Kitabı oku: «Die letzte Seele», sayfa 6

Yazı tipi:

Jetzt war Jerome wieder zur Stelle und packte ihn am Handgelenk. Er war gespannt, wo er ihn diesmal hinführen würde.

„Ich muss schon sagen, deine Feier ist gut besucht.“ Paul musste laut sprechen, um gegen das Stimmengemurmel anzukommen.

„Da hast du verdammt recht, alter Junge. Es sind fast alle gekommen, die ich kenne. Unter uns gesagt: fast schon einige zu viel für mein bescheidenes Heim. Man kann ja keinen Schritt gehen, ohne jemandem auf die Füße zu treten. Weil wir gerade davon sprechen: Wo hast du denn Jeannine gelassen? Geht es ihr nicht gut?“

Ach, du Scheiße. Was nun? Da Paul auf die Schnelle nichts einfallen wollte, stotterte er ein verlegenes „Ähm … ähm“, während er fieberhaft nachdachte. Nun war die Kacke am Dampfen. Was sollte er antworten? Du bist ein Idiot, tadelte er sich. Du hast doch gewusst, dass das kommt! Warum hast du dich nicht darauf vorbereitet? Es hätte vollauf genügt, wenn du dir irgendeine glaubhafte Ausrede hättest einfallen lassen. Und nun druckst du hier rum und weißt weder ein noch aus. Schöne Scheiße!

Während er weitergrübelte, schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Jerome stoppte, und Paul hätte ihn fast umgerannt. Glücklicherweise schien Jerome nicht mehr auf eine Antwort zu warten. Etwas hatte ihn abgelenkt. Er führte sein Gesicht nah an seines heran, und einen Augenblick glaubte Paul, er wollte ihn küssen. Das war natürlich albern. Aber dennoch war er drauf und dran, ein Stück zurückzuweichen. Und da flüsterte Jerome ihm ins Ohr (und der Teufel soll mich holen, wenn da nicht eine gehörige Portion Ehrfurcht und Stolz mitschwang): „Sieh dir den Burschen da drüben an! Ich schwöre dir, der wird mal ein Großer.“

Paul tat, was von ihm verlangt wurde.

Ihm gegenüber stand ein Typ Anfang zwanzig. Fast noch ein Milchbubi. Seine Hosenbeine waren so dünn, als hätte er gar keine Beine darunter. Sein Pullover war rotschwarz kariert, dass einem die Augen schmerzten, wenn man ihn länger als zehn Sekunden betrachtete. Der magere Rest schien ebenso kräftig zu sein wie die nicht vorhandenen Beine. Nur der Kopf fiel aus der Reihe. Der war phänomenal. Wenn der liebe Herrgott am restlichen Körper gespart hatte, als es an den Kopf ging, musste er in Spendierlaune gewesen sein. Er war viel zu groß für den Rest. Die ganze Erscheinung erinnerte an eine Spaghetti, auf die man eine Wassermelone gesteckt hatte. Dazu schmückte feuerrotes Haar dieses Haupt, und in seinem Gesicht stritten sich Pickel und Sommersprossen um die Vorherrschaft. Der arme Kerl konnte einem leid tun, beendete Paul seine Schnelleinschätzung. Der Typ war ihm zuwider, und er machte keinen Hehl daraus.

„Wer ist das denn? Der sieht ja zum Fürchten aus!“

„Zugegeben, er ist ein bisschen eigentümlich, aber …“

„Eigentümlich? Ich würde eher hässlich sagen! Wenn mein Gesicht so aussehen würde, wäre ich schon längst mit dem Kopf voran in eine Kreissäge gerannt. Und der traurige Rest … da fehlen mir einfach die Worte.“

„Ich weiß ja, was du meinst. Aber schreiben kann der Bengel, Junge, Junge, du kriegst die Tür nicht zu! Der versteht es, die Leser zu fesseln!“

„Aha.“ Pauls Begeisterung hielt sich in Grenzen.

