Kitabı oku: «Die letzte Seele», sayfa 5

Yazı tipi:

Paul hatte Mühe, Jerome gedanklich zu folgen. Die Menge der Wörter, die auf ihn einstürzten und das Tempo, mit dem sie durch den Hörer jagten, verblüfft ihn.

Party.

Heute Abend.

Okay, okay, soweit hatte er es auf die Reihe gekriegt.

Jerome plapperte munter weiter.

„Ihr kommt also, ja? Wäre echt schade, wenn nicht. Wird bestimmt lustig. Wir grillen, und die Weiber können nach Herzenslust tratschen.“

„Ich tratsche nicht.“

Die Stimme war leise. Paul vermutete, dass sie Patrizia gehörte.

„Sag ihm bitte, dass sie einen ordentlichen Durst mitbringen sollen! Kannst du das machen?“ Die Vermutung schien richtig zu sein.

„Ich soll dir von Patrizia ausrichten …“

„Nicht nötig. Ich hab’s schon verstanden.“

„Er hat’s verstanden“, gab Jerome weiter.

„Fein. Dann bis heute Abend!“

„Bis heute Abend“, sagte auch Jerome und legte auf, ehe Paul protestieren konnte.

Uff. Watt `n nu?

Jetzt habe ich aber gehörig in die Scheiße gegriffen, verflixt und zugenäht! Wie komm ich da nur wieder raus? Vielleicht ist es besser, ihn anzurufen und ihm die Wahrheit aufzutischen? Ich glaube, er verdient sie. Die Frage ist nur, ob ich dazu imstande bin. Eher nicht. Vergessen wir das lieber. Also gut, und was bleibt mir übrig?

Nach reiflicher Überlegung entschied er, hinzufahren. Wollen mal sehen, wie sich alles entwickelt. Früher oder später werden sie es ohnehin erfahren. Und ich werde wesentlich besser dastehen, wenn ich den Zeitpunkt dafür bestimme. Während des Gesprächs hatte er befürchtet, Jeannines ständige Präsenz könnte ihn zerbrechen. Seltsamerweise geschah genau das Gegenteil: Er erfreute sich bester Laune, und das Gespräch schien sie sogar noch verbessert zu haben. Ein über alle Maßen entzückender Tag war das heute. Oh ja, das war er. Und wie er das war! Paul fühlte sich verdammt gut. Er hätte Bäume mitsamt Wurzeln ausreißen können. Und das Beste: Er spürte, dass er den Zenit noch nicht erreicht hatte.

Er stöpselte das Mobilteil in die Ladestation, registrierte, dass das Akkuzeichen aufleuchtete und stimmte eine fröhliche Melodie an. Er pfiff sowohl laut als auch falsch. Eine Melodie zu halten war noch nie seine Stärke gewesen. Und irgendwann kam ihm die phänomenale Idee, die Stereoanlage wieder so weit aufzudrehen, bis die Wände wackelten. Schon donnerte, einem Güterzug gleich, Motörhead mit „Orgasmatron“ durch das Wohnzimmer.

Ist das Leben nicht herrlich, fragte Paul sich, während eine Zigarette in seiner Hand qualmte.

Das Arbeitszimmer sah anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die Sonne beleuchtete ein Kauderwelsch aus herumliegendem Trödel. Der Teppich war über und über mit Schnipseln besäht. Erst bei näherem Hinsehen sah Paul, dass es sich um seine eigenen Manuskripte handelte. Er hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, die Romane, die er beendet hatte, für sich selbst auszudrucken. Er war da sentimental. Für ihn war es wichtig, sie daheim in seinem Arbeitszimmer unter einer Glasvitrine zu wissen.

Wenn er von dem Tohuwabohu nicht so überrascht gewesen wäre, hätte er vielleicht sogar die Zeit erübrigt, um die Blätter zu trauern. Da dem nun aber nicht so war, ließ er es und starrte im Zimmer umher.

Es sah aus wie nach einem Inferno. Aber da weder das Fenster zertrümmert noch die Tür ausgehebelt war, musste er selbst es gewesen sein. Und falls dem so war, war es ihm perfekt gelungen, es aus seinem Gedächtnis zu streichen.

