Kitabı oku: «Eruptionen: Soldnia, Band 1», sayfa 3

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4.
Montag, 6. Januar

Es war ein recht stiller Montagmorgen, der sich über Kanzer gelegt hatte. Die Sonne ließ ihre kalten Strahlen zurückhaltend durch die graue Wolkendecke fallen, aus der es in der Nacht zu schneien begonnen hatte. Trotz der frühen Stunde und des ungemütlichen Wetters waren einige Menschen unterwegs, auf dem Weg zur Arbeit, der Schule oder dem Bahnhof, um zur nächstgelegenen Universität zu gelangen. Spaziergänger, die frische Morgenluft einatmen wollten, flanierten auf den verwobenen Straßen der Stadt. Am Flussufer schlenderten gedankenverlorene Träumer, mancher wohl ausgespien von der alkoholreichen Feier durch die Nacht, die den Sonnenaufgang noch mit ihren müden Augen funkeln gesehen hatten. Die kleine verwinkelte Gasse, die spät in der Nacht ein Treffpunkt des Lebens und der Bewegung gewesen war, lag nun verlassen und einsam im kalten Indigo des Morgens. Eine alte Gaslaterne mit einem gesprungenen Glas blakte über Joshua Melsons Schlafplatz in der vermodernden Gasse. Kleine Eiszapfen hingen von ihr herab und gaben dem Bild einen Hauch von schlummernder friedlicher Romantik.

Joshua Melson lag in Fötus-Stellung, zusammengekrümmt in derselben Nische, in der er am Abend zuvor weggetreten war. Ein kleines bräunliches Rinnsal schlängelte sich zwischen den Backsteinen am Boden, von der umgefallenen Flasche, die sich Joshua am Höhepunkt seines exzessiven Besäufnisses gekauft hatte, hin zu einem Gully am Rand der Straße.

Das erste was Marvin Celles auffiel, als er in die Gasse stapfte, war der beißende Geruch von Urin und Alkohol. Er konnte nicht genau erkennen, wie viele Teile der ekelerregenden Geruchskulisse von der erbärmlichen Gestalt ausgingen, die da vor seinen Füßen auf dem kalten, verdreckten Steinboden lag. Er ging in die Hocke, wobei seine Knie gefährlich knackten, und schaute sich Joshua Melson genauer an. Alles in allem hatte er ein Bild von einem Mann vor sich, der scheinbar ein Niemand war. Das Kinn war unrasiert und ein Teil der Wange mit getrocknetem Matsch bedeckt, genauso wie das verlotterte, ehemals weiße Hemd und die Krawatte. Die schwarze Hose an vielen Stellen aufgerissen und aufgeschürfte Knie lunzten vielsagend hervor. Trotz allem lächelte der Mann. Sein Brustkorb hob und senkte sich ruhig, sein Gesicht war mit einer Zufriedenheit besetzt, als läge er nicht auf kaltem Stein sondern einer wärmenden Matratze. Marvin erhob sich wieder, wobei diesmal auch sein Rücken stechend hörbar knackte. Er war keine Zwanzig mehr, das merkte er mit jedem Tag spürbarer, aber für sein Alter hatte er sich dennoch gut gehalten, konstatierte er selbstzufrieden. Ein Knacken hier und da machte ihm nichts aus. Vor allem nach der letzten Nacht konnte er froh sein, dass er sich noch so fit und lebendig fühlen konnte. Er hatte überhaupt nicht geschlafen diese Nacht und jene vielen zuvor … Er konnte von Glück reden, dass er überhaupt hier sein konnte. Lebendig. Den Gedanken verdrängte er eiligst, widmete sich wieder dem Hier und Jetzt. Zuerst musste er die Figur aufwecken, von der er annahm, dass sie der gesuchte Dr. Melson sei, dachte er sich und hustete sehr laut in seine Faust. Von Melson kam keine Reaktion. Also versuchte er es nochmals, diesmal etwas lauter und leicht über den Mann gebeugt. Er musste offensiver werden: „Ähäm, sind sie Dr. Joshua Melson?“, fragte er laut, wobei er jede Gesichtsregung von Joshua beobachtete. Nichts. Langsam verlor er die Geduld und versuchte es nochmals: „Dr. Melson? Sind sie Joshua Melson?“ Diesmal stupste er Joshua mit der Fußspitze leicht in die Seite, worauf dieser erschrocken zuckte und seine blutunterlaufenen Augen weit öffnete. Joshua sah aus wie ein verstörtes Tier, als er sich aufsetzte und sich ruckartig in alle Richtungen umblickte, bis sein Blick auf den Mann vor ihm fiel, der da wie ein Schrank das einströmende Sonnenlicht abblockte.

