Kitabı oku: «Der letzte Ball», sayfa 4
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In einer schier endlos scheinenden Schleife ging es achtern und bugwärts, mittschiffs, Richtung Steuerbord und Backbord, nach Lee und nach Luv, treppauf, treppab durch alle Klassen, vorbei an Fluren, Sälen, Maschinenräumen, Kombüsen, Lagern, Wäschesälen, Vorratszimmern, Billardsalons, Musiksälen, Krankenzimmern, Navigationsräumen, Gepäckablagen, Kohletendern, Brennkammern, Raucherzimmern, Badesälen, Kartoffellagern, Bibliotheken, Kommandobrücken, Luxuskabinen, Emigrantenschlafräumen, Offiziersmessen, Belüftungsschächten, hell, dunkel, sonnenüberflutet, schattig, düster, oberdeck, unterdeck, kreuz und quer, durch enge Gänge und breite Hallen, langsam, bedächtig, hastig, schreitend, stolpernd, staunend, lachend, entnervt, launig, erfreut, summend, schweigend, suchend, immer suchend nach der nächsten Überraschung, dem nächsten Grund zu staunen und zu schwelgen, zu träumen und zu schwärmen. Doch diese Reise durch das Innenleben des Dampfers, in Smeraldas Kopf seit diesem Tag mit all jenen Attributen verankert, soll ausführlicher beschrieben werden, da sie tatsächlich bemerkenswert und ebenfalls von Bedeutung für den weiteren Verlauf der Geschichte ist.
Giovanni hatte sich zunächst vielbedeutend umgesehen, was deutlich zum Ausdruck bringen sollte, wie groß das Risiko war, das er für Smeralda einzugehen bereit war. Dann schritt er, den Putzeimer samt Feudel in eine Ecke schiebend, breitbeinig den Gang hinab, wobei die weiten Ärmel seines weißen Matrosenhemdes im Wind flatterten. Smeralda fühlte sich zehn Jahre jünger, als sie als Mädchen dem dunkeläugigen Enrico die matschige Gasse hinauf gefolgt war, weil er ihr die Leiche eines geköpften Frosches zeigen wollte. Gespannt war sie vorbei an Holzverschlägen in Richtung Feld gegangen und hatte ihn dann als Bezahlung auch die Ansätze ihrer mädchenhaften Brüste ertasten lassen, stolz, dass er daran Interesse gezeigt hatte und dennoch voller Scham, als er über sie gelacht hatte, da sie ihm zu klein schienen. Enrico hatte ein Jahr später Maria aus der Nachbarschaft geschwängert und war in die Stadt gegangen, um dort für seine Familie sorgen zu können. Niemals, so dachte Smeralda, wirst du so viel verdient haben wie ich. Und niemals wieder wirst du so volle Brüste berührt haben, wie ich sie jetzt habe.
Sie begannen ihre Reise auf dem A-Deck, gingen die Promenade backbord entlang und traten in einen dunklen Raum ein, der sich als eine Vorratskammer herausstellte. Wobei Kammer wohl der falsche Begriff war. Der Raum ähnelte in der Größe eher Smeraldas eigener Kabine. Von der Decke hängende Zwiebelstrünke streiften Smeraldas Schulter, als sie an Wandschränken vorbeiging, die mit allerlei Konserven, mit Gemüse gefüllten Eimern und Obstsäcken gefüllt waren, Kartoffelkisten umrundete und anschließend in einen weiteren Raum mündete, der ungefähr die doppelte Größe hatte und mit vier Tischreihen ausgestattet war, die von nicht mehr ganz jungfräulichen weißen Decken belegt waren. Giovanni hatte sich zunächst vorsichtig vorgearbeitet, indem er vom runden Fenster in der Tür vorsichtig in den Raum gespickt hatte. Ein mittelalter Mann mit weißer Schürze zog von einem Tisch eine Tischdecke fort. Er rief Giovanni etwas auf Italienisch zu, was diesen dazu brachte, aus seinem Versteck hervorzukommen. Die beiden unterhielten sich lautstark und der Schiffsjunge deutete Smeralda mit einem Winken an, ebenfalls den Raum zu betreten. „Die Offiziersmesse“, kommentierte er. Als der Mann mit der Schürze, klein, mit strubbeligen schwarzen Haaren, Giovannis Begleiterin sah, verbeugte er sich kurz und nuschelte etwas, das wie „Signora“ klang. Dann wies er Smeralda mit einer schnellen Handgeste an, an einem der Tische Platz zu nehmen. Sie schaute Giovanni an, welcher mit den Schultern zuckte und sich setzte. Also tat Smeralda es ihm gleich. Kurz darauf kam der Beschürzte mit einem dampfenden Metallkännchen zurück, das den unwiderstehlichen Duft von Kaffee verbreitete. Er setzte noch mit Goldrand verzierte Kaffeetassen ab, sagte etwas, verbeugte sich und ging. Giovanni rief ihm im Gehen hinterher.