Paul ließ seine Augen noch ein wenig über das Chaos streifen. Nicht nur Manuskripte bedeckten den Teppich. Nein, da lagen auch Dinge herum, die gar nicht ins Arbeitszimmer gehörten: Unterwäsche, dreckige und saubere, aber auch Klamotten, die Jeannine gehört hatten und die sie entweder vergessen hatte oder schlicht und einfach nicht mehr haben wollte. Letzteres konnte er sich allerdings nur schwer vorstellen. Schließlich war sie eine Frau, Junge, Junge, und was für eine! Und die haben nun mal diesen seltsamen, tief in ihren Genen verankerten Faible für alles, was man anziehen kann.

Was ihn am meisten schmerzte, war nicht der Anblick der Wäsche, sondern die Palme, die aus dem Topf gerissen und schon halb vertrocknet war. Die Manuskripte waren auf der Festplatte und brauchten nur wieder ausgedruckt zu werden. Aber die Palme war etwas, was ihm ans Herz gewachsen war. Paul hatte sie während ihres ersten gemeinsamen Urlaubs in der Karibik gekauft. Sie stand eingepfercht in einen viel zu kleinen Topf, war kaum höher als zwanzig Zentimeter, und der Händler hatte zehn Dollar achtzig dafür haben wollen. Paul hatte den Preis auf sagenhafte Sechsfünfzig heruntergeschraubt.

Nun begann eine wahre Odyssee. Da er die Palme schon zu Beginn des Urlaubes gekauft hatte, musste sie noch zweieinhalb Wochen im Hotelzimmer überleben. Und da begann der Kampf. Jedes Mal, wenn das Zimmermädchen saubermachen wollte, musste er sich heldenhaft vor ihr aufbauen. Sie wollte dieses Stück vertrocknetes Unkraut hochkantig aus dem Zimmer schmeißen. Und da der Zimmerservice immer zu unterschiedlichsten Zeiten eintrudelte, wiederholte dieses Schauspiel sich täglich. Bis zum Tag der Abreise war es ihm gelungen, seinen Schützling zu beschützen. Dann aber wurde es haarig: Zwei Überfahrten mit dem Schnellboot standen an, und danach ein Flug von zehn Stunden. Wohin mit dem kleinen Wicht? In die Reisetasche? Um Himmels Willen, bloß nicht!

Paul hatte, bevor er ernsthaft Schriftsteller wurde, auf einem Flughafen seine Brötchen verdient. Das befähigte ihn zu der Erkenntnis, dass die Reisetasche der denkbar schlechteste Ort war. Vor seinem geistigen Auge sah er bergeweise Koffer, die unter Zeitdruck hierhin und dorthin geworfen wurden: vom Transportband in den Flieger, vom Flieger wieder zurück aufs Band. Wohin aber dann? Etwa in den Rucksack? Keine schlechte Idee. Leider war der schon mit Videokamera, Fotoapparat, Flugtickets, Geldbörse und anderem Pipapo überfüllt. Nach stundenlangem Hin und Her (und nicht wenig zänkischem Gezeter Jeannettes) entschloss er sich schließlich, seinen Schützling einem dieser sauteuren weltweiten Zustelldienste anzuvertrauen.

Die Übergabe ging ja noch: Adresse angeben, Knete rausrücken, alles halb so schlimm. Aber das Warten danach! Zur Untätigkeit verdonnert, war es für ihn wie ein Marsch barfuß über glühende Kohlen. Und dabei immer diese Ungewissheit: Wird sie den Transport überstehen? Wird sie nicht vertrocknen? Die Zeit, bis das Paket endlich eintrudelte, war reine Folter.

Aber irgendwann trudelte sie ein. Jetzt würde sich zeigen, ob die Mühe sich gelohnt hatte. Paul balancierte das Paket wie eine Schüssel mit rohen Eiern. Er betete inbrünstig, jeder, der seine Finger an dem Karton gehabt hatte, möge sich nach den Aufklebern „Nicht werfen!“ und „Nicht schütteln!“ gerichtet haben. Behutsam öffnete er das Paket. Neben ihm stand eine Gießkanne, randvoll mit Wasser.

Als er die Palme dem Zustelldienst anvertraut hatte, war seine Überlegung folgendermaßen gewesen: Sie hat eine Chance, den Transport unbeschadet zu überstehen, wenn es mir gelingt, sie in einen schützenden Kokon aus Styropor einzumauern. Nach einigen diesbezüglichen Versuchen, die ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, gelang es ihm schließlich, sie so zu verpacken, dass er es verantworten konnte, sie wegzuschicken. Vorsichtig schaufelte er die Styroporflocken beiseite und legte nach und nach die Pflanze frei. Bis jetzt machte es den Anschein, dass es ihr gutging. Behutsam hob er sie aus dem Karton und begutachtete jedes Blatt. Er sah dabei aus wie ein General, der, über die Landkarte gebeugt, über einer komplizierten Kriegsstrategie grübelte. Der Transport hatte nur drei Tage gedauert, und Paul, hatte alles ihm Mögliche getan. Jetzt, in den nächsten Tagen und Wochen, würde sich entscheiden, ob seine Mühe sich gelohnt hatte. Paul platzierte sie an einer sonnenverwöhnten Stelle, knipste die extra dafür gekaufte Rotlichtlampe an und zwang sich, ihr die nötige Zeit zu geben, um sich einzugewöhnen.