Bevor er realisierte, wo er überhaupt war, kam er nicht umher die mächtige Gestalt vor ihm genau zu mustern. Der Mann hatte eine Statur wie ein Stier, wirkte aber trotzdem nicht plump. Joshua versuchte zu begreifen, woher diese Assoziation kam und entschied sich dafür, dass es die beruhigenden, mintgrünen Augen waren. Er trug eine braune Lederjacke, an dessen Schulter buschiges Fell die Statur noch mehr unterstrich.

„Sind Sie Dr. Joshua Melson?“

Joshua war plötzlich völlig da und auf der Hut.

„Das kommt ganz darauf an“, sagte er und merkte, dass er mit seiner müden, halb lallenden Stimme nicht viel Eindruck erwecken konnte.

„Sie müssen sich keine Sorgen machen, wenigstens nicht um sich selbst. Ich muss mit Ihnen sprechen. Über Ihren Sohn Alexander.“

Joshua stützte sich an der Mauer ab, während er sich langsam aufrappelte und ein bisschen Dreck abklopfte. Ihm drehte sich alles, sein Kopf brummte und war so voller Gedanken, dass er den mysteriösen Mann sofort außen vor ließ und einfach weg torkelte. Die kalte Morgenluft nahm ihm fast den Atem. Er verschränkte die Arme und entfernte sich so schnell er konnte von den größeren Straßen, sich nur durch die verkommenen Gassen in Richtung seines Hauses fortzubewegen.

In der Aufregung und Kälte bemerkte er Marvin nicht, der ihm in jede Abzweigung mit schnellem Schritt folgte. An einer Straßenecke kürzte Marvin den Weg ab, um Joshua auf der anderen Seite den Ausgang aus der Gasse mit seinem ganzen Körper zu versperren: „Hören Sie mir zu, Dr. Melson, es ist unbedingt notwendig, dass Sie mir gut zuhören. Ich sage Ihnen, was ich Ihnen sagen muss und Sie sind mich dann sofort wieder los. Zumindest fürs Erste. Verstanden?“

Joshua gab seinen Widerstand auf. Er sah einen Weg, wie er den Störenfried loswerden konnte und ergriff sie: „Also erzählen Sie mir, was Sie so Wichtiges zu berichten haben. Aber machen Sie schnell! Ich möchte gern schleunigst nach Hause. Sie sehen ja …“

Marvin schaute sich kurz nach allen Seiten um und drückte Joshua dann vorsichtig zurück in die schattige Gasse, aus der er eben vergeblich treten wollte.

„Es geht um Ihren Sohn. Es tut mir Leid, wenn Sie es auf diese Art und Weise erfahren, aber ich weiß, dass er in -sagen wir – zwielichtige Aktivitäten verwickelt ist.“

Joshua schaute ihn misstrauisch an: „Ah ja. Und was sollen das für ‘zwielichtige Aktivitäten’ sein?“, wobei er seine Stimme leicht hob, ironisch wirken wollend.

„Alexander ist Mitglied in einer militärischen Organisation und leitet für diese seit kurzem eine Waffenfabrik.“

Joshua lachte schlecht gekünstelt auf: „Das meinen Sie doch nicht ernst. Bitte. Ersparen Sie mir weitere Geheimnisse. Ich kaufe nichts.“

Marvin Celles verlor die Geduld, packte Joshua hart an den Schultern: „Ich kann es Ihnen nicht erklären, nicht hier. Aber es ist wahr. Doch …, was viel wichtiger ist …“ Marcel ließ Ihn los und schaute zu Boden. Joshua wurde aufmerksam. Marcel blickte auf und direkt in Joshuas müde Augen. „Ihr Sohn ist höchstwahrscheinlich verstorben. Er wurde letzte Nacht in Netlar ermordet. Es tut mir Leid.“

Joshuas Blick wurde trüb und leer. Sein Inneres begann zu kochen. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte und was nicht. Das war jedenfalls zu viel für ihn. Es war das allgemeine Gefühl von Haltlosigkeit, das sein Leben bestimmte, seit Josephine gestorben war. Er war ein Mensch, der seine feste Struktur im Alltag brauchte. In seinem geordneten Tagesverlauf konnte er sich fallen lassen, wohl behütet darauf vertrauend, dass nichts unvorhersehbares sein inneres Gleichgewicht erschüttern konnte. Doch wenn er nun darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass dieses Ausgewogen sein völlig verschwunden war. Er fühlte sich plötzlich allein und die Kälte um ihn herum bemächtigte sich seiner schleichend.

