Kitabı oku: «Schopenhauer», sayfa 9
3. Die Entstehung des Hauptwerks
Schopenhauer pflegte sein System gern mit einem Kristall zu vergleichen, der strahlenförmig zusammenschießt, sogar mit der hunderttorigen Thebe, deren Eingänge sämtlich auf einen und denselben Mittelpunkt hinweisen. Gewisse Anschauungen, die sonst weit voneinander abstehen, hatten sich in ihm zu Grundüberzeugungen befestigt und allmählich ohne Künstelei dergestalt in seinem Kopfe vereinigt, dass sie zu seiner eigenen Überraschung aus einem einzigen Grundgedanken hervorgingen. So entwickelte sich eine Gedankenkette, »die nie zuvor in eines Menschen Kopf gekommen war«. Schon im Jahre 1813 hatte er das Gefühl, dass er den Embryo eines völlig originellen Systems in sich trage.
1. Zwei Grundüberzeugungen hatte er den Göttinger Anregungen gemäß aus seinen akademischen Studien gewonnen: die erste stammte aus Kant, die andere aus Plato. Er hatte die kantischen Hauptschriften gründlich gelesen und sich angeeignet, insbesondere die Vernunftkritik, die er aber noch nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern nur in der zweiten Auflage kannte, worin sich der Text fünfzig Jahre hindurch (1787 – 1838) fortgepflanzt hat. Nachdem er dieses Buch durchdrungen, war ihm zumute wie dem Blinden nach einer gelungenen Staroperation. Seitdem stand ihm unwiderruflich fest, dass unsere Sinnenwelt durchaus nichts anderes als Erscheinung oder Vorstellung, dass sie durchaus phänomenal oder ideal sei. Diese Überzeugung nannte er seine kantische oder »idealistische Grundansicht«. Das Thema derselben ist »die Welt als Vorstellung«.
Unsere Sinnenwelt ist ein Produkt aus zwei Faktoren: ihr Stoff besteht in unseren Sinneseindrücken oder Empfindungen und ist daher »sensual«, ihre Ordnung in Zeit, Raum und Kausalität, welche die Formen unseres Intellekts sind, dieser aber ist die Funktion des Gehirns, also »zerebral«. Diese beiden Bestandteile der Sinnenwelt erkannt und geschieden, Stoff und Form derselben (Empfindung und Anschauung) zum ersten Mal richtig gesondert zu haben, ist eines der unsterblichen Verdienste Kants, denn vor ihm hat es keiner vermocht.
2. Da nun die abstrakten oder allgemeinen Vorstellungen (Begriffe) aus den sinnlichen, diese aber aus den Funktionen der Sinnesorgane und des Zentralorgans hervorgehen, so folgt, dass unsere gesamte Erkenntnis ein Produkt unserer leiblichen Organisation, der Intellekt also abgeleiteter und sekundärer Art ist und keineswegs ein ursprüngliches Wesen. Es ist daher verkehrt und grundfalsch, wenn die Funktion hypostasiert und unter dem Namen »Seele« eine einfache denkende, mit Vorstellungskräften begabte Substanz fingiert wird, welche die Vorstellungen und Begriffe aus sich, unabhängig vom Leib, hervorbringen soll. Die Lehre von der Seelensubstanz, d. h. die rationale Psychologie für immer widerlegt zu haben, gehört ebenfalls zu den unvergänglichen Taten der kantischen Kritik.