„Was hat er gesagt?“, wollte Smeralda wissen.
„Ach …“
Nun wurde Smeralda neugierig. „Nun?“
„Er hat Unsinn geredet. Er wünschte mir Glück bei meinem ersten Rendezvous.“ Giovanni schaute betreten auf den Tisch, während Smeralda lachte.
„Dann wollen wir unser erstes Rendezvous doch genießen, oder?“ Und so saßen sie beide da und tranken, bis Giovanni die Stille unterbrach.
„Wenn Cavesi mich hier erwischt, bin ich dran“, murmelte er vielsagend.
„Ach, dieser Cavesi. Du magst ihn wohl nicht, oder?“
Giovanni schaute auf. „Er ist verrückt. Das ist er. Und das ist der Grund, weshalb ich ihn nicht mag.“
„Nun, er scheint ja auch Schwierigkeiten mit dem Kapitän zu haben. Ich habe erlebt, wie er gestern aus dem Dinnersaal rausgeworfen wurde.“
„Der Käptn‘ is’n feiner Kerl“, kommentierte der Schiffsjunge. „Aber seit dem Streit zwischen den beiden ist Cavesi noch unausstehlicher. Und er war schon vorher nicht zu ertragen.“
„Was hast du denn gegen ihn?“
Giovanni antwortete nicht. Er schien mit sich zu ringen.
„Ist es seine politische Meinung?“
Giovanni blickte auf. „So kann man es auch nennen. Der Mann ist fanatisch. Ein völlig blinder Eiferer.“
„Aber warum stört dich das? Soll er doch glauben, was er will.“
Wieder druckste Giovanni herum und senkte sich tief in seine Tasse, um seine Gedanken zu verbergen. Schließlich, nachdem er sie mit einem halb schmatzenden, halb klirrenden Geräusch abgestellt hatte, legte er seine Hände auf dem Tisch zusammen und antwortete.
„Er ist wie meine Mutter.“
„Wie?“
„Sein Wahn. Seine Liebe und Unterwerfung. Meine Mutter ist genauso.“
Smeralda schaute ihren Gegenüber an. Sie verstand nicht ganz, was der Schiffsjunge sagte, aber aus irgendeinem Grund spürte sie tiefes Mitgefühl.
„Ich komme aus einem kleinen Ort in der Nähe von Genua. Meine Eltern sind einfache Menschen, wissen Sie? Mein Vater fährt jeden Tag aufs Meer raus, damit wir über die Runden kommen. Ich bin mitgefahren, seit ich sechs bin. Aber meine Mutter arbeitet nicht mehr.“ „Sie passt sicher auf die Kinder auf?“
„Nein, meine zwei älteren Geschwister sind alle schon weg, so wie ich. Die Kleine ist zuhause. Aber Mama kümmert sich nicht um sie.“
„Sondern?“
„Sie schreibt Briefe. Mehrere täglich. Sie sitzt am Küchentisch vor einem Foto unseres Duce und schreibt, wie sehr sie ihn verehrt und dass sie ihn noch einmal sehen will.“
„Noch einmal?“
„Ja, sie war einmal bei einem dieser Aufmärsche. Stand in vorderster Reihe. Und rausgeputzt war sie. Wie ein Panettone in der Weihnachtszeit. Kreischte und winkte. Wir anderen, Papa, Beppo, Giuliano, Camilla und ich, standen weiter hinten, aber sie ist irgendwann mal nach vorne gestürmt. Mussolini hat ihr zugewunken. Nachdem er auf seinem großen schwarzen Gaul vorbeigeritten ist, kam später ein Mann in einer schicken Uniform und hat meine Mutter gefragt, ob sie eine Privataudienz bei ihrem Duce del Fascismo haben wolle. Sie drehte sich kurz um und rief uns zu, dass sie nun den Duce sehen werde und weg war sie. Wir haben noch bis zum Abend vor dem Palazzo gewartet, dachten, sie müsse ja nun rauskommen. Tat sie aber nicht. Wir haben den letzten Zug zurück genommen. Am nächsten Tag kam sie am Nachmittag zurück, ganz aufgelöst, mit roten Wangen und einem abwesenden Blick. Danach hat sie meinen Vater noch mehr verachtet als vorher. Also ging er noch früher zum Fischen, kam noch später nach Hause, in der Hoffnung, mehr zu fangen und somit ihr Herz zurückzugewinnen. Aber ihr Herz hängt an einer Erinnerung und einer Fotografie, die in ihrer Kommode steht.“