Marvin fühlte sich sehr unbehaglich. Er wusste wirklich nicht, wie er mit der kaputten Gestalt vor sich umgehen sollte. Dr. Melson schien weggetreten, die tränenunterlaufenen Augen zurückgerollt und Marvin hatte Angst, dass Melson jeden Moment zusammenbrechen könne. Also versuchte er, ihn durch das Gespräch wieder ins Hier und Jetzt zu holen: „Ich will Sie nicht noch mehr überfordern. Sie brauchen im Moment vor allem einen Ort, um wieder zur Ruhe kommen zu können. Ich habe leider jetzt noch keine Zeit, mit Ihnen zu kommen aber ich kann sie warnen. Es besteht das Risiko, dass Sie ebenfalls in Gefahr sind.“

Er reichte Joshua in einer flüchtigen Bewegung ein Gewehr, das über seiner linken Schulter gehangen hatte. Joshua griff geistesabwesend danach und lehnte es an sein Bein. Er erwiderte nichts. Marvin trat einen Schritt auf den Bürgersteig, schaute konzentriert die Straße entlang bis er entdeckte, wonach er Ausschau gehalten hatte und das heranrollende Taxi herbeirief. „Ich habe Ihnen ein Taxi gerufen. Das wird Sie erst einmal nach Hause bringen. Sie holen sich noch den Tod in der Kälte.“ Er öffnete die Hintertür und schob den benommenen Dr. Melson vorsichtig auf seinen Platz auf der Rückbank. Dem verwirrten Fahrer sagte Marvin, sein Freund habe einen über den Durst getrunken und er müsse sich keine Sorgen machen, auch nicht, dass er das Auto vollkotzen könne. „Später erkläre ich Ihnen alles!“, flüsterte er noch Dr. Melson zu. Dann nannte er dem Fahrer die Adresse und reichte Geld für die Fahrt und mögliche Verunreinigungen. Mit sich selbst zufrieden trat er vom Fahrzeug weg und blickte ihm nach, bis es hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war. Er hoffte nur, dass die Situation nicht ernster war, als er es sie abschätzte. Denn würde dann das Gewehr genügen? Jetzt musste alles schnell gehen, damit Melson so bald wie möglich in Sicherheit gebracht werden könnte.