Dass der Intellekt sekundär und die Seele eine Fiktion ist, war eine der Grundüberzeugungen, welche in Schopenhauer feststanden, bevor er sein Hauptwerk ausführte. Zu der Befestigung dieser Grundansicht hat das Studium der französischen Sensualisten, insbesondere das des französischen Arztes P. J. G. Cabanis in seinem Werke »Rapports du physique et du moral de l’homme« (1802)146 das meiste beigetragen; dazu kamen das von Schopenhauer oft und hochgepriesene Werk »De l’esprit« von Helvetius (1754), die Schriften Voltaires und die jüngsten Untersuchungen des französischen Physiologen Flourens über das Verhältnis des Intellekts zum Gehirn.147
3. Wenn aber alles Erkennen ein Produkt der leiblichen Organisation ist, so sah er sich jetzt vor die Frage gestellt: woher der Leib und sein Dasein? Dass dieser als eine Gruppierung materieller Atome aufzufassen und lediglich mechanisch und chemisch zu erklären sei, diese scheinbar nächste Erklärungsart, die materialistische, ist ihm stets als die seichteste, vielmehr als gar keine erschienen, und er hat sie später, als sie in Flor stand, gern als »die Barbiergesellenphilosophie« bezeichnet.
Die Frage musste sich ihm generalisieren. Die Leiber sind Körper und sie bilden einen Teil der Körperwelt, der Sinnenwelt, die durchgängig den Charakter der Erscheinung oder Vorstellung hat. Was liegt den Erscheinungen zugrunde? Was ist, kantisch zu reden, »das Ding an sich«? das wahrhaft Reale? Diese Frage fällt zusammen mit dem Grundthema aller Metaphysik, mit dem Rätsel des Daseins: sie enthält das Problem, welches Kant in seiner Tiefe erfasst und richtiggestellt, aber nicht gelöst, nicht zu Ende gedacht habe, auch keiner nach ihm, ausgenommen Schopenhauer allein.
Was in uns dem Intellekt zugrunde liegt, denselben macht, hervortreibt und steigert, ist der Wille: dieser Primat des Willens in uns ist die unmittelbarste und gewisseste aller Tatsachen; der Intellekt ist die Funktion des Gehirns und die Frucht des Willens. Wenn aber unsere Erkenntnis ein organisches Produkt ist, welches im Willen wurzelt, so leuchtet mit zwingender Notwendigkeit ein: dass der Wille nicht bloß die Erkenntnis, sondern auch das Erkenntnisorgan hervorbringt, dass er nicht bloß motivierend, sondern auch organisierend verfährt, was er, wie sich von selbst versteht, nicht als Willkür oder mit Überlegung, sondern nur als blinder oder bewusstloser Wille vollbringen und leisten kann. Unser Leib ist demnach eine Willenserscheinung oder, wie Schopenhauer sich ausdrückt, eine »Willensobjektivation«; der Leib ist das unmittelbare, der Intellekt das mittelbare (nämlich durch die Organisation vermittelte und bedingte) Willensprodukt. Der Wille zu leben, auf diese bestimmte Art, unter diesen gewissen Bedingungen zu leben und leben zu müssen: dieser Wille ist es, der die Organe gestaltet, den Lebensbedingungen anpasst, verändert und durch Abstammung (Vererbung) und Anpassung neue Lebensformen oder Arten hervorruft, wie der französische Naturforscher de la Marck in seiner »Zoologie philosophique« (1809) und fünfzig Jahre später Charles Darwin in seinem epochemachenden Werk: »Von der natürlichen Entstehung der Arten« dargetan haben. La Marck hat auf die Ausbildung der Lehre Schopenhauers einen bemerkenswerten Einfluss ausgeübt, wogegen er Darwins Werk, welches er kurz vor seinem Tod las, nicht zu würdigen gewusst hat. (Er hat es wohl nur obenhin gelesen oder aus Berichten in den Times kennen gelernt, da er »platten Empirismus« und eine bloße Variante der Lehre La Marcks darin erblickte.)
4. Wenn nun in jeder Erscheinung sich eine bestimmte Willensart darstellt oder objektiviert, so enthält jede ihr eigenes Thema, ihre Wesenseigentümlichkeit, ihr charakteristisches Was (τό τί ἐστι): dieses in reiner begierdeloser Anschauung vorzustellen und abzubilden, ist die Sache des Genies, der Kunst und des Künstlers. Die Wesenseigentümlichkeit der Erscheinung als Gegenstand der künstlerischen Anschauung nennt Schopenhauer »die platonische Idee«. Hier greift die platonische Grundansicht, die zweite jener beiden oben erwähnten Grundüberzeugungen, in seine Lehre ein: auf der idealistischen beruht seine Erkenntnislehre, auf der platonischen seine Ästhetik und Kunstlehre.