Smeralda umfasste mitfühlend Giovannis Hände. „Du Armer. Das tut mir leid.“ Er blickte sie an. Und fuhr fort:
„Das Schlimme ist: Ein Teil von mir kann sie verstehen. Wir sind immer arm gewesen. Etwas, das Sie sich nicht vorstellen können, Señora. Aber wenn man immer mit Hunger im Bauch aufwächst, dann zermürbt einen das. Und was wäre, wenn der Duce uns tatsächlich ein besseres Leben geben könnte? Wenn es die Bolschewisten und die Royalisten wären, die das ganze Unglück über uns bringen. Und die Juden? Und die Neger? Ich verstehe das alles nicht, Señora. Aber wenn mir jemand einen Traum gäbe, der mir ein besseres Leben verspricht, einen Traum, der mich zu einem besseren Menschen macht – ich weiß nicht, ob ich ihm nicht auch verfallen würde. Und vielleicht ist dieser Duce ja genau der Mann, der das macht. Der besondere Mann.“
Smeralda streichelte einmal über die zusammengefalteten Hände des Schiffsjungen und ließ sie dann los. Sie blickte ihn scharf an, als sie sagte: „Meine Erfahrung, Jungchen, ist, dass Männer sich nicht so groß voneinander unterscheiden. Es kann sein, dass dieser Duce ein ganz toller Kerl ist. Es kann aber auch sein, dass er nur besonders hungrig ist.“
Die Kommandobrücke hatte etwas Überirdisches. Smeralda stellte sich so das himmlische Wolkenzimmer vor, in dem Gott saß und auf die Welt herabschaute. Der Raum zog sich fast über die gesamte Breite des Schiffes und lag so hoch, dass man vom Schiff selbst, wenn man am hinteren Ende der Brücke stand, nur noch die Spitze des Bugs sah. Während man nach vorne durch eine nicht enden wollende Glasscheibe, die nur von der Kommandostation in der Mitte unterbrochen wurde, in die Weite schaute, war die Hinterseite seltsam unspektakulär weiß. Lediglich ein Rettungsring mit dem Namen der Conte Verde und eine aufgemalte italienische Flagge prangten von dieser Wand. Ein Mann stand einsam vor dem Schaltrelais in der Mitte des Raumes und starrte nach draußen, verklärt und träumerisch. Er schien die beiden Gäste gar nicht zu bemerken. Erst als sie die Hälfte des Wegs auf ihn zu gemacht hatten, drehte er seinen Kopf und schaute sie an. Giovanni salutierte und erklärte: „Signora wünscht eine Führung durchs Schiff.“ Der Kapitän nickte. „Freut mich, Sie wiederzusehen, Signora Cortazar. Sie haben sich genau den richtigen Führer ausgesucht. Giovanni kennt jede Ecke unseres Dampfers und wird all ihre Fragen gewissenhaft beantworten können.“
Smeralda lächelte. „Sie sind zu gütig, Capitano.“
Er lächelte seinerseits und nahm ihre Hand, um einen Kuss anzudeuten. „Nennen Sie mich Amedeo.“
Smeralda errötete. Sie sah in das kantige und dennoch zart wirkende Gesicht des Kapitäns und blickte schnell wieder nach vorne, auf die vielen Anzeigen auf den Armaturen. Ein helles Licht schien alles in eine erhabene Dämmerigkeit zu tauchen und sie spürte das eine Gefühl aufsteigen, das sie auf der ganzen Hinreise von Montevideo bis nach Genua und bis zum heutigen zweiten Tag ihrer Rückreise gekonnt vermieden hatte.