Am ganzen Körper zitternd stieg Joshua aus dem Taxi und öffnete die große Eingangspforte, die ihn in die Wärme seines Hauses geleitete. Drinnen roch es noch nach den letzten Überresten der Geschehnisse des Abends zuvor. Das große Foyer mit dem Kronleuchter in der Mitte des Raumes war hell erleuchtet und strahlte Geborgenheit aus, die in Joshua nicht einzudringen vermochte. Intuitiv ging er durch die linke Tür, die ihn durch das kleine Esszimmer zum großen Wohnzimmer führte. Völlig kraftlos sank er auf das große schwarze Sofa, das mit weicher Baumwolle überzogen war und auf dem kleine Kissen akribisch ordentlich angeordnet in den Ecken lagen. Die Wärme tat gut und löste seine Gedanken für diesen Moment. Sein Blick wanderte in dem gemütlich eingerichteten Raum umher. Nüchtern betrachtete er die dunklen Holzmöbel, in die hübsche Ornamente eingearbeitet waren. Die Formen und Farben und der Geruch des Raums beruhigten ihn. Schrittweise kam er im Hier und Jetzt an und durchlief nochmals alles, was geschehen war. Jedenfalls das, woran er sich erinnern konnte. Er dachte an Alex, und wie er am Abend zuvor wutentbrannt weggefahren war. Und wieder kamen die Zweifel in ihm hoch. Er wischte das alles weg und versuchte, sich zu konzentrieren. Was war dann passiert? Er hatte tatsächlich versucht, Josephine wieder zum Leben zu erwecken. Es war ein wahnwitziger Plan gewesen und mit einem sauren Gefühl im Magen dachte er plötzlich an die Explosion. Das Labor war weg und Josephine gleich mit. Er wollte nicht einmal nachsehen, wie es hinter dem Haus aussah. Diese Erinnerung, die Tatsache, dass die letzte Nacht real war, sollte ihn nicht einholen können. Also hielt er sie so weit wie möglich fern. In ihm breitete sich düstere Klarheit aus. Da zuckte er zusammen. Jetzt, da er wieder logischer denken konnte, wurde ihm bewusst, dass ihm etwas aufgefallen war, als er eben ins Haus getreten war. Er wusste aber nicht mehr, was es gewesen war. Aufgewühlt sprang er auf und lief mit kurzen, unbeholfenen Schritten zurück zum Foyer. Und tatsächlich. Da waren ganz dünne Fußspuren auf dem glänzenden Marmorboden. Spuren aus getrocknetem Schlamm, kaum noch eine staubige Kruste. Sie liefen als klare Linien durch das Haus. Quer durch das Foyer führten sie genau zu seinem Arbeitszimmer, dessen zwei schwere dunkle Flügeltüren nur angelehnt waren. Nun spannte sich Joshuas Aufmerksamkeit an. Vorsichtig schlich er zur Tür, schob sie vorsichtig in dem Bewusstsein auf, jeden Moment von einem Einbrecher überrumpelt zu werden. Langsam glitt einer der Flügel auf und offenbarte lediglich sein Arbeitszimmer, so wie er es hinterlassen hatte, seit Josephines Tod unbenutzt. Ein Anflug von Beruhigung durchströmte ihn. Sein Blick ruhte auf einem weißen Stück Papier, das mitten auf seinem großen Holzschreibtisch lag. Die Angst packte ihn urplötzlich. In seinem Kopf nahm das harmlose Stück Papier diabolische Ausmaße an und blickte ihn mit feurigen Augen entgegen. Er trat einen Schritt näher an den Schreibtisch und erkannte, dass nicht viel auf dem Papier geschrieben stand. Jede Faser von ihm wehrte sich dagegen, das Blatt nur anzuschauen, geschweige denn, es zu lesen. Ohne sein Zutun wanderten seine Augen über die vertraut krakelige Handschrift seines Sohnes und begriffen nicht, was dieser knappe Brief bedeutete:

Ich hatte nie Gelegenheit, dir das zu sagen.

Ein Geheimnis, das ich nicht mit in den Tod nehmen will.

Vater, ich habe ein -----------------------------------------------

Vom letzten Buchstaben zog sich eine Tintenlinie in einem langen Bogen über das Papier und endete bei einem größeren Tintenklecks, umringt von einigen blauen Spritzern. Joshuas Blick wanderte über den Holztisch und fand den Füller noch offen daliegen, einige Zentimeter vom Fleck entfernt. Alex musste sich beim Schreiben plötzlich heftig bewegt haben und den Füller dann fallen gelassen haben. Der Raum war unendlich still. Eine Wanduhr tickte entfernt aus dem Wohnzimmer unaufhörlich ihren walzenden Takt. Joshua stand über den Tisch gebückt und betrachtete gebannt die Buchstaben. Ihm fiel erst jetzt auf, dass die Handschrift seines Sohnes bei diesen kurzen Worten anders wirkte als sonst. Sie war noch unordentlicher als gewöhnlich, wie in großer Hast geschrieben und scheinbar mit enormem Druck. Er konnte die Anstrengung, die in jedem einzelnen Buchstaben steckte, förmlich spüren. Etwas war letzte Nacht hier geschehen. Das war nun klar und Säure brannte in seinem Bauch bei dem Gedanken an sein eigenes Fehlen. Wie er betrunken da lag, weit weg von hier. Ihm wurde schwarz vor Augen. Ungeschickt griff er mit der einen Hand nach dem Schreibtisch und fuhr sich mit der anderen durchs Gesicht. Sein Fehler nagte an ihm. Er war Schuld an seinem Unverständnis. Der Gedanke an das, was ihm der seltsame Mann in der Stadt am Morgen gesagt hatte, durchbohrte mittlerweile nicht mehr verdrängbar seine Sinne.

In einem brennenden Moment der Klarheit wurde ihm bewusst, dass der die Wahrheit gesagt hatte. Ihm wurde auf eine grausame Art und Weise bewusst, dass Alex, sein einziger Sohn, tot war. Mit nichts konnte er seine Gewissheit erklären. Sie war einfach da. Unumstößlich.

