Kitabı oku: «Schopenhauer», sayfa 4
Schopenhauers Werk und Wirkung – Die Welt als Wille und Vorstellung81
Den Anweisungen entsprechend, die Schopenhauer mehrfach zum Studium seiner Philosophie und zur Lektüre seiner Werke gegeben hat, beginnt Fischer seine Einführung in Schopenhauers Lehre mit der Darstellung seiner Dissertation. Die 1813 erschienene Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« hat den Charakter einer Propädeutik, insoferne sie in der Unterscheidung von Kausalgrund, Erkenntnisgrund, Seinsgrund und Grund des Handelns (Motivation) Anlage und Differenzierungen seines Hauptwerkes enthält. »Die Welt als Wille und Vorstellung« teilt sich in vier Bücher, die Schopenhauers Grundgedanken: »Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens« explizieren. Das erste Buch enthält Schopenhauers Erkenntnistheorie und lässt bereits mit dem ersten Satz den Anschluss an Kants transzendentalen Idealismus erkennen: »Die Welt ist meine Vorstellung«. Das zweite Buch enthält Schopenhauers Metaphysik: die Lehre vom Willen, der sich in der gesamten Natur objektiviert, mit dem dritten Buch wird das Problemgebiet der Ästhetik betreten, das vierte Buch enthält Schopenhauers Ethik und Religionsphilosophie.
Schon im Kant-Band seiner Geschichte hat Fischer Schopenhauers Verdienst um die kantische Philosophie hervorgehoben, das darin besteht, »auf die erste Ausgabe der Vernunftkritik, als die wahre Grundlage der Lehre Kant´s, hingewiesen [zu] haben«82. Nur im Ausgang von der transzendentalen Ästhetik, der Lehre von Raum und Zeit, ist ein angemessenes Verständnis der kritischen Philosophie möglich: »Hier ist die Entdeckung, worauf das ganze kritische Lehrgebäude ruht, der Schwerpunkt, wonach die übrigen Begriffe sich richten.«83 Ein Verfehlen dieser Interpretationsrichtung bringt die kritische Philosophie »in Widerstreit mit sich selbst«84, wie das in der zweiten Auflage der Vernunftkritik der Fall ist. Diese Art des Rückgriffs auf Kant ist nicht unproblematisch, eine Interpretation Kants, welche die transzendentale Ästhetik ins Zentrum stellt, schließt an die »Kritik der reinen Vernunft« an einer Stelle an, an der dieses revolutionäre Werk vorkritische Züge trägt und begreift damit Transzendentalphilosophie von einem Lehrstück aus, das Kant in der zweiten Auflage zu korrigieren bemüht gewesen ist. Schopenhauers Anschluss an Kant ist zudem durch die Zurücknahme einer Reihe kantischer Differenzierungen gekennzeichnet.85 Dazu kommt, dass noch in einem weiteren wesentlichen Punkt Schopenhauer kein Schüler Kants gewesen ist.86 Kant hat Philosophie als Wissenschaft konzipiert und ist demgemäß bestrebt gewesen, der Metaphysik ein methodisches Fundament zu geben, das es ihr ermöglicht, als Wissenschaft aufzutreten87. Auch für die an Kant anschließenden Vertreter des Deutschen Idealismus sind Logik und Metaphysik – so auch für Fischer – stets Wissenschaftslehre. Im Gegensatz dazu ist für Schopenhauer Philosophie nicht primär Wissenschaft, sondern Kunst – eine Sache des Genies: das Genie, der vom Genius geleitete Selbstdenker, »der hat die Boussole, den rechten Weg zu finden«88 – methodische Überlegungen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Wird man im Rahmen der Erkenntnistheorie Schopenhauer den exklusiven Anspruch, der einzig echte Thronerbe Kants zu sein, bestreiten müssen, die Einsicht in die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Kant, ja eines Ausgangs von Kant als unverzichtbare Grundlage allen Philosophierens, wird man ihm nicht absprechen können. Der Fortschritt der Philosophie seit Kant war weder gestern noch ist er heute ein Einwand gegen eine solche »Rückkehr zu Kant«, soferne all die Schritte, welche die Philosophie über Kant hinaus getan hat, es nicht rechtfertigen, dass wir auch nur einen einzigen hinter ihn zurück tun, – und heißt nicht schon Kant verstehen, über ihn hinausgehen?89