Sie war gekleidet wie eine feine Dame, ihr enganliegendes Glasbatist-Jackenkleid aus Flamenga war verziert mit feinen Bändchen, Schleifchen, kleinen Krausen und Falbeln. Auf ihrem Kopf trug sie eine dunkelblaue Toque, die ihr wellendes blondes Haar nur ansatzweise verdeckte. Sie wusste, dass sie umwerfend schön war, dass ihr rundes, weiches Gesicht, in dem der volle rote Mund und die großen, dunklen Augen hervorstachen, die Männerwelt in Verzückung versetzte. Aber sie wusste auch, dass jeder an Bord wusste, dass sie alleine reiste. Und daher war ihr ihr Beruf auf die Stirn geschrieben. Jedem war klar, was sie war. Und das Gefühl, das sie sonst mit ihrem üppigen Lebensstil vertreiben konnte, die Scham, die sie, seit sie von zuhause fortgerannt war, wie ein unangenehmer Freund begleitete, übermannte sie hier auf der Brücke im Angesicht eines Mannes, der wie die Reinheit in Person wirkte.
Also hörte sie gar nicht richtig zu, als der Kapitän ihr die Armaturen erklärte, den Radar und die Kraft der Maschinen lobte, als er über die Schwierigkeit sprach, die Orientierung auf wilder See zu behalten und die noch größere Schwierigkeit, eine Mannschaft zu führen.
„… durch die Dampfturbinen mit doppelter Reduktion erreichen wir eine Geschwindigkeit von über 18 Knoten und das bei über 18.000 Bruttoregistertonnen.“ Pinceti schaute ihr erwartungsvoll ins Gesicht und Smeralda schaltete ihr angelerntes Lächeln an. „Das ist faszinierend, Kapitän.“
„Es tut mir leid, Signora. Ich langweile Sie hier mit technischen Daten, während Sie sich lediglich das Schiff ansehen wollen.“
„Nein, nein.“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Mir tut es leid. Ihr Vortrag war sehr interessant. Und es ist sehr freundlich von Ihnen, mir Ihre wertvolle Zeit zu opfern.“ Es kam nicht oft vor, dass ein Mann durch ihre Maske von aufgesetzter Freundlichkeit schaute, was sie zusätzlich verstörte.
„Giovanni. Zeig der Dame unser Schiff. Und lass dich nicht von einem anderen Langweiler wie mir aufhalten.“ Giovanni nickte devot und Smeralda fiel keine passende Antwort ein, mit der sie dem Kapitän versichern konnte, dass er sie keineswegs gelangweilt habe, und so machte sie einen unbeholfenen Knicks und folgte dem Schiffsjungen.
Die frische Luft tat ihr gut. Die Seebrise, die sich erfrischend auf ihr Gesicht legte, schien sie von ihrem schlechten Gewissen reinzuwaschen und so schob sie mit geschlossenen Augen die Hand am kühlenden Geländer nach unten. Sie hörte Stimmen in verschiedenen Sprachen, die sie nicht verstand, das dumpfe Geräusch von hölzernen Shuffleboardscheiben, die über den Boden zischten, das unendliche Rauschen des vom Schiff in zwei Teile geschnittenen Meeres, und das leise, monotone Dröhnen des Dampfmotors.