Nicht Wut und auch keine Trauer übermannten ihn. Es war schiere Fassungslosigkeit. Wie eine donnernde Lawine die ihn unverhofft unter sich begraben hatte und nun sofort wieder verstummt war, ihn aber zugeschüttet hatte in einer undurchdringbaren, zerdrückenden Masse.

Die Worte, eben noch als belanglos abgestempelt, pochten in seinem Kopf.

Ihr Sohn ist höchstwahrscheinlich verstorben. Er wurde letzte Nacht in Netlar ermordet.

Mit leisen, langsamen Schritten und mit dem Gewehr immer noch in seiner Hand, wie er erst jetzt realisierte, schritt er aus dem Zimmer hinaus in Richtung der mächtigen Stahltür am Ende des Flurs im Erdgeschoss, die in den geräumigen Keller führte. Er drückte lasch auf den kleinen, weißen Schalter neben der Tür und die weißen Leuchtröhren flackerten auf. Es war eine steile Holztreppe, die einige Meter hinab führte und an deren Fuße sich ein geräumiger Kellerraum öffnete. Der Raum war vollgestellt mit allem möglichen Kram, Kisten, ein paar verschiedenartigen Stühlen, einem Satz Sommerreifen. An einer Wand befand sich eine breite Werkbank an der chaotisch und ohne System Werkzeuge aller Art und sämtlich verrostet aufgehängt waren. Viele lagen auf dem Boden davor, in einer anderen Ecke haufenweise aufgerollte Kabel. Die breiteten sich vom Haufen weit in den Raum hinein aus. In dessen Mitte stand ein großer runder Tisch, um den acht einfache Holzstühle aufgestellt waren, darüber eine runde dunkelgrün-emaillierte Lampe, deren Kegel den gesamten Tisch einnahm. Joshua schritt langsam zur rechten Seite des Raumes, wo sich eine großzügig eingerichtete Minibar befand, vor der drei Barhocker mit roten Lederbezügen wie Gewohnheitstrinker herumlungerten. Er nahm sich willkürlich eine Flasche mit klarem Inhalt und schleifte sich mit ihr und dem Gewehr zu dem runden Tisch. Die Waffe legte er vorsichtig auf den nackten Steinboden neben dem Stuhl, auf den er sich behutsam niederließ. Mit einem hallenden PLOPP zog Joshua kräftig den Korken aus der Flasche und setzte sie wie in Trance an. Die Hitze durchfuhr seinen Rachen und durchbrach mit einem Rutsch alle Gedanken. Schon war der gesamte Inhalt der Flasche seinen Hals hinuntergelaufen als er benommen die geleerte Flasche bemerkte, sie kurz prüfend betrachtete und sie dann quer durch den Raum schmiss, worauf die mit einem lauten klirrenden Knall an der Wand zerschellte. Er hatte das erlösende Geräusch erwartet und eine selbstzerstörerische Befriedigung durchfuhr ihn, als er den vernehmen durfte.

5.

Ich, Jean Louis Denouis hatte in meiner langen Laufbahn als Polizist in Netlar niemals, gemessen an den strengen aber klaren Dienstvorschriften, etwas grundlegend falsch gemacht. Bis dieser eine, verheerenden Januarmorgen gekommen war. Es sollte ganz routiniert ablaufen. Mein langjähriger Kollege Franko und ich hatten den Auftrag, ein Haus zu überprüfen, in dem sich angeblich Hausbesetzer befanden, die gegenüber den Nachbarn gewalttätig geworden seien und routinemäßig als gefährlich eingestuft worden waren. Alles nur gewöhnliche Arbeitsverrichtungen, eben ein Routineauftrag. Franko war mein bester und eigentlich einziger wirklicher Freund gewesen. Ich hatte immer ein sehr zurückgezogenes Leben geführt, da der Job viele Risiken barg, was ich keiner Frau zuzumuten wagte. Das war zumindest meine liebste Ausrede für mein Junggesellendasein. Außerdem hatte ich mich seit jeher eher als ein einsamer Wolf gefühlt, eine Art Steppenwolf, wie ich irgendwann in einem uralten Roman gelesen hatte.