Schopenhauer überschreitet die Erkenntnisgrenzen, die bei Kant durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich der Metaphysik gesetzt sind, indem er das Ding an sich als Wille bestimmt. Damit ist nicht nur eines der zentralen Probleme der Kantinterpretation, in der Art des gordischen Knotens gelöst, indem Schopenhauer die Leiblichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt seiner Willensmetaphysik macht, umgeht er auch »die gefährlichste Klippe des Kantianismus«90 im Sinne einer »reflexionslogischen« Verfehlung der Leibproblematik. Der Leib, das »unmittelbare Objekt«, ist uns auf eine doppelte Weise gegeben: in einer Außenperspektive als Objekt der Vorstellung, d. h. als sinnliche Erscheinung in Raum und Zeit, und in einer Innenperspektive als Wille zum Leben. In Analogie zu dieser Leiberfahrung wird der Wille zum einheitlichen Erklärungsprinzip alles Wirklichen, die Erscheinungswelt insgesamt muss ihrem Wesen nach als Wille begriffen werden, als Wille zum Leben, der sich in der Natur unmittelbar manifestiert und im Menschen Bewusstsein und Einsicht gewinnt.
Schopenhauers Willensmetaphysik weist auf mehreren Traditionslinien ins 20. Jahrhundert. Indem er den Willen vom Gedanken einer die Natur insgesamt bestimmenden natürlichen Selbstbehauptung her fasst, nimmt Schopenhauer nicht nur unabhängig von Darwin wesentliche Bestimmungen des Darwinismus vorweg, sondern auch Gedanken, die sich zum Teil in der neuzeitlichen Anthropologie wiederfinden – der »exstatische Gefühlsdrang« bei Max Scheler91, oder der Begriff Kultur als ins Zweckdienliche umgearbeitete Natur bei Arnold Gehlen92. Seine Erkenntnis der Rolle des Unbewussten weist über Nietzsche und Eduard von Hartmann93 auf die Freudsche Psychoanalyse. Freud erwähnt Schopenhauer nicht nur an mehreren Stellen seiner Traumdeutung – das Verhältnis von Traum und Wahnsinn94, das Verhältnis von Traum und Charakter95, oder die Frage der Entstehung des Traumes96 betreffend –, er hebt auch mehrfach die »weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers« hervor und gesteht ihm zu, »nicht nur den Primat der Affektivität und die überragende Bedeutung der Sexualität vertreten, sondern selbst den Mechanismus der Verdrängung gekannt«97 zu haben. Auch im Zusammenhang mit der dritten (psychologischen) Kränkung der Eigenliebe, die sich mit der Einsicht verbindet, dass angesichts letztlich nicht zu bändigender sexueller Triebregungen »das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«, ist es »der große Denker Schopenhauer, dessen unbewußter ›Wille‹ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist,«98 auf den Freud hinweist. Vor allem aber ist es die Abwehr von Missverständnissen und nicht gerechtfertigten Vorwürfen, die in Schlagworten wie »Pansexualismus« der Psychoanalyse vorwerfen, alles aus der Sexualität zu erklären, die Freud in Schopenhauer den Verbündeten suchen lässt, der »bereits vor geraumer Zeit den Menschen vorgehalten [hat,] in welchem Maß ihr Tun und Trachten durch sexuelle Strebungen – im gewohnten Sinne des Wortes – bestimmt wird«99. Solcherart beruft sich Freud mehrfach auf Schopenhauer, ohne freilich in ihm einen Vorläufer der eigenen Position sehen zu wollen.100