Die Dunkelheit im Raum, den sie betraten, war wie ein scharfer, schmerzhafter Schock. Es war auf eine seltsame Art still in diesem Raum und als Smeralda sich an die Schwärze gewöhnte, nahm sie bleiche Gesichter wahr, die sich ihr zuwandten. Jetzt wurde ihr klar, weshalb sie die Stille als sonderbar empfunden hatte: Man hörte das geschäftige Klappern von Besteck auf Tellern, das Knarren von Stühlen, das Kreischen von Messern auf Porzellan, aber keine Stimmen. In einem Raum, der außergewöhnlich klein und beengend wirkte, waren Tische in Reihen aufgestellt, an denen zusammengepferchte Menschen ihr Mittagsmahl einnahmen. Mütter saßen mit Kindern auf ihrem Schoß neben ihren Männern, Schwestern, Brüdern, Cousins und Cousinen (ältere Menschen konnte Smeralda nicht ausmachen), während in Anzügen gekleidete Herren mit pomadigen Haaren eifrig ihre Suppe löffelten. Der Raum wurde nur von schalen Bullaugen erhellt, als blickten die Götter voller Mitleid auf das Treiben der Menschen. Von einem Stahlträger, der sich an der Decke durch die Mitte des Raumes zog, hingen die Kopfbedeckungen der Männer: Seemannsmützen mit Schirm, Herrenhüte oder Schiebermützen. Die Decke war im Vergleich zu den prachtvollen Sälen oben recht niedrig. Ein großer Mensch musste aufpassen, dass er sich an den Stahlträgern nicht den Kopf stieß. Ein paar Flaschen Wein (alle leer) standen auf den Tischen. Die Menschen an der Tischreihe, die sich direkt vor Smeralda auftat, blickten sie schweigend an, was Smeraldas eben noch in den Hintergrund tretendes Unsicherheitsgefühl erneut verstärkte. Giovanni hatte sich still und leise neben die Tür gestellt. Nun sagte er: „Der Essenssaal der Emigranten.“ Erst jetzt bemerkte Smeralda einen Mann in vorderster Reihe, der sie auf eine etwas zu direkte, fast wahnsinnige Art anstarrte. Seine glühenden Augen, die von einem hellen Gesicht mit schwarzen, zurückgekämmten Haaren eingerahmt waren, wollten sie durchbohren. Dazu grinste er, als kennte er ein Geheimnis, das sie miteinander teilten. Smeralda lächelte unsicher, machte einen ebenso unsinnigen wie unischeren Knicks und stolperte hinterrücks aus der Tür heraus. Ein Windstoß von der Seeseite ließ ihren Hut etwas nach vorne rutschen.
„Giovanni“, schimpfte sie, „du kannst doch diese Menschen nicht einfach so beim Essen stören.“ Fühlte sie sich ertappt und zu plötzlich an ihren eigenen Hintergrund erinnert?
„Tschuldigung, Señora. Dachte, Sie wollten alles sehen“, erklärte der Gescholtene. Sie atmete durch. „Nein, ist schon recht“, erwiderte sie dann. „Zeig mir nur alles. Man darf keine Seite des Lebens ausblenden. Entschuldige. Die Luft war nur ausnehmend schlecht da drin.“ „Ja“, antwortete ihr Führer, „der Essensraum der Emigranten.“
So gingen sie direkt weiter hinab in die Untiefen des Schiffs und landeten, so war es ihr Wunsch gewesen, im dunkel pochenden Herzen des Monsters: dem Maschinenraum. Als sie in der Mitte des Schiffes eine dunkle Treppe hinabgestiegen waren, die nur vom vereinzelten Funzeln flackernder elektrischer Leuchten erhellt wurde, kamen sie an eine schwere Eisentür, die mit nichts außer einem seltsam fein gerundeten Metallhebel, den man zum Öffnen wohl herunterdrücken musste, verziert war. Allerdings bediente sich Giovanni keineswegs dieses Hebels, dessen abgegriffene Oberfläche sich vom metallischen Grün der Tür abhob, sondern er nahm eine auf dem Boden liegende Rohrzange, um damit gegen die Tür zu schlagen. Das Dröhnen der Schläge setzte sich auf gespenstische Weise von der Monotonie des einschläfernden Brummens des Motors ab. Smeralda schauderte. Nach ein paar Momenten schob sich die schwere Tür nach außen und zwei große Augen blickten von unten auf sie herauf. Ein kleiner Mann im mit schwarzen Flecken verdreckten Unterhemd und einem Tuch um den dürren Hals blickte sie an und lächelte dann ein trauriges Lächeln. Sie gingen an ihm vorbei und sahen, dass hinter der Tür ein weiterer fast auf komische Weise gegensätzlicher Mensch stand, der die Tür aufgedrückt haben musste. Er war doppelt so groß wie sein kleiner Counterpart und dreimal so breit. Seine schwarzen Haare korrespondierten gemäldehaft mit den buschigen Augenbrauen, den hervorsprießenden Bartstoppeln und den haarigen Armen, die das ebenfalls deutlich fleckige Unterhemd zu sprengen drohten. Am schwärzesten aber waren seine Augen, die nicht unfreundlich, aber zumindest unheimlich im künstlichen Licht des Raumes leuchteten. Beide Seiten des kleinen Ganges, auf dem sie nun standen, waren mit demselben Metall besetzt, das sich, je weiter sie nach unten gewandert waren, wie eine wuchernde Pflanze immer mehr auszubreiten schien. Das Metall schien sich sogar auf die Haut der Männer, die hier unten ihr Dasein fristeten, übertragen zu haben – derselbe Glanz ging von den grünlich bleichen Gesichtern der zwei Männer aus.