„Wenn ich’s dir sage! Ich hab sein Manuskript gefressen. Mehr als achthundert Seiten in weniger als drei Tagen. Hab kaum gepennt.“

Schon wieder kam von Paul nur ein „Aha“. Allerdings klang es jetzt anders. Er kannte Jerome und wusste, wie er tickte. Auch er, Paul, war damals von ihm entdeckt worden. Er hatte Pauls steinigen Weg zu einem Verlag geebnet. Ihm war es zu verdanken, dass sein erstes Buch gedruckt worden war. Der Erfolg mit der Schreiberei, diese Seite der Medaille, gehörte Paul selbst, aber überhaupt erst die Chance bekommen zu haben, das gehörte allein Jerome. Also musste an diesem Burschen wohl was dran sein …

„Na schön, du meinst also, er hat was auf dem Kasten, ja? Was ist denn sein Genre?“

„Fantasy. Genau wie deins.“

„Genau wie meins“, wiederholte Paul. Er konnte nicht erklären, warum, aber mochte diese picklige Bohnenstange nicht.

„Hat er schon was veröffentlicht?“

„Hat er.“

„Und was?“

Paul bekam mehr und mehr den Eindruck, dass er verarscht wurde. Warum rückte Jerome nicht mit der Sprache raus? Muss ich ihm denn alles bröckchenweise aus der Nase ziehen? Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu fahren. Er merkte, wie seine Laune sank. Das durfte er nicht zulassen. Mit zitternden Händen führte er die Zigarre zum Mund. Schon nach dem ersten Zug beruhigte sich sein Puls.

„Er hat Vogelkind geschrieben.“

„Is nich wahr! Ehrlich?“

Diesmal war die Verblüffung echt. Mit so was hatte er nicht gerechnet. „Vogelkind“ hatte er erst vor kurzem gelesen, und er hatte nicht ohne Neid anerkannt, dass es das beste Buch war, das er seit langem gelesen hatte. Er war sogar überzeugt gewesen, selbst nie so etwas Geniales, Spannendes, Urkomisches und Ergreifendes zustande zu bringen. Das hatte er natürlich für sich behalten.

„Dein Gesicht verrät mir, dass du es kennst.“

„Na hör mal! Es ist in allen Bestsellerlisten eingeschlagen wie eine Atombombe. Es hat alles andere hinter sich gelassen.“

„Das ist noch nicht alles. Das Beste kommt noch.“ Jerome sprach hastig. „Ich hab ihn meinem Konkurrenten vor der Nase weggeschnappt. Na gut, weggeschnappt ist nicht das richtige Wort. Er wollte ihn nicht publizieren. Hat den Wert dieser Perle nicht erkannt.“

„Bei dir war das natürlich anders. Stimmt’s, oder hab ich recht? Du hast es natürlich von Anfang an gewusst, nicht wahr?“

„Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass das nicht stimmt. Die ersten hundert Seiten mussten noch überarbeitet werden, und darum war ich auch noch skeptisch. Aber dann hat mich ein Feuer gepackt, das mich bis zum letzten Wort nicht mehr losgelassen hat. Ich war begeistert und sagte ihm noch am gleichen Tag, dass ich es nehme. Keine vier Wochen später lag es druckreif vor mir. Der Rest war Kinderkram. Ein Verlag war schnell gefunden, und das andere kannst du dir denken. Wenn ich an die Provision für die zweite Auflage denke, macht mein Herz immer noch Freudensprünge!“

„Hat er schon was Neues?“

„Jo, hat er.“

Jeromes Gesicht verriet, dass auch diese Provision saftig ausfallen würde. Und das hatte er sich auch verdient. Schließlich war es nur ihm zu verdanken, dass hier ein neuer Stern am Autorenhimmel aufgegangen war.

„Jetzt aber genug getuschelt. Ich komm mir schon vor wie eine Frau. Lass uns zu ihm gehen.“

„Genau. Nicht, dass der Kleine sich noch einsam fühlt.“

Keine fünf Minuten später waren alle drei in ein munteres Gespräch vertieft. Paul stellte ein wenig schuldbewusst fest, dass sein Gegenüber ein amüsantes Kerlchen war, Stelzenbeine hin oder her, Hässlichkeit hin oder her. Er hatte sich mal wieder vorschnell eine Meinung gebildet. Schmunzelnd dachte er an den Moment, als seine Abneigung schwand: genau da, als der junge Kollege ihm erzählte, dass er jedes Buch von ihm gelesen hatte. Und er hatte sie nicht nur gelesen, sondern war von ihnen auch inspiriert worden.

„Sie sind es gewesen, der mich in die Welt des Schreibens geführt hat. Sie haben meine Welt mit Bildern erfüllt. Sie haben meinem Leben einen Sinn gegeben. Ich bin Ihr größter Fan.“

Danach war das Eis geschmolzen. Zugegeben, der Spruch war nicht sehr originell. Aber aus diesem Mund, dessen Besitzer etwas von seinem Handwerk verstand und wusste, wovon er sprach, bedeutete es ihm schon einiges. Es war Anerkennung unter Berufskollegen. Der putzige kleine Kerl wurde ihm immer sympathischer.