Aus Schopenhauers metaphysischer Weltkonzeption sind auch die Prinzipien seiner Ethik abgeleitet. Sittliche Gestalten101 gelten ihm bloß als begriffliche Abstraktionen, an ihre Stelle treten das Mitleid als die eine Tugend und der Egoismus als das eine Laster. In dieser »grandiosen Vereinfachung« der sittlichen Probleme zeigt sich Schopenhauer auch im Rahmen der praktischen Philosophie als Widerpart der Philosophie des Deutschen Idealismus.102 Die Konzeption einer Ethik, die sich über den Menschen hinaus auf das Lebendige, d. h. auch auf das Tier bezieht, weist ebenfalls weit ins 20. Jahrhundert. So finden wir Schopenhauer im Rahmen jener Positionen, denen das Mitleid als Grundlage der Ausweitung des Humanitätsgedankens auf das Tier resp. der Einbeziehung des Tieres in die sittliche Gemeinschaft das fundamentale ethische Prinzip ist, als vielzitierten Klassiker der Tierethik, wobei die näheren Differenzierungen seines Mitleidsbegriffs und die metaphysischen Voraussetzungen desselben nicht selten außer Acht bleiben. Schon Albert Schweitzer, dessen Auseinandersetzung mit Schopenhauers Ethik tiefgreifend und nicht zuletzt ihrer kritischen Einwände wegen beachtenswert ist, nimmt einen genuin schopenhauerschen Gedanken zum Ausgangspunkt seiner »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben«: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.«103 Im Ausgeliefertsein an den blinden und unaufhaltsamen Drang des Willens, den, im Kampf gegen Hemmungen und im Konflikt mit anderen, von Ziel zu Ziel vorwärtsgetrieben, jede Befriedigung rastlos und enttäuscht zurücklässt, erweist sich alles Leben als Leiden. Durch die kontemplative Versenkung in die Idee der Dinge beim Schaffen und Betrachten von Kunstwerken kann sich der Mensch diesem Bestimmtsein durch den Willen wohl punktuell, nicht aber dauerhaft entziehen: die Kunst kann trösten, aber nicht erlösen.104 Die Selbsterkenntnis des Willens vollendet sich erst in Selbstverleugnung und Weltüberwindung, wie sie Resignation und Askese ermöglichen. Diese Heilslehre, in der Schopenhauer mit dem Buddhismus übereinstimmt, ist der Schlussstein seines Systems.105
Schopenhauer, der sich selbst als Künstler verstand und als Religionsstifter aufgetreten ist, hat seit je polarisiert, sein Werk und seine Persönlichkeit, sein Charakter, der schreiende Widerspruch zwischen Leben und Lehre, der pessimistische Grundzug seiner Weltsicht und nicht zuletzt der Gegensatz, in dem sie zur abendländischen Philosophietradition steht, haben ebenso unbedingte Gegnerschaft wie bedingungslose Anhängerschaft provoziert. Wer Schopenhauer als Philosophen begegnen will, sieht sich zu einer denkenden Aneignung seines Werkes herausgefordert und wird in Fischers Gesamtdarstellung, in der detailreichen, gelehrten und anschaulichen Nachzeichnung des Lebens, der Werke und der Lehren des Philosophen den Schlüssel und roten Faden zur Bewältigung eben dieser Aufgabe finden. Das Buch lädt nicht nur zu denkender Aneignung ein, es unterstützt dieselbe auch auf das wirkungsvollste, darin, dass es die differenzierte Argumentation in anschaulicher Klarheit vor uns ausbreitet und uns hilft, in den verwickelten Gedankenmassen den Überblick zu behalten, ist es dem Kompass vergleichbar, an dem wir uns orientieren, um nicht vom Wege abzukommen. Das Studium von Fischers Monographien unterscheidet sich wohltuend von einer Lektüre, nach der man mit den dargestellten Denkern fertig ist, indem man sie in einer Schublade abzulegen weiß. Fischer geht es sowenig um »lesen und loben«, wie um »lesen und tadeln«, sondern um eine Auseinandersetzung, die Frucht trägt. Wir dürfen seinem Urteil vertrauen, dass eine solche Begegnung mit Schopenhauer niemanden unbeeindruckt lassen und ihr geringster Ertrag ein uneingeschränktes Lesevergnügen sein wird: »Wenn man ihn zu Ende [gelesen] hat, so ist es sehr fraglich, ob man ihm Recht gibt, aber sicher ist, dass man ihn nie wieder vergisst.«106 Eine problemgeschichtlich angelegte Einführung in das System eines Philosophen ist immer auch eine Einführung in die Philosophie selbst, Fischers Schopenhauer-Monographie wird darüber hinaus der weit anspruchsvolleren Aufgabe gerecht, im Sinne der kantischen Unterscheidung, auch eine Einführung in das Philosophieren zu sein.