Giovanni sah wohl keine Veranlassung, den Maschinisten seinen Gast vorzustellen, noch schienen diese zu erwarten, das Eindringen in ihr düsteres Reich erklärt zu bekommen. Sie schlappten zurück den Gang herab, der an einer mit eisernem Geländer ausgestatteten Brücke endete. Hier gingen sie jeweils in gegensätzlicher Richtung einen weiteren vergitterten Gang hinab, welcher wiederum an einer Schaltwand endete, die mit blinkenden Konsolen, Thermometern, Druckmessern und Schalthebeln verziert war. Als Smeralda auf die Brücke trat, sah sie unter sich die ölige Wucht eines sich unendlich drehenden Gewindes, das schnaufende Geräusche machte. Unsicher blickte sie Giovanni an, der sich neben sie gestellt hatte und ebenso fasziniert wie sie auf die überdimensionalen rotierenden Bolzen hinabschaute. Dann nahm sie sich ein Herz und ging auf den Riesen zu, der neben der linken Konsolenwand stand und ins Nichts blickte. Sie winkte den Schiffsjungen zu sich heran, damit dieser übersetzen solle. Nach einigem Geschrei hin und her, raunte der Riese: „Dampfpropeller“. Wie er denn angetrieben werde, wollte Smeralda wissen, die nicht wirklich ein Interesse an den technischen Feinheiten hatte, allerdings das Gefühl hatte, die monotone Arbeit der Männer würdigen zu wollen. „Diesel oder Kohle“, bekam sie zu hören. Im Normalfall nutze man Diesel, im Notfalle könne aber auch mit Kohle erhitzt werden. Ein Dampfmotor mit doppelter Dämpfung, wurde sie noch informiert, das würde die Umsetzung der Kraft optimieren.
Bevor sie gingen, sah Smeralda die offene Tür im Gang, durch den sie gekommen waren, hinter der sich ein Schlund voller Kohle auftat – an der Wand hingen an Haken eiserne Schaufeln. „Der Kohleraum“, klärte Giovanni sie auf. Smeralda erschreckte sich, als sie neben sich den kleinen, hageren Mann stehen sah, der mit rußschwarzen Fingern auf den riesigen Kohlehaufen deutete und etwas für sie nicht Verständliches in das übertönende Ächzen der Maschinen krächzte. Wieder half Giovanni beim Übersetzen. „Er sagt, dass diese Kohle hier für den Notfall genutzt wird. Im Normalfall wird der Motor vom Diesel angetrieben. Sollte der flüssige Treibstoff aus irgendeinem Grunde ausgehen, kann man aber auch mit Kohle heizen.“
„Aber dazu bräuchte man doch unglaublich viele Tonnen Kohle“, warf Smeralda ein, die nur die ersten Ausläufer eines schwarzen Bergs gesehen hatte. Die roten Augen des kleinen Mannes verengten sich zu Schlitzen, als er sie mit gelben Zähnen angrinste und etwas sagte, das Giovanni mit ebensolcher Freude übersetzte. „Der gesamte untere Teil des Schiffes besteht nur aus drei Arten von Räumen.“ Des kleinen Mannes Augen glänzten, während er Smeralda anstarrte. „Dem Maschinenraum, in dem wir stehen, den davor gelagerten Kohle- oder Tankräumen, und den zwei Brennräumen, die in den zwei riesigen Schornsteinen enden, die durch das Schiff nach oben ragen. Der gesamte Bauch des Schiffes – drei Stockwerke – ist also voller Kohle oder Diesel.“
„Faszinierend“, sagte Smeralda, als sie die schwere Eisentür hinter sich wieder verschlossen hatten und sie leicht verängstigt an sich herabblickte, jedoch keine dunklen Stellen an ihrem Kleid feststellen konnte. „Wer sind die beiden?“
„Das sind Pupo und Trampolini. Das sind echte Legenden“, erklärte Giovanni nicht ohne Stolz. Smeralda nickte. „Sind die den ganzen Tag da drin?“, fragte sie. „Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Sie kommen noch nicht einmal zum Essen heraus. Das wird ihnen gebracht.“
„Schlafen die denn etwa auch da drin?“
„Aber nein, Señora.“
„Na, Gottseidank. Das wäre ja geradezu unmenschlich.“