Ich lebte in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung mitten in der Innenstadt von Netlar. In meinem Zimmer stand mein Bett, ein Schreibtisch, eine kleine Küchennische und ein Bücherregal, in dem seit Jahren meine einzige Freizeitbeschäftigung vor sich hin staubte: Krimis aus allen Epochen der bisherigen Menschheit, da diese mir mehr über den jeweiligen Zustand der Welt berichten konnten als jedes Geschichts- oder Soziologielehrbuch. Die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Verbrechen, war eine der wenigen Wahrheiten, die ich begreifen musste. Ein Bücherregal hatte ich angefüllt mit ihnen und jeden Monat bereitete ich mir die Freude, einen neuen Band zu kaufen. Mehr brauchte ich nicht. Mehr wollte ich nicht. Hin und wieder trafen Franko und ich uns zu einem Feierabendbier, aber eigentlich teilten wir unser leidenschaftliches Bedürfnis nach Zurückgezogenheit. Wenn ich heute daran denke, wie viel ich über Franko nicht wusste, könnte mir schlecht werden. So sah mein Leben aus, bis zu jenem Morgen im Januar.

Ich erinnere mich noch genau, als wäre es erst gestern gewesen. Der Tag fing neblig an und die Luft war so nass und durchdringend eiskalt, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. Da wir uns durch den Hinterhof unbemerkt heranschleichen wollten, hatte ich den Wagen in einer Seitenstraße geparkt. Alles klappte problemlos. Die Hintertür stand halb offen, sodass wir lautlos in das Treppenhaus schlüpfen konnten, das spärlich mit einer flackernden Glühbirne ausgeleuchtet war. Ein altes, verkommenes Mehrfamilienhaus, das schon wie länger unbewohnt wirkte. Die Tapete an den Wänden hing spröde und blätterte an vielen Stellen ab. Es gab ein kleines, rundes Fenster, das vor Dreck und Staub strotzte. Es ließ nur kleine, schimmernde Lichtstrahlen hindurch.

Auf leisen Sohlen schlichen wir in den ersten Stock und postierten uns neben der weißen, unscheinbaren Tür. Es war kein Geräusch zu hören außer unserem eigenen, zurückgehaltenen Atem. Entweder schliefen sie noch oder es war nur ein falscher Alarm gewesen. Oft verschwinden Hausbesetzer früh am Morgen und wechseln ihre Unterkunft, vielleicht war etwas durchgedrungen von unserer Durchsuchung. Dann geschah alles sehr schnell.

Ich zählte leise bis drei und rannte die Tür mit meiner Schulter ein. Sie brach mit einem lauten Knall viel zu leicht aus den Angeln und ich schleuderte mitsamt der Tür in den Raum hinein. Der letzte Eindruck den ich hatte, war, wie ich mich aufrappelte und mich hastig in diesem kleinen Raum umsah, in dem mindestens zwanzig Männer um mich herum standen, offenbar verblüfft über unser plötzliches Erscheinen. Ich blickte geschockt zuerst zu Franko, der wie angewurzelt im Türrahmen stand. Dann zu einem Mann, der mir am nächsten stand Er hauchte kaum hörbar das Wort „Snake“. Dann wurde ich bewusstlos.

Dies war der Moment, den ich seit Wochen verfluche, der mein Leben verändert hat. Als ich wieder erwachte, lag ich auf einem Bett im Netlaer Zentralkrankenhaus und konnte durch das Fenster die Sonne sehen, die hinter der dampfenden Skyline unterging. Völlig zerschlagen, mit dem Gefühl, als wäre mein ganzer Körper ein einziger blauer Fleck, versuchte ich aufzustehen. Ich wollte wissen, was geschehen war, was es mit dem Haus und den Besetzern auf sich gehabt hatte. Mein Körper gehorchte mir nicht. Und zudem bekam ich nicht einmal eine Nachricht oder Besuch vom Präsidium. Zu müde, um mich weiter damit zu beschäftigen, schlief ich eine mir unendlich vorkommende Zeit, während eine Krankenschwester jede Stunde einmal nach mir schaute und mich jedes Mal aus meinem flachen Schlaf riss. Als ich nach einer längeren durchgehenden Schlafstrecke endlich ein wenig ausgeruht erwachte, ging die Sonne das nächste Mal unter. Jetzt konnte ich aber denken und mich bewegen, wenn auch mit peinigenden Schmerzen. Ich versuchte, telefonisch den Chef meiner Einheit zu informieren, doch die Nummer stimmte nicht. Möglicherweise hatte ich sie vergessen. Auch von den Ärzten konnte mir niemand genau sagen, was geschehen war. Sie hatten mich am Mittag vor dem Eingang des Krankenhauses gefunden. Das machte mich stutzig, worauf ich beschloss, selbst zum Präsidium zu fahren, zumindest dieses Rätsel zu lösen. Nicht ahnend, dass meine Probleme noch nicht mal ernsthaft begonnen hatten.