Am 186. Geburtstag von Kuno Fischer
und 114. Geburtstag von Hermann Glockner
Die Herausgeber
Erstes Buch
Erstes Kapitel
Biographische Nachrichten. Das Zeitalter Schopenhauers. Der erste Abschnitt seiner Jugendgeschichte (1788 – 1805)
I. Biographische Quellen und Nachrichten
Es ist zu verwundern und zu bedauern, dass der Philosoph, von dem wir handeln wollen, keine Bekenntnisse autobiographischer Art hinterlassen hat, da er mehr als irgend ein anderer seiner Geistesgenossen, Rousseau ausgenommen, zu grüblerischen Selbstbetrachtungen über die eigene Person, ihre Bedeutung und Schicksale geneigt und viel damit beschäftigt war. Nach dem Abschluss seiner Jugendperiode hatte er ein Werk solcher Aufzeichnungen angelegt und nach dem erhabenen Beispiel des Marc Aurel »Εἰς ἑαυτόν« genannt, er hat dieselben noch in späteren handschriftlichen Büchern angeführt und auch mündlich auf ihre Wichtigkeit hingewiesen; aber die Schrift, deren Umfang nur dreißig Blätter betragen haben soll, ist auf seinen Wunsch von seinem Testamentsvollstrecker vernichtet worden. (S. unten 9. Kap.)
1. Vier Lebensskizzen rühren von ihm selbst her: das zum Behuf der Promotion im September 1813 und das zum Behuf der Habilitation am letzten Dezember 1819 verfasste »Curriculum vitae«, dann die beiden kurzen Lebensabrisse aus dem April und Mai 1851, von denen der erste für Joh. Eduard Erdmann zur Aufnahme in dessen Geschichtswerk der neuern Philosophie, der andere für Meyers Konversationslexikon geschrieben wurde. Das »Curriculum vitae« von 1819 ist für die Kenntnis der ersten dreißig Lebensjahre des Philosophen die umfänglichste und nächste Quelle.
2. Nach seinem Tod erschien von Wilhelm Gwinner, seinem Testamentsvollstrecker und jüngeren Freunde, der während der letzten sechs Lebensjahre vertraulichen Verkehr mit ihm gepflogen: »Arthur Schopenhauer, aus persönlichem Umgang dargestellt«.107 Auf den Inhalt dieser Schrift gestützt, ergingen sich sehr bald in der Tagesliteratur die ungünstigsten Charakterschilderungen Schopenhauers, worin Männer, die sonst die ausgemachtesten Gegner waren, wie Karl Gutzkow und Julian Schmidt, übereinstimmten.
Um die Eindrücke des Gwinner’schen Charakterbildes zu entkräften und dessen abstoßende Züge als Entstellungen nachzuweisen, vereinigten sich zwei Anhänger und Bewunderer zu einem apologetischen Werk: »Arthur Schopenhauer. Von ihm. Über ihn. Ein Wort der Verteidigung von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlass-Stücke von Julius Frauenstädt.«108
Wir haben es jetzt nicht mit den auf Schopenhauers Charakter und moralischen Wert bezüglichen Fragen und Streitfragen zu tun, sondern lediglich mit dem zur Kenntnis seiner Lebensgeschichte dienlichen Material. Dieses ist in dem oben genannten Werk beträchtlich vermehrt worden, namentlich durch die Veröffentlichung einer großen Zahl Schopenhauer’scher Briefe. Auch hat Frauenstädt aus den »Studien« oder »Erstlingsmanuskripten« des Philosophen, Selbstbetrachtungen während der letzten sechs Jahre seiner Jugendzeit (1812 – 1818), sehr bemerkenswerte und interessante Mitteilungen gemacht.