„Jungs, geht doch schon mal in den Wintergarten! Paul, du kennst ja den Weg.“ Mit diesen Worten erhob sich Jerome, stapfte zur Hausbar und mixte drei Gläser randvoll mit Teufelspisse, wie er es nannte. Das Gesöff trug den Namen mit Recht. Die genaue Mixtur hatte er noch niemandem verraten. Obwohl Jerome schnell wieder zu den beiden Goldeseln zurückwollte, wurde er ständig von anderen Gästen aufgehalten. Inzwischen hatten Paul und Vincent (so hieß der Picklige) es sich auf Stühlen bequem gemacht.

„Er ist `ne Wucht, oder?“ fragte Vincent.

„Wer? Jerome? Ja, das ist er. Ohne Frage.“

Sie unterhielten sich über dieses und jenes, rauchten ein paar Zigaretten (die Zigarre war längst aufgeraucht) und quatschten, als ob sie sich seit Jahren kannten. Irgendwann gesellte sich auch Jerome wieder zu ihnen.

„Die anderen labern nur über Fußball, das letzte Golfturnier und all dieses Pipapo.“ Er brachte drei randvolle Gläser und stellte sie auf den Tisch. Und als ob er eine Schicht im Bergwerk gearbeitet hätte, ließ er sich seufzend auf einen Stuhl fallen, schnorrte eine Kippe und qualmte vor sich hin.

Paul starrte wissend auf das Glas. Vincent, der nicht so recht wusste, was da vor ihm stand, sah nur einmal kurz hin und widmete sich dann wieder anderen Dingen. In der Nase bohren, zum Beispiel.

Jerome räusperte sich, hob das Glas und setzte zu einem Trinkspruch an.

„Lasst uns trinken! Auf neue Projekte und eine allseits gute Zusammenarbeit!“

„Kreativ enorm ausgereift, Jerome!“

Auch die anderen griffen nach den Gläsern, Paul etwas widerwilliger als Vincent, aber der wusste ja auch nicht, was ihn erwartete. Fast augenblicklich wurde Vincents Gesicht kahl und weiß wie eine Wand. Paul war es beim ersten Mal nicht anders ergangen.

„Meine Fresse, was ist denn das für ’n Giftcocktail? Der ist ja teuflisch!“

„Und genauso heißt er auch: Teufelspisse.“ Jerome amüsiert sich köstlich.

„Schmeckt so, als hättest du alles reingeschüttet, was du in der Bar hast. Und zur geschmacklichen Feinabstimmung noch einen Spritzer Motoröl hinterher, was? Junge, Junge, das Zeug hat’s in sich!“

Sein Gesicht war mittlerweile von aschfahl zu feuerrot übergegangen.

„Ich hab damals das Gleiche gesagt. Allerdings erst, nachdem ich mir die Lunge aus dem Hals gehustet hatte. Dieser Schweinehund rückt mit der Mixtur nicht raus! Er hütet sie wie Onkel Dagobert den Kreuzer Nummer Eins!“

Sie stimmten in ein herzhaftes Lachen ein; sogar Vincent schloss sich ihnen an, obwohl sein Hals brannte wie Hölle.

Eine halbe Stunde später mischten sie sich wieder unter die anderen Gäste. Man erzählte, scherzte, lachte. Auch Paul amüsierte sich. Der Abend entwickelte sich entgegen seiner anfänglichen Skepsis gut. Der befürchtete Fragenmarathon über den Verbleib von Jeannine blieb aus. Aber war das so überraschend? Schließlich waren die meisten Anwesenden Fremde und die, die er kannte, schienen mit sich selbst zu tun zu haben. Nur von Jerome und seiner Frau ging ein gewisses Risiko aus. Aber die waren mit anderen Gästen beschäftigt. Nur einmal wurde es kurz brenzlig.

Als sie im Wintergarten saßen, hatte Jerome ihn nach Jeannine gefragt – und da war guter Rat teuer gewesen. Aber obwohl er diesen Augenblick gefürchtet hatte wie der Teufel das Weihwasser, reagierte er mit einer Geistesgegenwart, die ihn selbst überraschte. Es war so einfach. Er setzte einfach ein sorgenvolles Gesicht auf und sagte: „Sie fühlt sich heut Abend nicht wohl.“ Wahrlich keine brillante Ausrede, doch Jerome schien sie zu schlucken. Er bestellte ihr liebe Grüße und gute Besserung, und damit war das Ganze gegessen.