Das war nun schon Jahre her, und in all dieser Zeit war es ihm gelungen, die Pflanze nicht nur aufzupäppeln, sondern auch größer und kräftiger werden zu lassen.

All das ging ihm durch den Kopf, als er jetzt die Überreste seines Schützlings auf dem Schreibtisch liegen sah. Er hatte Herzblut in die Pflege dieser Pflanze gesteckt und sich selbst mehr als einmal dabei ertappt, dass er mit ihr redete – etwa so, wie ein Hundebesitzer mit seinem vierbeinigen Begleiter redet. Der Hund kann nichts erwidern, aber er ist da, wenn man ihn braucht. Das macht ihn zu einem Freund. Und genau das war die Pflanze für Paul gewesen.

Aber nicht nur die Palme, auch das Aquarium war ein Opfer der Gewalt geworden. Auch das hatte er gehegt und gepflegt, und jetzt war es ein Trümmerhaufen. Langsam verwandelte seine Traurigkeit sich in Wut, und da alles darauf deutete, dass er selbst der Übeltäter war, war er kurzerhand auf sich selbst wütend. Er war wütend, weil er den Sinn seiner Tat nicht begriff. Und weil jetzt, nach dem triumphalen Glücksgefühl der letzten Minuten, unweigerlich der Absturz folgen würde.

Zwischen den wildverstreuten Sachen fiel sein Laptop fast nicht auf. Schließlich kam es auf einen Gegenstand mehr oder weniger nun auch nicht mehr an. Paul seufzte, machte kehrt und verließ das Zimmer. Der Anblick der sterbenden Palme hatte ihn getroffen, ihn wütend gemacht. Die toten Pflanzen und Fische neben den Scherben wollte er so schnell wie möglich aus dem Kopf haben. Wie qualvoll musste ihr Sterben gewesen sein!

Mit hängendem Kopf watschelte er ins Wohnzimmer, warf sich rücklings auf die Couch und versuchte, sich mit animalischem Hin- und Herzappen durch das Fernsehprogramm abzulenken.

Zwei Stunden lag er so da, doch seine Wut wollte nicht verrauchen. Er hüpfte hin und her zwischen Sportübertragungen, Nachrichten und Spielfilmen, die doppelt so alt waren wie er selbst. Seine Laune war mies, sehr mies sogar. Er hatte eigentlich froh sein wollen. Die letzte Zeit war schwer genug gewesen. Hatte er da nicht etwas Euphorie verdient? Aber so sehr er auch versuchte, immer wieder stand das Bild des verwüsteten Arbeitszimmers ihm vor den Augen: die vertrocknete Palme, das zersplitterte Glas, die toten Fische auf dem Teppich. Und seine Manuskripte, die er wie ein Huhn gerupft hatte. Das einzige, wovon er sich etwas Linderung versprach, stand gutgekühlt in der Minibar im Keller. Aber er wollte nicht schon wieder trinken. Jedenfalls jetzt noch nicht …

Während er so dalag und Löcher in die Luft starrte, kam ihm eine Idee. Sie war schlicht und einfach: Er musste einfach nur genau das tun, was er getan hatte, als seine Laune besser gewesen war. Nicht mehr und nicht weniger. Dann würde es ihm gut gehen. Konnte das so einfach sein?

Da er gerade nichts Besseres zu tun hatte, stand er auf und lief zum CD-Player. Vielleicht gelang es ja Brian Johnson mit seiner Reibeisenstimme, seinen Missmut wegzugrölen. Paul drehte die Anlage voll auf und katapultierte sich in den nächsten Sessel. So viel dazu, dachte er, lassen wir unser Wundermittelchen am besten mal wirken!