3. Das Beispiel von Lindner und Frauenstädt hat die nützliche Folge gehabt, dass demselben zwei andere Anhänger und Bewunderer nachgefolgt sind und die in ihren Händen befindlichen Briefe des Meisters herausgegeben haben: David Asher in seiner Schrift: »Schopenhauer. Neues von ihm und über ihn«109, und Adam v. Doß, einer seiner geliebtesten Schüler, der kurz vor seinem Tod die an ihn gerichteten Briefe Schopenhauers durch Karl du Prel hat veröffentlichen lassen.110
4. Zehn Jahre später erschien, von dem Mathematiker Joh. Karl Becker herausgegeben, der »Briefwechsel zwischen Arthur Schopenhauer und Joh. August Becker«, dem Vater des Herausgebers, einem der ersten und der Lehre kundigsten Anhänger des Philosophen, mit dem er bis zuletzt auf freundschaftlichem Fuße verkehrt hat. Der Briefwechsel zählt in der ersten Abteilung 9, in der zweiten 53 Briefe; von jenen hat Schopenhauer 4, von diesen 23 geschrieben; das Thema der ersten Gruppe der Briefe (31. Juli bis 16. Dezember 1844) waren scharf gefasste Fragen und Einwürfe, welche gewisse Kardinalpunkte der Lehre betrafen und bei unserer Beurteilung der letzteren wieder zur Sprache kommen sollen. Als Becker die Korrespondenz begann, war er Rechtsanwalt in Alzey; im Jahre 1850 wurde er Kreisrichter in Mainz und lebte jetzt in der Nähe des Philosophen.111
5. Nach den Publikationen der Lindner, Frauenstädt, Asher und A. v. Doß konnte Gwinner, dem auch der Briefwechsel zwischen Schopenhauer und Becker zu Gebote stand, die zweite Auflage seiner Biographie in einem »umgearbeiteten und vielfach vermehrten« Werke sechzehn Jahre nach der ersten erscheinen lassen, eine umfassende und reichhaltige, durch viele quellenmäßige Nachrichten und Schriftstücke ausgezeichnete Lebensbeschreibung.112
6. Da in der Geschichte Schopenhauers sein Aufenthalt in Weimar und Goethes persönlicher Einfluss von einer gewichtigen und fortwirkenden Bedeutung gewesen sind, so ist der Düntzer’sche Aufsatz: »Goethes Beziehungen zu Johanna Schopenhauer und ihren Kindern« hier zu erwähnen. Derselbe ist sieben Jahre jünger als die neue Auflage der Gwinner’schen Biographie und enthält aus den Briefen, welche die Mutter an den Sohn in den Jahren 1806 und 1807 geschrieben hat, einige interessante Auszüge, welche Goethe betreffen.113
7. Zum Schluss nenne ich die jüngsten, sehr sorgfältigen und dankenswerten Arbeiten, wodurch Eduard Grisebach sowohl in biographischer als auch in bibliographischer Hinsicht das Studium Schopenhauers gefördert hat. Zur ersten Säkularfeier der Geburt des Philosophen ließ er »Edita und Inedita Schopenhaueriana« erscheinen.114 Seinem Vorsatz gemäß, dass keine Zeile, die Schopenhauer geschrieben, ungedruckt bleiben oder inkorrekt gedruckt werden soll, hat er die jüngste Gesamtausgabe der Werke Schopenhauers in sechs Bänden besorgt und am dreißigjährigen Todestag des Philosophen eröffnet. In dem letzten Bande gibt er eine »Chronologische Übersicht von Schopenhauers Leben und Schriften mit sieben Beilagen« (in der zweiten Schopenhauers Briefe an Goethe, neun an der Zahl, vom Januar 1817 bis zum 23. Juni 1818).115 Dazu kommen neuerdings Ludwig Schemanns Sammelwerk »Schopenhauer-Briefe« (1893) und die von Grisebach verfasste Lebensgeschichte Schopenhauers (1897).116
Von den Werken Schopenhauers und deren Ausgaben wird in dem letzten Kapitel dieses Buches näher die Rede sein.