Paul versenkte gerade den Blick in den Ausschnitt einer jungen Frau. Halt, hier bedarf es einer kleinen Richtigstellung, denn diese Öffnung als Ausschnitt zu bezeichnen, wäre nicht korrekt, schließlich ging sie ihr bis kurz unter den Nabel. Wenn sie sich nach vorn beugte (wie sie es gerade tat) meinte man, ihren schneeweißen Slip zu sehen. Paul war in diesen Ausschnitt versunken. Er war mit den Augen so tief hineingeklettert, dass er Vincent, der hinter ihm stand, gar nicht bemerkte.

„Paul, hast du nicht Lust, noch ein bisschen von dieser Teufelspisse zu süffeln?“ Vincent hätte gegen eine Wand sprechen können. Amüsiert beobachtete er, wie Paul fast die Augen aus den Höhlen fielen. Als nach zwanzig Sekunden noch immer keine Reaktion erfolgte, versuchte er es noch einmal.

„He, Paul! Fahr deine Radartüten wieder ein und schlag dir deine schweinischen Gedanken aus dem Kopf! Oder willst du hier mit einer Riesenbeule in der Hose rumlaufen?“

Tatsächlich, etwas regte sich in Pauls Hose. Er starrte blitzschnell woanders hin, doch in der Eile merkte er gar nicht, dass er längst wieder in ihr Dekolleté glotzte. Was ist nur mit mir los, verdammt? Die Antwort war einfach: Er war hammergeil. Er war scharf auf diese Frau. Er wollte sie haben. Er musste sie haben. Und am besten gleich hier und jetzt. Er wollte zu ihr gehen sie und ansprechen …

Doch stattdessen tat er das einzig Richtige: Er zwang sich, in eine andere Richtung zu sehen. Und das war bei diesem Bombendekolleté alles andere als einfach. So sehr er auch wegsehen wollte, sein Blick blieb auf den Vorbau gerichtet. Und sein Denken drehte sich nur noch um eins.

Paul schüttelte den Kopf. Es half nicht. Aber zum Glück gab es ja noch die Schmetterlingbrummer-Methode, und die musste einfach funktionieren. Hinter der Frau mit dem Ausschnitt bis zur Kniescheibe stand noch eine Frau. Und sie war das blanke Gegenteil. Sie war schätzungsweise Anfang sechzig, konnte aber auch gut und gern darüber hinaus sein. Ihr genaues Alter zu schätzen war schwer, wenn nicht unmöglich. Sie war geschminkt bis zum Gehtnichtmehr. Außerdem schien sie mehr als ein dutzend Mal geliftet worden zu sein. Sie war … nun ja, untersetzt. Das Schrecklichste an ihr aber war, dass sie einen Pelzmantel trug. Ob sie Angst hatte, sich zu erkälten? Egal. Sie musste für die Zwecke genügen. Sie war perfekt dafür.

Obwohl es ihn Überwindung kostete, versuchte Paul, sich die Frau nackt vorzustellen. Anfangs kehrten seine Gedanken immer wieder zurück zu dem Wahnsinnsausschnitt. Es war, als wehre sich sein Hirn. Aber er musste es tun, schließlich war er noch immer ein verheirateter Mann, und was würde Jerome sagen, wenn er dieser Braut nachstellte, während Jeannine mit Fieber oder weiß der Geier was im Bett lag? Also versuchte Paul etwas, was unmöglich schiefgehen konnte: Er stellte sich den alten Drachen nicht nur nackt vor, sondern zog ihr einen Tanga, einen aufreizenden Büstenhalter, feuerrote Lackschuhe und eine durchsichtige Strumpfhose über die runzlige Haut.

Zugegeben, es war fies von ihm. Aber es half. Und heiligt nicht die Not alle Mittel? Außerdem, warum sollte er ein schlechtes Gewissen haben? Schließlich würde die Frau nie erfahren, wozu er sie missbraucht hatte.

„Was? Was hast du gesagt?“

„Ich wollte nur wissen, ob wir uns noch mal an die Teufelspisse wagen wollen.“

Paul überlegte kurz und fand die Idee genial. Also watschelten sie zu Jerome, damit er ihnen das Gesöff mixte.