Die Lautstärke war ohrenbetäubend. Der Bass dröhnte bis in seine Eingeweide, die Gitarren quietschten und quäkten, und die Boxen schienen von alldem überfordert zu sein. Obwohl er vermutete, davon hammermäßige Kopfschmerzen zu bekommen, fiel es Paul im Traum nicht ein, die Anlage leiser zu drehen. Die Musik musste mit brachialer Gewalt auf ihn wirken. Bis in jede Faser seines Körpers sollte sie dringen.

Eine halbe Stunde verging.

Und eine weitere.

Mittlerweile war die CD zu Ende, und er hatte AC-DC gegen Iron Maiden eingetauscht: „Seventh Son of a Seventh Son“. Seiner Meinung nach ein superhypergeiles Album. Er hatte das aus dem Jargon seiner Tochter aufgeschnappt; allerdings war für sie nur Popmusik superhypergeil.

Die ersten Töne waren kaum erklungen, da spürte er, wie sich etwas in ihm regte. Anfangs glaubte er, Blähungen zu bekommen, aber schon beim dritten Song begriff er, dass es keine Blähungen waren, sondern dass ihm einfach ein wenig wohler ums Herz wurde.

Paul tastete nach der Fernbedienung. Er wollte die Lautstärke noch mehr aufdrehen. Doch es stand bereits auf Maximum. Da das Ding unnütz war, flog es in die nächstbeste Ecke. Seine Stimmung wurde zusehends besser, und „Can I Play with Madness“ sang er schon lauthals mit. Dass er keine einzige Note halten konnte, störte ihn nicht. Und beim fünften Song ertappte er sich, wie er die „Jungfrauen“ auf einer unsichtbaren Gitarre begleitete. Da hielt es ihn nicht mehr im Sessel und er schnellte wie an einem Gummiband hoch.

Als das Telefon klingelte, hörte er es gar nicht. Er rannte durchs Zimmer wie über eine Bühne und kugelte sich auf dem Teppich, wobei er immer noch auf der unsichtbaren Gitarre spielte und den Text mitträllerte.

Mittlerweile war es dunkel. Paul stand im Bad und rasierte sich. Die untere Gesichtshälfte war unter Schaum begraben, dennoch hatte er es sich nicht nehmen lassen, eine Zigarette zu rauchen. Sie steckte zwischen seinen Lippen und qualmte um den Schaum herum. Langsam schabte er über die Bartstoppeln. Ratsch. Schab. Ratsch. Schab. Aus dem Badlautsprecher dudelte Musik. Diesmal aber leiser.

Nach der Rasur kam sein Grinsen wieder zum Vorschein. Er hielt kurz inne und betrachtete sich im Spiegel. Dann grinste er noch ein wenig breiter und schabte weiter. Wie schnell sich alles ändern konnte! Noch vor Tagen war ich der festen Überzeugung, eine glückliche Ehe zu führen. Tags darauf verlässt sie mich, wieder einen Tag später halte ich den Schmerz kaum aus, verliere fast den Verstand, und schließlich geht es mir wieder richtig gut. Blendend sogar.

Sein Gesicht war vom Schaum befreit, und er zeigte seinem Spiegelbild kampflustig die Zähne. Dieses tat es ihm sogleich nach, und Paul lachte es daraufhin frech an. Die rasierte Haut brannte, aber das war normal. Er klatschte sich Rasierwasser ins Gesicht, jaulte wie ein Hund und musterte sich im Spiegel.

Für einen Mann in seinem Alter sah er noch ganz passabel aus. Zugegeben, sein Bauch war runder geworden, die Haut hatte ein paar Fältchen, und wenn er sich eine Woche nicht rasierte, hatte er mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf. Trotzdem fühlte er sich noch jung.

„Und das ist schließlich die Hauptsache“, sagte er zu seinem Spiegelbild und das schien seiner Meinung zu sein, denn es tat nichts, was irgendeinen Protest andeutete. Es grinste ihn nur frech an.

Paul spülte das Gesicht, wischte den restlichen Schaum ab, steckte seinem Spiegelbild die Zunge raus, drehte sich um und verließ das Bad.

Der Porsche brummte über die dunkle Landstraße. Es fiel Regen, aber das tat Pauls guter Laune keinen Abbruch. Fasziniert beobachtete er, wie die Tropfen auf der Windschutzscheibe der Schwerkraft trotzten und aufwärts flossen. Schon als Kind war das immer so etwas wie ein kleines Wunder für ihn gewesen. Bis er dann älter wurde und den logischen Grund begriff. Danach verlor das Phänomen etwas seine Faszination. Und bis heute Abend schien dieser Teil, den er sich tief in seinem Inneren bewahrt hatte, geruht zu haben. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass sich daran etwas geändert hatte. Aber vielleicht war das ja gut so. Vielleicht bewahrt ja jeder Erwachsene einen kleinen Teil seiner Kindheit in sich auf.