II. Schopenhauers Zeitalter
Ich schreibe die Geschichte des jüngsten und letzten Philosophen der großen Periode, die unmittelbar von Kant ausging und durch die Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781 begründet wurde. Diejenigen Leser, welche meine Geschichte der neuern Philosophie, insbesondere meine Darstellung und Kritik der kantischen Lehre kennen, sind schon über die Aufgabe und Stellung orientiert, die unter den nachkantischen Philosophen Schopenhauer einnimmt.117
Er hatte die dreißig überschritten, als Ende des Jahres 1818 sein Hauptwerk die Presse verließ. In dem Verlaufe eines Menschenalters (1790 – 1820) waren aus der kantischen Philosophie eine Reihe neuer Systeme in verschiedenen Richtungen hervorgegangen; eine dieser Richtungen war in gerader Linie von Reinhold zu Fichte, von Fichte zu Schelling, von Schelling zu Hegel fortgeschritten, in dessen Lehre diese metaphysisch und monistisch gerichtete Philosophie gipfelte. Was man heute Monismus nennt, hieß damals Identitätsphilosophie. In eben dem Jahre, in welchem Schopenhauer sein Hauptwerk zu Ende führte, wurde Hegel von Heidelberg nach Berlin gerufen, woselbst er eine höchst erfolgreiche Lehrtätigkeit bis zu seinem Tod, den 14. November 1831, entfaltet und die Schule gegründet hat, die während der nächsten Jahrzehnte in dem Gebiete der philosophischen Lehre und Literatur einen tonangebenden und herrschenden Einfluss ausüben sollte.
Um Schopenhauers philosophische und schriftstellerische Laufbahn von Beginn bis zum Schluss ihrer Werke durch weltgeschichtliche Grenzpunkte zu bezeichnen, so erstreckt sich dieselbe vom Ende des ersten bis zum Anfang des zweiten französischen Kaiserreichs; dazwischen liegen die Epochen der Restauration, der zweiten und dritten französischen Revolution, welche letztere auch in Deutschland Volksbewegungen und Versuche politischer Umgestaltungen hervorrief. Wir hatten die Mitte des Jahrhunderts erreicht, als die rückläufige Bewegung wieder zur Herrschaft gelangte und jene Neuerungsversuche völlig unterdrückte. Die Reaktion, womit die zweite Hälfte des Jahrhunderts begann, schien bereits die öffentlichen Zustände auf lange Zeit in die alten Geleise zurückgedrängt zu haben, als der Ausbruch und Ausgang des Krimkrieges den Lauf der Dinge oder, wie die heutige Parole lautet, »den Kurs« von Grund auf änderte. Auf die Niederlage Russlands folgte nach einigen Jahren die größere Niederlage Österreichs. König Friedrich Wilhelm IV. starb den 2. Januar 1861. Eine ungeahnte große und gewaltige Zeit hatte mit dem neuen Jahrzehnt begonnen: das Zeitalter Wilhelms I. und die Bismarck’sche Epoche, aus welcher nach drei siegreichen Kriegen das neudeutsche Kaiserreich hervorging, verkündet den 18. Januar 1871 im Schlosse zu Versailles.
Seit dem Beginn der philosophischen und schriftstellerischen Laufbahn Schopenhauers war ein Menschenalter vergangen, er stand vor dem Abschluss der letzteren, und noch hatte die Welt von ihm und seinen Werken so gut wie gar keine Kenntnis genommen, er war so gut wie völlig unbeachtet geblieben, und das Dunkel, welches ihn einhüllte, schien undurchdringlich. Er hatte die sechzig überschritten, als sein Ruhm endlich zu tagen und bald weithin zu leuchten begann. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens (1850 – 1860) wurde er als der Philosoph des Jahrhunderts gepriesen und seine Lehre als die Philosophie der Zukunft.