Mittlerweile war es nach Mitternacht. Ein Großteil der Gäste war schon längst verschwunden, und so wurde es im Haus immer ruhiger. Paul und Vincent waren nur noch damit beschäftigt, einen Drink nach dem anderen zu kippen. Auch ihr Gastgeber hatte Mühe, gerade zu stehen.

„Männers“, lallte er, „einer geht noch!“

Die Luft roch nach Tabak und Alkohol und erinnerte an eine Hafenkneipe. Auf den Fliesen lagen zertretene Kippen, umgekipptes Bier trocknete neben Schnapsgläsern, und dazwischen pennte eine Schnapsleiche. Leise dudelte die Stereoanlage. Irgendein Schund. Kuschelrock, die Zweimillionste, vermutete Paul.

Sie saßen auf den Fliesen einander gegenüber, bliesen Qualm in die Luft und hatten Mühe, aufrecht zu sitzen. Die Musik stimmte Paul plötzlich traurig. Sie führte ihm die Ereignisse der letzten Tage in Erinnerung. Nun bedauerte er, was geschehen war. Zum ersten Mal bedauerte er es richtig. Er wünschte, es wäre nie so weit gekommen. Er war zwar schon vorher todtraurig gewesen, aber erst jetzt wurde ihm die Veränderung bewusst. Nichts würde mehr so sein, wie es gewesen war. Ihre Wege hatten sich getrennt; Jeannine ging in die eine und er in die andere Richtung. Der Unterschied war nur: Sie hatte diesen Weg gewählt. Seiner war ihm aufgezwungen worden. Und sie hatte die Kinder. Und was hatte er? Nichts. Scheiß auf das große Haus und scheiß auch auf den Porsche. Auf das Geld erst recht, davon bekommt sie ohnehin noch die Hälfte. Das ist alles Mist, die Familie war viel wichtiger. Nur schade, dass er das erst jetzt kapiert hatte. Jetzt, da er sie verloren hatte. Oh, wie wünschte er, das alles wäre nie geschehen!

„Paulchen, was ist mit dir? Ist was nicht in Ordnung?“ Jerome sah vom Glas auf, in seinen Augen stand Sorge. Vielleicht gab das ja den letzten Stoß. Jedenfalls konnte Paul sich nicht mehr beherrschen. Es brach aus ihm heraus.

„Sie hat mich verlassen.“

Die Worte kamen schnell über seine Lippen. Viel schneller, als er es gedacht hätte. Sie waren schon gesagt, ehe sein Mund den Befehl dazu hatte geben können.

Jerome war entsetzt. Er sah ihn fassungslos an und schien seinen Ohren nicht trauen zu wollen.

„Was? … Was? Was redest du da? Das ist doch unmöglich!“

„Ich wünschte, es wäre so. Du kannst dir nicht vorstellen, wie. Aber leider ist es die traurige Wahrheit. Sie ist weg und wird nie wiederkommen.“

„Ich glaub das einfach nicht! Ihr seid doch immer ein so gutes Team gewesen. Du willst mich verarschen, oder?“ Er sah ihn fragend an, aber der Blick, der ihn traf, verriet ihm, dass dies keineswegs der Fall war. Verlegen rutschte er hin und her und sah, dass es auch Vincent nicht wohl in seiner Haut war. Wie sollten sie sich ihm gegenüber verhalten? Vincent hatte Jeannine weder kennengelernt noch je gesehen. Er wollte etwas sagen, ihn aufmuntern. Aber wie sollte er das tun, was sollte er sagen? In einer solchen Situation war alles falsch und nichts richtig.

Ein paar Sekunden lang schwiegen die Männer.

Jerome musste das erst einmal verdauen. Sie hat ihn verlassen, ich kann es nicht fassen! Was war geschehen? Was trieb sie dazu? Warum hatte sie das nur getan? Mit Grausen malte er sich aus, wie er reagieren würde, wenn seine Frau ihn verlassen würde. Eine Welt würde zusammenbrechen, es wäre…

Paul riss ihn aus den Gedanken.

„Ich gehe. Ich hätte das nicht sagen sollen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.“

„Wo willst du hin?“, fragten Jerome und Vincent wie aus einem Mund.