Also zog ich die Sachen an, die auf einem Stuhl neben meinem Bett lagen und verließ einige Minuten später das Krankenhaus. Es lag direkt in der Innenstadt, wenige Gehminuten vom Präsidium entfernt. Schon da fühlte ich ein merkwürdiges befremdliches Gefühl, das ich damals noch nicht einordnen konnte.

Ich betrat das Polizeipräsidium, in dem ich seit mehr als vier Jahren gearbeitet hatte. Betty, unsere Frau an der Rezeption erkannte mich scheinbar nicht.

„Guten Tag! Was wünschen Sie?“, fragte sie mich, als ich der Rezeption näher kam. Ich muss zugeben, dass ich das zuerst für einen schlechten Witz hielt. Niemand schien mich zu erkennen. Als ich sie wie immer, kurz murmelnd grüßte und an der Rezeption vorbei in Richtung des Büros vom Chef ging, hielten mich Georg und Vincent auf. Ich kann das Gefühl, das ich in diesem Moment hatte, nur schwer beschreiben. Ein Anflug von Panik überkam mich. Alles was ich anfasste, verwandelte sich zu Staub, sobald ich es berührte. Ja, so in etwa fühlte es sich an. Ich riss mich von den beiden Männern los und rannte den mir vertrauten Gang bis zum Ende und stieß die Tür vom Chef mit einem Knall auf.

„Was zur Hölle ist hier los?“, schrie ich ihn an. Meine Stimme überschlug sich bei jedem Wort. Doch statt zu antworten schaute er mich nicht einmal an, drückte auf einen kleinen Knopf an seinem Schreibtisch und sagte mit ruhiger Stimme: „Sicherheitskräfte, bitte in mein Büro. Ich habe hier einen unbefugten Eindringling.“

Ich wurde von hinten gepackt und durch den Gang zurück in die Eingangshalle gezerrt.

„Das nächste Mal wird es Konsequenzen geben!“, rief Vincent mir zu, nachdem sie mich durch die Tür geschleppt und auf den Bürgersteig geworfen hatten.

Alles war anders, doch wie in jeder anderen befremdlichen Situation suchte mein Verstand nach einer rationalen Erklärung. War es doch nur ein interner Scherz? Weiter kamen meine Erklärungsversuche nicht. Es war ein schieres Chaos. Ich zweifelte ernsthaft an meinem Verstand. Die Verwirrung, die ich empfand, wandelte sich in Angst. Ich musste unbedingt mit Franko reden. Er war dabei gewesen. Ging es ihm genauso wie mir? Zunächst aber musste ich, der in solchen Situationen gern bildhaft dachte, um etwas Abstand zum Geschehen bekommen zu können, wieder ein wenig festen Boden unter den Füßen bekommen. Ich lief zu Fuß durch die von beschäftigten Menschen erfüllten Fußgängerstraßen der Netlaer Kernstadt. Die Leute waren dieselben anonymen Gesichter wie sonst, aber ich fühlte mich in meiner verlorenen Einsamkeit getrennt von ihnen. Wieder überkam mich das befremdliche Gefühl, das ich schon auf meinem Weg zum Präsidium gespürt hatte Als hinge ein Schleier zwischen ihrer und meiner Welt.

Zu Hause war alles wie sonst. Kein Brief, keine Veränderung. Kein Anzeichen für eine veränderte Situation. Ich schloss die Tür hinter mir und ließ mich rückwärts auf mein Bett fallen. Auf dem Hausflur unterhielten sich der Hausmeister und eine Frau in schrillem Ton, ich konnte kein Wort verstehen. Sie verschwanden und hinterließen nur die Geräusche der Stadt, die gedämpft durch das geschlossene Fenster zu mir drangen. Nach einer Weile stand ich auf und stellte mich an das Fenster. Während ich da gelegen und die mit Blutflecken von erschlagenen Mücken befleckte Decke betrachtete, hatte ich mir mein kommendes Vorgehen klar strukturiert. Zuerst würde ich zur Bank gehen und überprüfen, ob sich dieser Irrsinn auch in meinem Vermögen niedergeschlagen hatte. Dann konnte ich nur eines tun. Mich auf die Suche nach Franko begeben.