„Die schlafen gar nicht. Vielleicht im Stehen oder so. Die haben zwar einen Platz in der Kajüte. Aber sie sagen, sie wollen die Maschine nicht im Stich lassen.“
Smeralda schaute Giovanni ungläubig an. „Was sagst du?“
„Die schlafen nicht.“
Smeralda dachte an die blutunterlaufenen Augen, mit denen sie der Kleine – war das Pupo oder Trampolini? – angeschaut hatte. Und jetzt, da Giovanni ihr diese absonderliche Tatsache mitgeteilt hatte, musste sie zugeben, dass sie die beiden schon innerlich mit einer gewissen Distanziertheit betrachtet hatte. Es war, als hätte sie bereits erkannt, dass sie ihre Menschlichkeit gegen eine Funktionalität eingetauscht hatten, die zwar auf den ersten Blick grausam wirkte, aber einer kalten Logik folgte. „Man kann nicht nicht schlafen“, sagte sie, als wolle sie sich an einem letzten Strohhalm festhalten. „Die können das“, erwiderte Giovanni mit einer Gelassenheit, die Smeralda etwas störte, wahrscheinlich, weil sie wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie in ähnlich unbeteiligtem Ton über die beiden reden würde. Als wolle sie sich selbst bestrafen, zwang sich Smeralda daher, weiter in den Untiefen der Maschine zu forschen, wie ein Arzt, der die Gedärme seines Patienten nach weiteren Krebsgeschwüren untersuchen muss.
Hinter den Maschinenräumen lagen die Schlafkabinen der Mannschaft. Dunkle Gänge mit ordentlich gemachten Betten reihten sich in der vom schwachen Licht durchbrochenen Dunkelheit aneinander. Am Ende des Schiffes lag ein erdig riechender Raum, in dem Smeralda zunächst auch Kohleberge vermutete. Es stellte sich aber heraus, dass dort der gesamte Kartoffelvorrat des Schiffs gelagert worden war. Am Paketraum vorbei gingen die Zwei aufs F-Deck, wo weiß gekachelte Waschräume für die Stewards lagen.
Smeralda merkte, dass sie nicht mehr aufnahmefähig war – als sei sie in einem Museum zu lange durch mit Gemälden behangene Korridore gelaufen. Und daher tat sie, was den allermeisten Frauen möglich zu tun war. Im Gegensatz zu Männern, die poltern, schimpfen, schlagen, quälen, zog Smeralda sich in ihre Kabine zurück, nicht ohne sich mit warmen, freundlichen Worten bei Giovanni zu bedanken, und – starrte. Der Sessel war einigermaßen bequem und sie blickte hinaus auf das vor ihr liegende Deck, auf dem sich ihr im Tageslicht lustwandelnde Passagiere offenbarten. Ein Mann mit kurzen Haaren, einem Schnurrbart und eine Frau mit zu Zöpfen geflochtenen Haaren, die ihr kleines Kind in ihren Armen trug, zwei seriös wirkende Herren in Anzügen, die in einer universalen Geste der Weisheit ihre Hände hinter ihrem Rücken verschränkt hatten, eine Horde trottender Fußballer (wieder einmal), eine Dame ganz in Weiß mit Schirm, ein eilender Steward mit zwei Küchenjungen, die ein Tablett auf Rollen übers Parkett schoben, ein mit traurigen Augen aufs Meer blickender Herr mit im Wind wehenden Haaren. Smeralda starrte. Und sie dachte nichts. Das war ihre Freiheit und ihr Privileg. Wenn andere müde waren, grummelig wurden, Ärger oder sogar Freude in ihren Eingeweiden verarbeiteten, starrte sie einfach hinaus auf das Schiff, das Meer, den Horizont, den unendlich blauen Himmel. Sie starrte so lange, bis sich die Dinge nicht mehr voneinander unterschieden, alles eins wurde, bis sie sich selbst nicht mehr wahrnehmen konnte. Und dann war es nur ein Hall aus der Außenwelt, der sie zurück in den tausendfach verlängerten Augenblick brachte, aber das war auch schon tausend Momente später. Und es war schade, dass das Wechselspiel von Gegensätzlichkeiten sie bald wieder eingeholt hatte.