Schon ist mehr als ein Menschenalter seit dem Tod Schopenhauers verflossen, sein Ruhm ist im Wachsen geblieben und sein Name in aller Welt Munde. Dieselben Werke, die vor sechzig Jahren in die Stampfmühle wandern mussten, um »doch einigen Nutzen zu bringen«, erscheinen heute in Volksausgaben und paradieren an den Schaufenstern der Buchläden. Man weiß ja, dass Bücher ihre Schicksale haben; schwerlich haben philosophische je ein ähnliches gehabt. Es handelte sich um Werke, die keineswegs von innen dunkel waren, vielmehr durch ihren Reichtum an erleuchtenden und neuen Ideen, durch ihre stilistische und künstlerische Vollkommenheit die volle Beachtung aller Literaturkenner und Literaturfreunde sogleich verdient hätten.
Wie erklärt sich deren so andauernde und hartnäckige Nichtbeachtung? Sagen wir gleich, so kurz und gut es sich am Anfang sagen lässt, wie sich die Sache nicht erklärt. Freilich ist diese nichtige Erklärung im Munde des Philosophen selbst immer die geläufigste und beliebteste gewesen: die deutschen Philosophieprofessoren sollen sich aus allen Beweggründen des Neides verschworen haben, seine Schriften ungelesen, jedenfalls unerwähnt zu lassen.
Die Professoren sind nicht der Zeitgeist. Wenn ein Denker und Schriftsteller, wie Schopenhauer, ein langes Menschenalter hindurch keine Wirkung auf die Welt hervorbringt, so sind seine Schriften nicht von einigen Professoren, sondern vom Zeitgeist unbeachtet geblieben, worunter wir kein mystisches Ding, sondern den Inbegriff derjenigen Interessen und Fragen verstehen, welche in einem gegebenen Zeitabschnitte herrschen. Nun vergegenwärtige man sich unser Deutschland von den Freiheitskriegen bis in die Volksbewegungen des Jahres 1848, die Interessen nationaler, religiöser, kirchlicher, politischer, historischer Art, die es erfüllt und tief bewegt haben; man vergleiche damit Schopenhauers Lehre und seine sämtlichen Werke, um zu sehen, was sie zur Weckung, Klärung, Lösung dieser Fragen beigetragen oder geleistet haben. So gut wie nichts! Alle jene Zeitfragen, in welches Gebiet und in welche Richtung sie auch fallen, sind von eminent historischem und kritischem Charakter gewesen; sie gehören in das große Thema der Weltgeschichte, dem Schopenhauer, der Mann wie die Lehre, sich von Grund auf abgewendet zeigt, denn in seinen Augen hat die Weltgeschichte überhaupt kein Thema.
Der Zeitgeist herrscht und gleicht auch darin einem Herrscher, dass er, wie die Könige, denen Gehör erteilt, die ihm etwas zu sagen haben; aber sie müssen warten, bis sie gerufen werden und die Stunde ihrer Audienz da ist. Wenn der Glaube an die Weltgeschichte als den »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, dieses Grunddogma der Hegel’schen Lehre, erschüttert wird und zu wanken beginnt, eine natürliche Folge großer vereitelter Hoffnungen, dann hat die Stunde für Schopenhauer geschlagen. Er wird die Lehre von dem Thema und Endzweck der Weltgeschichte für eine Täuschung erklären und dieselbe gründlicher als je ein Sterblicher vor ihm der Welt auszureden suchen. Die Zeit ist gekommen, wo man seinen Worten lauscht. Wenn man ihn zu Ende gehört hat, so ist es sehr fraglich, ob man ihm Recht gibt, aber sicher ist, dass man ihn nie wieder vergisst.