Auf meinem Schreibtisch griff ich nach meinem mobilen Telefon und wählte Frankos Nummer. Es klingelte etliche Male, dann legte ich auf. Nicht einmal der Anrufbeantworter war angesprungen. Das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt, kochte ich mir ein paar Nudeln mit Spiegelei und scharfer Meerrettichsauce. Fast zwanzig Minuten am Stück ließ ich das Telefon klingeln, doch niemand nahm den Hörer ab. Ich fühlte mich einsam, wie ich da alleine vor meinem trostlosen Essen saß und mir keine Menschenseele einfiel, der ich mich hätte mitteilen können. Franko war der einzige mir näher bekannte Mensch in meinem Leben gewesen. Alle anderen waren Fremde. Und meine Kollegen? Alle mit denen ich gut klar gekommen war, hatten mir heute Morgen eine Abfuhr erteilt.

Die Rastlosigkeit ließ mich aufbrechen, auch wenn es schon dunkel war. Ich war auf der Suche nach einem Weg in die Normalität. Mit meinem verbeulten Auto fuhr ich zu Franko nach Hause. Er wohnte ein wenig außerhalb in einem kleinen Bungalow mit ungepflegtem Vorgarten, in dessen Mitte eine Reihe Steinplatten zur Haustür führte. Die Lichter waren erloschen. Sein Auto stand auch nicht an seinem Platz direkt vor der Eingangstür. Es war niemand da und mit einem flüchtigen Blick auf die Tageszeitungen konnte ich festhalten, dass seit gestern niemand mehr die Post abgeholt hatte.

Mehrere Tage lang beschattete ich das Haus. Mit Kaffee aus meiner Thermoskanne und fettigem Essen saß ich in meinem Wagen und schaute auf das totenstille Haus. Letztendlich musste ich mir eingestehen, dass Franko nicht zurückkehren würde. Er war spurlos verschwunden. Egal wo ich nach ihm suchte. In jeder Kneipe, in der wir jemals gemeinsam gezecht hatten. In den Geschäften, die in seiner Nachbarschaft waren, kleine Supermärkte, besucht von Vorstädtern, deren einzige Beschäftigung es wohl ist, die Menschen in ihrer Umgebung zu beobachten, um später darüber tratschen zu können. Keiner wollte ihn in den letzten Tagen gesehen haben. Er war verschwunden, spurlos. Niemand hatte Franko angeblich seit diesem Januarmorgen gesehen oder etwas von ihm gehört. Und alle Nachbarn bestätigten, dass er an eben jenem Morgen wohl das letzte Mal das Haus verlassen hatte. Mehrere Male versuchte ich nochmals beim Präsidium anzurufen, auch um das Verschwinden von Franko offiziell zu melden, doch scheinbar war ich dort restlos ausgelöscht worden. Sie hörten mir nicht einmal mehr zu. Der Polizist Denouis existierte nicht mehr. Leider hatte ich niemanden, an den ich mich hätte wenden können. Franko war der einzige Mensch gewesen, dem sich anzuvertrauen, mir möglich gewesen wäre. Nun war er weg! Was also sollte ich tun?

Für das alles musste es eine Erklärung geben und diese suchte ich nun. Mein einziger Anhaltspunkt war ein Wort: „Snake“. Ich zog in Betracht, dass Frankos unnatürliche Art und Weise zu verschwunden mit diesem Wort in Verbindung stand und fing dort meine Suche an. Mir war es ein Rätsel, was es bedeuten sollte – Schlange, einfach nur dieser Tiergattungsbegriff? Eines Abends, an dem mein ehemaliger Kollege Forler Nachtschicht hatte, der als verschlafen bekannt war, schlich ich mich in das Gebäude des Präsidium und suchte in den Registern alles ab, doch fand ich keinen Anhaltspunkt, keinen Verbrecher und keine Organisation, die mit diesem Begriff hantierte. Ich wollte noch weiter in den Komplex eindringen und sogar so weit gehen, in das Büro des Chefs einzubrechen, um etwas über mein Verschwinden in Erfahrung bringen zu können, aber ich sah davon ab. Forler wollte zum Kaffeeautomaten und hätte mich vermutlich bemerkt, trotz seiner mir bekannten Gleichgültigkeit.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
331 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783957449887
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Metin
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