5. Aus der sekundären Beschaffenheit des Intellekts und der primären des Willens ergibt sich nun diejenige Folgerung, welche das System erst zu einem Ganzen macht und zusammenschließt. Wenn der Wille unabhängig ist vom Intellekt, so ist er auch unabhängig von Zeit, Raum und Kausalität, als welche die Formen des Intellekts sind; so ist er auch unabhängig von aller Vielheit und Mannigfaltigkeit, als welche nur in Zeit und Raum sein können: demnach hat der Wille, der allen Erscheinungen zugrunde liegt, dieselben trägt und bewirkt, den Charakter der All-Einheit. Was unser eigenstes innerstes Selbst ausmacht, ist auch das innerste Selbst in jeder anderen Erscheinung, ist die alles durchdringende Urkraft, das Wesen der Welt, das All-Eine, »Ἕν ϰαὶ πᾶν«. Jetzt heißt das Thema: »Die Welt als Wille«. Die Ausführung desselben ist nicht Erscheinungs- und Erkenntnislehre, sondern Wesens- oder Prinzipienlehre, d. h. Metaphysik.
6. Die Erkenntnis aber, dass wir nicht, wie es den Anschein hat, getrennte Individuen, deren jedes für sich besteht, sondern in Wahrheit ein einziges Wesen sind, bricht den Einzelwillen, den Egoismus, die Selbstsucht, mit einem Worte die Bejahung des Willens zum Leben, und hat die Verneinung desselben zu ihrer Folge: die Selbstverleugnung, die völlige Weltentsagung, mit einem Worte diejenige Umwandlung des Charakters, welche das Wesen aller echten Moral und Religion ausmacht. Erst dadurch kommt das Heil und die Heiligkeit in die Welt. Vorher herrschen in ihr Unheil und Übel. Hier ist die Stelle, welche in der Lehre Schopenhauers den Pessimismus begründet. Die Erkenntnis des Guten gründet sich auf die des Wahren; die Ethik auf die Metaphysik.
7. Die pantheistische Lehre von dem All-Einen und dessen Entfaltung in der Welt und dem Stufengang der Dinge ist uralten Stammes: es ist die altindische Lehre vom Brahma (Brahm) als dem Ursein, welches identisch ist mit der Weltseele (Âtman) und unserem eigenen innersten Wesen. In dieser Lehre besteht die Religionsphilosophie des Brahmanismus, die Vedântaphilosophie, enthalten in den Upanischaden, den theosophischen Abhandlungen in den vier Teilen des Veda: die Einheitslehre ist ihr Kern und Geheimnis, der auserlesenste Inhalt der Upanischaden. Als solcher findet sich die Einheitslehre dargestellt in dem »Oupnek’hat«, welches ein persischer Fürst, der nach Indien gekommen war, um die heiligen Bücher kennen zu lernen, im Jahre 1640 unserer Zeitrechnung aus dem Sanskrit in seine Sprache übersetzen ließ. Aus dem Persischen hat der französische Sprach- und Altertumsforscher Anquetil du Perron, der Übersetzer des Zendavesta, jenes Werk ins Lateinische übertragen, in den unheilvollen Zeiten des Terrorismus, unter Entbehrungen aller Art, sich zum Trost und zur Erbauung. Die beiden Quartanten erschienen in den beiden ersten Jahren unseres Jahrhunderts.148
Dieses Werk hat Schopenhauer, der schon in Weimar zum Studium des indischen Altertums angeregt war, in Dresden studiert, er ist tief davon ergriffen und in dem pantheistischen Charakter seiner Willenslehre bestärkt worden. Als er später in den Besitz des seltenen Werkes gelangt war, hat er es stets auf seinem Tische aufgeschlagen gehabt, täglich darin gelesen und oft gesagt, dass es sein Trost im Leben gewesen sei und im Sterben sein werde.
