zweiten Vorbemerkung, der persönlichen: Dem Chronisten fällt heute die fast unlösbare Aufgabe zu, aus der Fülle von Daten, Ereignissen, Notizen, aus Berichten und gelebten Erinnerungen diejenigen auszuwählen, die das Bild dieser Schule in eine Zukunft transmittieren (hinübertragen). Und dabei ist der Chronist doch direkt Betroffener, subjektiv Beteiligter. Was wählt er aus? Wie sagt er es der Nachwelt? Der Auftraggeber des Chronisten, die Gesamtkonferenz des Kollegiums, hat nach langer Diskussion über Sinn und Thema eines Festvortrages aus Anlass dieses Jubiläums entschieden, dass statt einer wissenschaftlich-theoretischen Abhandlung über die „Chancen eines Gymnasiums in heutiger Zeit“ das Gymnasium selbst, seine Menschen, die in ihm lernen oder lehren, die in ihm arbeiten, Gegenstand dieser Feierstunde sein mögen: Alltag, Leben gegen Theorie. Und die Konferenz hat in zweimaliger Abstimmung – das zweite Mal gegen Wünsche von außen – den Chronisten zum Berichterstatter gewählt. Diesem Votum des Kollegiums weiß sich der Chronist verpflichtet. Wenn bei der Auswahl der Bilder oder Ereignisse, die das Leben und Wirken dieser Schule charakterisieren, Erwartetes unerwähnt bleibt, Unerwartetes in den Rang des Erwählten oder nur Erwähnten rückt, wenn das gewählte Beispiel oder auch der Ton des Berichtenden auf der einen Seite möglicherweise Unmut, auf der anderen dagegen Zustimmung hervorrufen sollte, halten Sie es der Unzulänglichkeit alles Menschlichen zugute, der auch der Chronist unterworfen ist. Und sollte heute irgendjemand gar aus seinen Worten Kritik herauszuhören meinen: sie ist es nicht – allenfalls Kommentar aus Liebe zum Gegenstand.
Wer, ausgestattet mit den wissenschaftlichen Zeugnissen seines Fachbereichs, vor 20 Jahren oder mehr das Gymnasium in Osterholz-Scharmbeck voll pädagogischen Tatendranges, das hehre Universitätswissen auch in den entlegenen Gefilden niedersächsischer Moorlandschaft umzusetzen suchte, der hätte an der Stelle, wo wir uns heute befinden, nur eine feuchte Wiese vorgefunden. Er hätte vielmehr von dem nicht gerade zum Aussteigen einladenden Bahnhof aus die Bahnhofstraße in Richtung eines eigenartig beißenden Gestanks zu folgen brauchen, um in unmittelbarer Nähe dieser Geruchsquelle die ihm zugewiesene Lehranstalt zu entdecken. (Die heutige Pestalozzi-Schule gegenüber dem Hauptgebäude der Kreissparkasse.) Nachdenklich-zögernde Schritte führen den seine erste Dienststelle antretenden Neuankömmling über die Eingangsstufen des alten Backsteingebäudes in einen dunklen Flur zu einem Sekretariat von ca. 9 qm Umfang. Ein Stockwerk höher, in einem etwa 3 qm größeren Raum, dem Direktorenzimmer, dann die Vereidigung. Die Reiswerke sind selbst hierbei unüberriechbar gegenwärtig. Doch hören wir – schon zwei Jahre später, im Frühjahr 1965 – eine Schülerin der 10. Klasse über unser erstes Domizil:
„Das Gymnasium, das aus zwei großen Backsteingebäuden besteht, hat einen für die ständig zunehmende Schülerzahl viel zu kleinen Schulhof, der weder gepflastert noch bewachsen ist und bei jedem Schritt riesige schwarze Staubwolken aufwirft … Die altmodischen Räume, oft viel zu klein für die Zahl der Schüler, haben zwar meistens vier, jedoch viel zu kleine, unmoderne Fenster … Der Fußboden ist ölig und staubig … der dunkle und sehr kalte Raum (der Turnhalle) erregt vor allem bei den sowieso schlechten Sportlern nicht die geringste Lust zum Spielen und Turnen … In den winzigen Waschräumen befindet sich wohl ein kleines Waschbecken, doch Seife ist dort nicht zu finden, und das Handtuch, sorgsam am Haken festgenäht, sieht aus, als habe es schon zur Zeit unserer Eltern dort gehangen … Nun, da ich versucht habe, den Zustand der Schule so klar wie möglich zu beschreiben, muss ich noch auf die Lage des Gebäudes zurückkommen. Es steht direkt neben einer Fabrik, die sich durch schlechte, abstoßende Gerüche und aufschreckendes Tuten und Pfeifen bemerkbar macht und dadurch Schüler und Lehrer aus tiefem ‚Schlaf‘ oder konzentrierter Erklärung stört.“ Soweit die Schülerin. Bemerkenswerte Beobachtungen.
Und ist es nicht zu verstehen, dass jener Neuankömmling, von dem oben die Rede war, mehr als nur laut dachte: „Hier bleibe ich nicht länger als ein Jahr.“ Und heute ist es schon das 23.. Waren es die Menschen? War es die Aufgabe? War es der Reiz des Aufbruchs mit jungen Menschen zu gemeinsamer Arbeit, zu einem gemeinsamen Ziel? Wer kannte damals schon den Weg?