Nach dem Bad war er in gute Klamotten gesprungen. Die Rolex hing locker an seinem Handgelenk. Er war nicht großkotzig, er hatte nur Lust, sie zu tragen. Und er hatte sagenhafte zwei Minuten darauf verwendet, sein Haar nach hinten zu gelen wie ein Zuhälter. Es fehlte nur noch der Zopf, das Hemd offen bis zum Bauchnabel und hautenge Jeans, die einem die Eier quetschten.

Der Scheibenwischer tat träge seinen Dienst und der Motor brummte vergnügt. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit und die Straße glänzte wie ein Edelstein. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet, und Paul lenkte den Porsche mittendurch; dabei quietschte er vor Vergnügen, wenn das Wasser zur Seite spritzte.

Paul wusste, dass er für die Witterungsverhältnisse zu schnell fuhr. Doch statt zu bremsen, erhöhte er noch die Geschwindigkeit. Es erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue, wie schnell der Wagen beschleunigte. Seine Kraft war erstaunlich. Wo holte er das nur her? Natürlich wusste er, wie viele Pferdestärken dieser Teufelsschlitten unter der Haube hatte, aber das waren nur Zahlen. Ob nun dreihundert oder vierhundert PS – die Kraft, die daraus hervorsprang, war das Faszinierende. Dieses Gefühl, wenn er das Gaspedal nur leicht durchtrat. Atemberaubend. Mit nichts zu vergleichen.

Er ließ auf der Beifahrerseite das Fenster herunter, schaltete das Radio aus und gab noch mehr Gas. Mittlerweile raste er wie ein Pfeil durch die Dunkelheit. Ein hundertachtzig Sachen schneller Pfeil. Jetzt, da das Fenster offen war, hörte er noch besser den satten Sound. Und weil der Fahrtwind an der Karosserie vorbeipfiff, klang es sogar noch um einiges besser. Zugegeben, der Wind kam gegen den Motor nicht an. Aber dennoch hörte er eine wahre Sinfonie aus herzhaftem Brummen und zierlichem Brausen.

Mit einem Mal verlor er den Kontakt zur Straße und rutschte in Richtung Straßengraben. Augenblicklich setzte sein Herz einen Schlag aus, um dann dreimal so schnell weiterzuschlagen, und er spürte einen seltsamen Druck in den Innereien, als würden seine Eingeweide nach außen gerissen. Obwohl es vorhersehbar war, dass so etwas geschehen würde, geriet er in Panik. Er spürte, dass die Räder keinen Kontakt mehr zum Asphalt hatten und nur noch über das Wasser rutschten wie die Kufen eines Schlittschuhs. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Aber Paul bewies Geistesgegenwart, denn er ignorierte den Anflug von Panik und ging behutsam vom Gas. Und er beherrschte sich sogar so weit, nicht auf die Bremse zu treten, denn das wäre fatal gewesen.

Es konnte sich nur um eine Sekunde gehandelt haben. Eine einzige Sekunde von dem Augenblick an, als er den Bodenkontakt verlor bis zu dem, als er vom Gas ging. Kaum länger als ein Wimpernschlag, aber ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Das Gefühl zu fliegen verging nicht, und das bedeutete gewiss nichts Gutes. Groteskerweise trug er die ganze Zeit ein dümmliches Grinsen im Gesicht.

So plötzlich, wie der Kontakt zur Straße verschwunden war, war er wieder da. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, und er bekam einen Schweißausbruch. Eine Sekunde lang verspürte er den törichten Drang, wieder Gas zu geben. Da er aber trotz allem nicht lebensmüde war, verkniff er es sich und verringerte das Tempo. Der Zwischenfall zerstörte seine gute Laune nicht, machte ihn aber vorsichtiger. Paul schloss das Fenster, schaltete das Radio wieder ein und fuhr stumm durch die Nacht. Der Motor verrichtete seinen Dienst nun nicht mehr so laut wie zuvor und schien darüber gar nicht erfreut zu sein. Allem Anschein nach betrachtete er es als seinen Job, ordentlich Krach zu machen.

Paul bekam plötzlich eine schier unbändige Lust nach einer Zigarre. Er wollte unbedingt einen aromatischen Donnerbalken zwischen den Zähnen haben. Wie lange hab ich schon keine Zigarre mehr gepafft?