8. Aus dem Brahmanismus und im Gegensatz zu ihm, unabhängig von aller vedischen Gelehrsamkeit und Philosophie, entsprang der Buddhismus, die Religion des Buddha, d. i. des Erweckten oder Wissenden, »des Allerherrlichst Vollendeten«, wie seine Gläubigen sagen: es ist der Glaube, dass in der Welt das Unheil herrsche und im Dasein wurzle, dass es eine Erlösung von der Qual des Daseins, von dem rastlosen Wechsel der Geburten und Wiedergeburten gebe, und zwar eine Erlösung für alle, dass dieselbe einzig und allein in der völligen Abwendung von der Welt, in der völligen Verneinung des Willens zum Leben, in der vollkommensten Selbstverleugnung mit allen ihren Tugenden bestehe, dass nur auf diesem Wege aus der Welt des Verlangens und der Gelüste in die des Nichts und der Stille, aus dem Sansara in das Nirwana gelangt werde. Der Stifter dieser Religion, nach der Legende ein Königssohn, in Wahrheit der Sprössling eines aristokratischen Geschlechts (Çakja), heißt als der Einsiedler dieses Geschlechts »Çakja muni«, als Büßer und Asket »Gautama«, als der Wissende und siegreich Vollendete »Buddha«. Aus seinen Schülern ist eine Gemeinde, aus dieser mit der Zeit eine Kirche, eine Hierarchie, eine Weltreligion, die der ostasiatischen Völker geworden, die heute den dritten Teil der Menschheit zu ihren Bekennern zählt.
In seiner pantheistischen Lehre von dem Einen, welches in allem lebt (Brahm = Âtman), ist Schopenhauer völlig einverstanden mit der Vedântaphilosophie und dem Oupnek’hat. In seiner pessimistischen, darum auch atheistischen Weltansicht, in dem Weg wie in dem Ziel der Erlösung stimmt er mit dem Buddhismus überein und fühlt sich in seiner Lehre wesentlich dadurch bestärkt, dass er die zahlreichste der Weltreligionen für sich hat.
Der eine Grundgedanke aber, in welchem die Ideen Schopenhauers als in ihrem Zentrum zusammentreffen, lässt sich in kürzester Fassung so aussprechen: Das Thema der Welt ist »die Selbsterkenntnis des Willens«. Dieser Grundgedanke teilt sich in zwei Hälften: »Die Welt als Vorstellung« und »Die Welt als Wille«. Daher nennt sich das Ganze: »Die Welt als Wille und Vorstellung«. Jedes der beiden Grundthemata teilt sich wiederum in zwei Betrachtungen; daher sich das Ganze in vier Bücher gliedert: »1. Der Welt als Vorstellung erste Betrachtung: die Vorstellung, unterworfen dem Satze vom Grunde: das Objekt der Erfahrung und Wissenschaft. 2. Der Welt als Wille erste Betrachtung: die Objektivation des Willens. 3. Der Welt als Vorstellung zweite Betrachtung: die Vorstellung, unabhängig vom Satz vom Grunde: Die platonische Idee: das Objekt der Kunst. 4. Der Welt als Wille zweite Betrachtung: bei erreichter Selbsterkenntnis Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben«. Diese vier Bücher lassen sich auch bezeichnen als Dianoiologie (Erkenntnislehre), Metaphysik, Ästhetik und Ethik.
Das erste Buch gründet sich auf die Kritik der reinen Vernunft, die Schopenhauer, wie schon erwähnt, damals nur in der zweiten Auflage kannte. Hier aber hatte er eine Reihe Mängel und Fehler gefunden, welche dargelegt und berichtigt werden mussten, um die idealistische Grundansicht in ihrer vollen und folgerichtigen Geltung festzustellen. Dies geschah in seiner »Kritik der kantischen Philosophie«, die er als »Anhang« dem System hinzufügte. So entstand sein Hauptwerk.