Das Gymnasium Osterholz-Scharmbeck ist das Kind einer Fragebogenaktion. „Die Initiative …– so berichtete das OSTERHOLZER KREISBLATT – …ging nicht von den Kommunalbehörden aus, sondern von der Bevölkerung. Die parlamentarischen Körperschaften verhielten sich eher ablehnend.“ Und auch die Begründung von damals mag uns Heutigen fast unverständlich erscheinen, wenn wir der ebenfalls im OK festgehaltenen Stellungnahme zweier Kreistagsabgeordneter aus öffentlicher Sitzung unsere Aufmerksamkeit leihen: „Wir brauchen keine Oberschule; denn dann wird es noch schwieriger, junge Leute als Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu erhalten.“ Und die zweite Äußerung: „Wenn im Landkreis Osterholz jemals genügend Schüler für ein Gymnasium zusammenkommen, dann will ich Meier heißen… (und dieses Zitat soll nach Ohrenzeugen noch weiter lauten) …und einen Besen fressen.“ Müssen wir in dem ersten Falle nicht an die Zeit von damals denken: zehn Jahre nach Kriegsende? Und spiegelt sich im zweiten Falle etwa die Einstellung eines späteren Oberprimaners vom Alten Gymnasium in Bremen wider, der nach der Eröffnung unserer Tore in der Bahnhofstraße eher mitleidig und von sich überzeugt gegenüber unserem ersten Schulleiter meinte, ob er wirklich glaube, dass „Ärzte, Juristen oder Ingenieure ihre Kinder in dieses sogenannte Gymnasium schicken“ würden? – Kein Kommentar des Kommentars.
Doch die 1955 ins Leben gerufene „Interessengemeinschaft zur Gründung einer Oberschule“ sammelte überall im Landkreis Stimmen für ihr Vorhaben und fand auch schließlich Gehör: beim Rat der Stadt Osterholz-Scharmbeck. Dieser beschloss im Dezember 1958, die Schulträgerschaft für das Gymnasium zu übernehmen und ihm nach Fertigstellung der Mittelschule in der Lindenstraße (heute Orientierungsstufe) die beiden Gebäude in der Bahnhofstraße zu überlassen. Am 21. April 1960 eröffnete das Gymnasium für 72 Schüler und zwei Klassen, einer 5. und einer 7., mit zwei Lehrern seine Pforten. Mir sei erlaubt, hier die beiden Namen zu nennen: Herr Schirmer als federführender Schulleiter, Frau Roth als Allround-Studienrätin. Das war vor 25 Jahren! Die Vorgeschichte des Gymnasiums ist beendet, es beginnt seine Geschichte. Die erste Kerbe ist eingeritzt in der Messlatte unserer Arbeit.
Der Aufbruch mag zaghaft gewesen sein, voller Bedenken, voller Skepsis, ob das begonnene Unternehmen nicht doch als zweifelhaftes Experiment abgebrochen werden musste. Die Skeptiker wurden widerlegt: Im zweiten Jahre waren wir 148 Schüler in 4 Klassen, 1962 225 Schüler in 7 Klassen, 1963 283 Schüler in 10, 1964 367 Schüler in 13, 1965 477 Schüler in 16 Klassen. Dies ist der Zeitraum unseres Wirkens in der Bahnhofstraße. Das OK kommentiert jene Entwicklung 1965 mit folgenden Worten: „Die bisherige Geschichte des Gymnasiums Osterholz-Scharmbeck ist geradezu faszinierend … Inzwischen sind es 16 Klassen mit 480 Schülern geworden, bald werden es 26 Klassen mit 700 Schülern sein.“ Hatte man sich damals schon wieder verschätzt? Doch – greifen wir den Ereignissen nicht voraus, beschließen wir den ersten und auch sehr wichtigen Abschnitt unserer Reise in die Zukunft, die schon hinter uns liegt, mit einigen Gedanken über unsere Hinterlassenschaft.
Widerlegt waren die Skeptiker aus der Gründungszeit durch die Bereitschaft der Eltern, nicht nur das Bildungsangebot auf dem flachen Lande anzunehmen, sondern auch unserer Arbeit wohl überwiegend zu vertrauen: Sie schickten ja schon ihre Zehnjährigen zu uns. Und wie schnell kann da ein junges Menschenherz beschädigt werden! Und stellen wir uns ehrlich der Frage: Habt ihr nicht manchmal Gerechtigkeit mit dem Rotstift gesucht, wo ein Wort hätte gesprochen werden sollen? Wer kann im Nachhinein noch helfen? Sie sind nun alle groß geworden, die damals unsere Schüler waren und haben ihre Kinder heute wieder bei uns. Arbeit an Generationen ist schön, aber verpflichtet im Beispiel – ich scheue das Wort ‚Vorbild‘. Wir kannten uns alle damals und konnten doch ausgleichen, wenn unterschiedliche pädagogische Temperamente dem einen oder anderen wehgetan. Gemeinsam haben wir alle – Schüler wie Lehrer – die widrigen äußeren Umstände bestanden und mit Elan uns unsere oft belächelte Welt erschlossen – geistig und in von Jahr zu Jahr zunehmender bewusster Auseinandersetzung mit dem Alltag. Schulalltag ist anders, als die beste Theorie uns glauben machen will.