Er dachte nach. Es war zehn vor elf, die Geschäfte hatten geschlossen. Aber wenn er einen Umweg von zwanzig Kilometern machte, kam er zur nächsten Tanke. Dauert höchstens ’ne Viertelstunde, so lange wird Jerome ja noch warten können, oder?

Es dauerte nur achtzehneinhalb Minuten, und er war wieder an der Abbiegung. Zwar später als erwartet, aber immer noch in einer annehmbaren Zeit. Paul setzte den rechten Blinker, bog ab und fuhr wieder in die ursprüngliche Richtung. Hochzufrieden mit seiner Leistung, saß er hinterm Steuer. Er hatte bekommen, was er wollte und fühlte sich großartig.

Der Rest des Weges verlief ohne Abenteuer. Er widerstand der Versuchung, das Gaspedal durchzutreten. Das mit der Raserei wäre vorhin ja fast ins Auge gegangen. Gott sei Dank war nichts passiert. Einen Moment überlegte er, was er antworten würde, wenn man ihn nach Jeannine fragte. Dass das geschah, war möglich, schließlich war sie ja auch eingeladen. Darüber wollte er sich jetzt aber nicht den Kopf zerbrechen.

Eine halbe Stunde später fuhr er die Einfahrt zu Jeromes Grundstück hinauf. Mittlerweile war der Regen in ein strömendes Gießen übergegangen. Was er sah, überraschte ihn: Das Haus war vom Giebel bis zum Keller mit Lichterketten behangen, sogar die Tannen waren geschmückt. Ein Meer aus roten, grünen, blauen, weißen und gelben Lichtern.

Langsam fuhr er die Einfahrt hinauf. Auf den letzten Kilometern hatte er etwas Bammel bekommen und war mehr als einmal wildentschlossen gewesen, umzukehren, heimzufahren, auf Jerome zu scheißen. Aber damit hätte er das Unvermeidliche nur hinausgezögert. Und heute konnte er es nicht nur herausfordern, sondern auch die Art und Weise wählen, wie sie es erfahren sollten.

Er ließ den Motor noch ein paar Sekunden im Leerlauf brummen. So hatte er Zeit, sich zu sammeln, tief einzuatmen und sich gegen das zu wappnen, was da kommen möge. Auf einmal kreischte eine seiner inneren Stimmen: Was zum Teufel tust du hier? Verschwinde, so schnell du kannst!

Die Stimme kam so überraschend, dass Paul zusammenzuckte – nicht nur, weil sie sich unaufgefordert zu Wort meldete, sondern auch, weil sie verdammt Recht hatte. Was, zum Teufel tat er eigentlich hier?

Noch wusste niemand, dass er hier war. Einfach zu verschwinden wäre kein großer Akt: Ersten Gang einlegen, Kupplung kommen lassen, auf der Einfahrt wenden und einfach wieder abhauen. Der Gedanke war verlockend. Aber so leicht wollte er es sich nicht machen. Das war der Weg, den Feiglinge einschlagen würden. Und er war kein Feigling. Und außerdem, was würde er damit erreichen? Nichts. Nicht die Bohne.

„Fick dich“, sagte er und knabberte an der Zigarre, die beruhigend zwischen seinen Zähnen wippte. Dann machte er erste Anstalten, sich aus dem Fahrzeug zu schälen. Den Weg vom Auto zur Eingangstür erlebte er wie in Trance.

Was zum Geier soll das? Mach, dass du wegkommst! Kauf dir ’n paar Bier, fahr heim und besauf dich ordentlich! Das ist das Beste, was du tun kannst! Hörst du denn nicht?

Anscheinend nicht, denn er spie ein giftiges: „Halt endlich dein elendiges Schandmaul! Ich sagte dir bereits, was du mich kannst. Oder?“ Mit diesen Worten drückte er auf die Klingel. Und nun glitt er auch wieder von dem tranceähnlichen Zustand zurück in die Wirklichkeit, wo er selbst Herr seiner Taten war.

Du hast noch zwei Sekunden …

„Klappe!“

Schon ertönten Schritte, und da es ohnehin zu spät war für einen Rückzug, verstummte die Stimme und verschwand dorthin, woher sie gekommen war. Paul zog den Rauch der Zigarre ein, und in diesem Moment wusste er, dass er das Richtige tat. Alle Zweifel waren weggewischt.