Alle bisherigen Schriften greifen ineinander und bilden eine zusammenhängende Gruppe. Die Abhandlung »über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde« dient zur Einleitung in das Ganze, das sich ohne dieselbe nicht verstehen lässt; die Schrift »über das Sehn und die Farben« gehört in das erste Kapitel des ersten Buchs und darf nicht so abgesondert genommen werden, wie der Verfasser später gewollt hat; der Anhang bezieht sich auf das erste Buch in seinem ganzen Umfange. So hat Schopenhauer selbst in seiner Vorrede (August 1818) den Zusammenhang jener Schriften bestimmt.
Die kantische Philosophie bezeichnet er in eben dieser Vorrede als die wichtigste Erscheinung seit zwei Jahrtausenden; ihre Wirkung auf den menschlichen Geist und dessen Weltansicht vergleicht er der Staroperation eines Blinden, sein Werk verhalte sich zu dem kantischen, wie die Starbrille zu der Staroperation. Um seine Lehre zu verstehen, müsse man seine beiden ersten Schriften gelesen, die Hauptwerke Kants studiert, womöglich auch »die Schule des göttlichen Plato« kennen gelernt und die Wohltaten der Vedas empfangen haben. Er vermute, dass die Sanskritliteratur sich zum neunzehnten Jahrhundert verhalten werde wie die griechische zum sechzehnten, eine Vorhersagung, welche in diesem Umfange sich weder erfüllt hat noch erfüllen konnte. Seine Vorrede schloss mit den Worten: »Das Leben ist kurz und die Wahrheit wirkt ferne und lebt lange: sagen wir die Wahrheit«.
Wo die Vorrede in die ironische Tonart fällt, indem sie den Lesern, die das Buch nicht zu verstehen imstande sind, andere Arten der Verwendung empfiehlt, da spürt man den Einfluss der Lektüre Tiecks und ist an den Traum des Diplomaten in »des Lebens Überfluss« erinnert.
Schon den 28. März 1818 hatte Schopenhauer dem Buchhändler Arnold Brockhaus, der kurz vorher von Altenburg nach Leipzig übergesiedelt war, den Verlag seines Werkes angetragen, das er als eine im höchsten Grade zusammenhängende Gedankenreihe kennzeichnete, die bisher noch nie in irgendeines Menschen Kopf gekommen sei, fern von dem hochtönenden, leeren, sinnlosen Wortschwall der neueren philosophischen Schule. Die Bedingungen, nach welchen das Buch in einem Umfang von vierzig Bogen in achthundert Exemplaren zur Michaelismesse erscheinen und der Verfasser einen Dukaten für den Bogen erhalten sollte, wurden ohne weiteres angenommen, da der Verleger von befreundeter Seite schon auf das Werk aufmerksam gemacht und günstig gestimmt war. Als aber in der Druckerei zu Altenburg Hemmungen eintraten, an denen der Verleger nicht die mindeste Schuld trug, wurde Schopenhauer nach seiner gewohnten Art von Ungeduld, Misstrauen und Argwohn dergestalt überwältigt, dass er die ehrenrührigsten Briefe an Brockhaus schrieb, bis dieser zuletzt allen Verkehr mit ihm abbrach und sich die weitere Korrespondenz verbat (24. September). Den letzten Druckbogen erhielt der Verfasser den 12. Dezember, als er nicht mehr in Dresden war. Das Werk erschien mit der Jahreszahl 1819.149