„Hi, Paulchen“, begrüßte ihn der Gastgeber, „schön, dass du kommen konntest.“

„Ja, ja“, murmelte Paul mit zusammengepressten Lippen. Angst und Unsicherheit waren wieder da, hatten ihn jetzt voll im Griff, als hätten sie nur kurz hinter seinem Rücken gelauert. Und beide arbeiteten Hand in Hand. Sie peinigten ihn, fesselten seine Gedanken an negative Dinge, und um ein Haar wäre er davongestürzt. Doch so schwer es ihm auch fiel – er riss sich zusammen, zog noch einmal an der Zigarre und legte ein Mir-scheißegal-Grinsen auf. Zwei Sekunden später stellte er mit Genugtuung fest, dass seinem Gegenüber vor Überraschung der Mund weit offen stand. Ungläubig starrte Jerome auf die Zigarre, die zwischen seinen Lippen wippte. Paul ließ ein paar Augenblicke in Würde verstreichen, genoss den verdatterten Blick und stand regungslos da.

„Du rauchst wieder? Ich dachte, du hast dem Tabak entsagt?“

„Wie du siehst.“

Wieder vergingen ein paar Sekunden, in denen die Männer sich schweigend gegenüberstanden. Teils lag es daran, dass Jerome von der Zigarre überrascht war, teils aber auch daran, weil Paul so lässig und selbstsicher wirkte. Das kannte man sonst gar nicht von ihm. Sonst war er ein eher stiller Typ. Aber jetzt wirkte er fast schon cool.

„Willst du mich nicht reinbitten?“

„Äh … was? Ach so.“

Während Paul an ihm vorbeischlenderte und zufrieden paffte, dachte er bei sich: Was bin ich doch für ein großartiger Schauspieler. Ich markiere hier den starken Mann, aber in Wirklichkeit mach ich mir vor Angst fast ins Hemd. Und er schickte ein Dankgebet an jeden Gott, von dem er je gehört hatte, während er zugleich darum bat, dass er nicht nach Jeannine gefragt würde.

Das Haus war groß, fast schon eine Villa. Es war von einer mächtigen Rasenfläche umgeben, die eine drei Meter hohe Mauer umschloss. Der Rasen war vereinzelt mit Sträuchern, schwarzem Holunder und Faulbäumen besetzt, und hier und da stand sogar eine Tanne. Das Grundstück war groß und prächtig, aber er war nichts im Vergleich zum Haus.

Schon im Vorzimmer ahnte der Besucher, dass sein Besitzer finanziell gut bestückt war. Direkt neben dem Eingang stand ein antikes Möbelstück, bei dem man nicht sicher sein konnte, ob es nur zur Dekoration da war oder ob man die Jacke hineinhängen konnte. Das Wohnzimmer war weitläufig wie ein Saal, aber nur spärlich möbliert. Ein großes, bequem aussehendes Sofa in der Mitte und ein riesiges Heimkino davor. Im hinteren Teil des Zimmers führte eine Wendeltreppe in den Keller, und ab da wurde es erst interessant. Den dort unten, wusste Paul, war ein riesiger Pool. Dieses Monster von einem Planschbecken erstreckte sich fast über dreißig Quadratmeter, und in der Mitte spie ein Springbrunnen Wasser nach oben. Durch Felsbrocken hatte man das Gefühl, auf den Seychellen zu relaxen. Palmen wuchsen hinauf bis zur Decke, und an die Wände war ein schier undurchdringlicher Dschungel in den sattesten Farben gepinselt. War das ein schnuckeliger Zeitvertreib! Vor allem in den kalten Monaten. Auch wenn sie dem einen oder anderen vielleicht großkotzig erschien – Jerome liebte seine Oase inbrünstig.

Paul hatte auch mal mit der Idee geliebäugelt, sich so etwas zuzulegen. Aber der Staub, der Schmutz und der Lärm der Bauarbeiten hatten ihn schnell wieder davon abgebracht. In den zwei oberen Etagen waren, wie er wusste, weitere Zimmer: das Esszimmer, zwei Schlafzimmer (eines davon für Gäste), die Kinderzimmer, die Bäder und, nicht zu vergessen, das wichtigste Zimmer überhaupt: das Arbeitszimmer. Alles war hübsch und geschmackvoll eingerichtet, aber lange nicht so spektakulär wie der Keller.

„Komm mit! Ich muss dir was Obergeiles zeigen. Mein kleiner Südseetraum ist wieder um eine Attraktion reicher!“

Paul grinste. Er wusste, was jetzt kam. In den Jahren war es fast schon ein Ritual geworden: Jedes Mal, wenn er Jerome besuchte, zeigte dieser ihm als erstes, was sich an seinem Südseetraum verändert hatte. Er platzte fast vor Stolz. Jetzt führte er ihn durch eine Reihe von Menschen hindurch (Paul kannte nicht annähernd die Hälfte) und ging zielstrebig zur Wendeltreppe. Er lief mit schnellem Schritt, und Paul hatte Mühe ihm zu folgen. Die Zigarre klemmte noch fester zwischen seinen Lippen. Er biss fast darauf. Es spendete ihm Sicherheit. Die fremden Gesichter ängstigten ihn. Es wusste, es war albern, aber er kam sich vor wie ein kleines Kind, dass in einer Menschenmenge seine Mama verloren hat.

Schließlich erreichten sie die Treppe. Auf der dritten Stufe saß ein Pärchen und knutschte; offensichtlich waren beide nicht mehr ganz nüchtern. Jerome hüstelte verlegen, und die Ertappten erhoben sich. Als Paul dann endlich sah, was Jerome ihm zeigen wollte, konnte er sich ein erstauntes „Hui“ nicht verkneifen.

Sie standen am Rand des riesigen Swimmingpools, die künstlichen Palmen im Rücken. Paul erfasste sofort, was sich verändert hatte. Guck einer an, ging es ihm durch den Kopf, Jerome ist tatsächlich ein paar Zentimeter gewachsen. Oder hob er vor Stolz fast vom Boden ab?

Jedes Haus braucht, damit es nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, Stützen. Normalerweise übernehmen diesen Jobs die Wände. Da der Keller aber fast nur ein riesiger Pool war, sah es hier unten mit Stützwänden spärlich aus. Also mussten dicke Stützpfeiler eingebaut werden. Und genau da lag der Hund begraben. Denn diese Pfeiler, so unentbehrlich sie auch sein mochten, zerstörten das Landschaftsbild. Wer will schon an einem Strand liegen, an dem ein Meter breite Betonpfeiler herumstehen? Jerome hatte schon manches versucht, sie zu kaschieren. Die Säulen waren gefliest worden, aber das gefiel ihm nicht. Er hatte Kletterpflanzen angebracht, aber auch das war nicht das Wahre. Jetzt war ihm endlich die Lösung eingefallen. Eine ziemlich geniale.

Paul Mund stand so weit offen wie ein Scheunentor.

„Sieht echt chic aus, oder?“

„Allerdings. Aber wie hast du das geschafft?“

„Einzelheiten erspare ich uns lieber. Das ist uns beiden eine Nummer zu hoch. Fachchinesisch.“

Jerome war es gelungen, um die Pfeiler herum eine Wand zu ziehen. Und nun lief auf dieser äußeren Haut das Wasser herab wie bei einem Wasserfall. Es plätscherte nur so drauflos. Und in dem entstandenen Hohlraum, also zwischen Pfeiler und Außenhaut, wurde das Wasser hochgepumpt, um wieder in den Wasserfall zu fallen. Einfach, aber genial. Jerome konnte stolz darauf sein.

Fünf Minuten später waren sie wieder oben. Paul war mit Händeschütteln und Hallosagen so beschäftigt, dass er außer Atem geriet. Sogar Menschen, denen er vorher noch nie begegnet war (und das waren nicht wenige), reichte er die Flosse. Er tat es ohne Scheu, und das überraschte ihn. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie ihm die Hände fast ins Gesicht hielten, damit er sie greifen und schütteln konnte.

„Michael ist mein Name.“

„George.“

„Angenehm. Ich heiße Vivienne.“

„Hi. Ich bin der Mark.“

„Freut mich. Ich bin der Jonas.“

Und so ging es immer weiter, die Namen purzelten nur so auf ihn ein. Eine Hand zerschnitt auffordernd die Luft und wurde gleich darauf von einer anderen abgelöst. Paul hatte längst den Überblick verloren und wusste gar nicht mehr, wer wer war. Normalerweise fühlte er sich in solchen Situationen unwohl. In einer dichten Menschenansammlung bekam er immer etwas, was man schon fast als Panikattacke bezeichnen konnte. Seltsamerweise war das hier nicht der Fall. Heute fühlte er sich nicht unwohl. Im Gegenteil, er genoss es. „Hallihallohallöle“, schmetterte er jedem entgegen und trompetete lautstark: „Paul, der bin ich“ zu jedem, der es wissen wollte.

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