Noch ehe er die Vorrede geschrieben hatte, kündigte er Goethe in dem letzten seiner Briefe (den 23. Juni 1818) sein Werk an und nannte den Titel, den außer ihm selbst und dem Verleger noch kein Mensch wisse. »Nach mehr als vierjähriger Arbeit hier in Dresden habe ich das Tagewerk meiner Hände vollbracht und so fürs erste das Ächzen und das Krächzen abgetan.« »Mein Werk ist die Frucht nicht nur meines hiesigen Aufenthalts, sondern gewissermaßen meines Lebens, denn ich glaube nicht, dass ich je etwas Besseres oder Gehaltvolleres zustande bringen werde, und bin der Meinung, das Helvetius recht hat zu sagen, dass bis zum dreißigsten, höchstens fünfunddreißigsten Jahr im Menschen durch den Eindruck der Welt alle Gedanken erregt sind, deren er fähig ist, und alles, was er später liefert, immer nur die Entwicklung jener Gedanken ist.« »Ich kann nach unsern einstigen philosophischen Dialogen nicht umhin, mir viel Hoffnung auf Ihren Beifall zu machen, falls Sie noch die Geduld haben, sich in einen fremden Gedankengang hineinzulesen.« »Meinen Weg über Weimar zu nehmen«, schrieb er in demselben Brief, »verhindern bekannte Missverhältnisse, so gern ich auch meine Schwester sähe, die ein außerordentliches Mädchen geworden sein muss, wie ich nach ihren Briefen urteile und nach ausgeschnittenen Figuren mit poetischem Text, welche mir Graf Pückler mit Ekstase vorzeigte. Der ist übrigens ein geistreicher Mensch, und ich freue mich, ihn in Rom wiederzufinden.«
II. Die italienische Reise
1. Venedig und Rom
Seit dem Wechsel der Laufbahn waren elf Jahre verflossen. Jetzt war das Ziel erreicht und die Aufgabe seines Lebens in der Hauptsache gelöst. Seines Werkes froh, seines Ruhmes gewiss und einer längeren Erholung bedürftig, verließ Schopenhauer Dresden den 22. September 1818 und eilte in das gelobte Land Italien, für dessen Sprache und Literatur sein Interesse schon durch Fernow lebhaft erregt war. Bei seiner außerordentlichen Sprachbegabung ist es ihm während eines Aufenthaltes von nur acht Monaten gelungen, sich die italienische Sprache sogar in einigen ihrer Mundarten anzueignen.
Die Reise ging über Wien und Triest nach Venedig, von dort über Bologna und Florenz nach Rom, dann nach Neapel und Bajä, Pompeji und Herkulanum, und führte ihn bis Pästum, wo er »mit Ehrfurcht die Tempel erblickte, die vielleicht Plato betreten habe«. Im Laufe des Dezember kommt er nach Rom, wo er die nächsten Monate bleibt und wohin er im April 1819 zurückkehrt, nachdem er den März in Neapel zugebracht hat. Noch vor Ablauf des Jahres hat er in Rom durch Freund Quandt das erste gedruckte Exemplar seines Werks erhalten. Er fühlt sich in Rom nicht heimisch. Die moderne Stadt und die damaligen Künstlerkreise neuchristlicher und deutschtümelnder Art stießen ihn ab und waren gar nicht geneigt, den »Jupiter tonans« humoristisch gelten zu lassen wie die Dresdner Schöngeister. Bald zirkulierten schlimme Gerüchte über seine Impietät gegen die Mutter, seinen Unpatriotismus und seinen Unglauben.150
Dagegen war sein Aufenthalt in Venedig, wo er im Herbst 1818 und im Mai des folgenden Jahres verweilte, voll zauberischer Eindrücke; er hat in dieser märchenhaften Stadt einen Liebestraum genossen, der in seinem Leben wohl nicht der erste, auch nicht der letzte, aber vielleicht der glücklichste und erinnerungsreichste gewesen ist. Seine Schwester war von der weichen Stimmung überrascht, in welcher seine Briefe von dem geliebten Venedig und seinen dortigen Erlebnissen redeten, sie hatte ihm so leidenschaftliche Gefühle gar nicht zugetraut. Nach seiner Schilderung war die Geliebte reich und von Stand, auch bereit, ihm zu folgen, sodass einer Heirat nichts im Weg stand als sein Widerwille gegen die Ehe.