„Wie, wo will ich hin? Was soll die Frage? Nach Hause natürlich! Wohin denn sonst?“

„In deinem Zustand fährst du keinen Meter mehr! Nur damit das von vornherein klar ist!“

„Ja, das wäre Wahnsinn“, stimmte Vincent ihm zu, „glatter Selbstmord, wenn du mich fragst!“

„Tue ich aber nicht.“ Paul war erregt und zornig. Mit welchem Recht verbieten die mir eigentlich, heimzufahren? Ich kenne den Weg wie meine Westentasche! Ich könnte ihn blind fahren! Er machte Anstalten sich aufzurichten, aber Jerome war schneller und drückte ihn wieder zu Boden.

„He, was soll das? Lasst mich gefälligst!“ Paul war verdutzt, aber noch mehr verärgert. Jerome ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Du fährst nirgendwohin, basta!“

„Und warum nicht?“ Paul war immer ein Trotzkopf gewesen.

„Warum nicht?“ Jerome äffte ihn nach. „Was für eine blöde Frage! Weil du sternhagelvoll bist, deshalb! Du bist so voll, dass du kaum noch gerade sitzen kannst, von Fahren mal ganz zu schweigen!“

„Na und?“ Paul benahm sich wie ein kleines Kind, das etwas will, es aber nicht bekommt. Kurz gesagt: Er wurde bockig.

„Ich sag es noch mal: Du bleibst hier. Basta.“

„Genau.“ Auch Vincent ließ wieder einen Kommentar los. Es ging ihm auf den Wecker, dass die beiden sich fast in den Haaren lagen. So sollte der Abend nicht enden. „He, Jungs“, fuhr er sie an, „haltet den Ball flach, ja? Es bringt doch nichts, wenn ihr euch die Köpfe einschlagt! Damit ist niemandem geholfen. Lasst uns lieber noch ein Weilchen hier sitzen, noch einen oder zwei heben und wieder freundlich zueinander sein. Später sucht sich dann jeder einen Platz für die Nacht. Ich für meinen Teil bin dann bestimmt so blau, dass ich sogar im Stehen penne. Was haltet ihr davon?“

Sie dachten darüber nach.

Und entschlossen sich schließlich, seinem Vorschlag zu folgen.

Jerome mixte noch ein paar Drinks, und unterdessen suchte Paul einen anderen Radiosender, der nicht alle naselang Trauermärsche spielte.

Nach dieser kleinen Meinungsverschiedenheit war die Stimmung nicht mehr die alte. Sie saßen einander gegenüber, diesmal jeder auf einem Sessel, denn auf den Fliesen war es kalt geworden. Rings um sie lagen Schnapsleichen, die so laut schnarchten wie Ochsen und gelegentlich irgendetwas lallten.

Jerome dachte mit Schaudern an den Müll, der hier rumlag und an die Stunden, die es dauern würde, diesen Saustall wieder in Ordnung zu bringen. Vincent freute sich tierisch auf den nächsten Abstecher ins Bordell. Er konnte es kaum noch erwarten. Er war schon so etwas wie ein Stammgast dort. Mehrmals in der Woche stattete er seinem Lieblingsetablissement einen Besuch ab und ließ jedes Mal nicht eben wenig Geld dort. Darum tat es ihm nicht leid. Was ihm aber leid tat (obwohl er natürlich Spaß hatte) war, dass nie Liebe mit im Spiel war. Nicht ein Funke. Es war nur ein Geschäft, einzig und allein ein Geschäft. Und das schmerzte ihn.

Paul, der mit Abstand am meisten gebechert hatte, hatte damit zu tun, nicht vom Sessel zu rutschen. Er bereute es jetzt, dass er es erzählt hatte.

„He, Paul!“

Es dauerte eine Weile, ehe die Worte sein umnebeltes Gehirn erreichten.

„Was ist los, Kleiner?“

Vincent blickte unschlüssig drein. Er überlegte, ob es böse gemeint war, entschied sich dann, dass es das nicht war und suchte nach passenden Worten. Wieder vergingen Sekunden, und dann meldete Vincent sich wieder – allerdings anders als erwartet. Statt etwas zu sagen, schnarchte er lautstark.

Paul lachte. Diese Jugend, dachte er, halten nichts mehr aus, die jungen Burschen! Mit einem fröhlichen Pfeifen zog er an seiner Kippe. Seine gute Laune war schlagartig wieder da. Er drehte sich in Jeromes Richtung und lachte.

„Ist das denn die Möglichkeit? Der pennt wie ein Murmeltier!“

Jerome hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt. Auf den ersten Blick schien es unmöglich, so verdreht dazusitzen und dabei auch noch zu schlafen. Paul musste ein zweites Mal hinsehen. Er konnte es kaum glauben, aber es blieb so: Jerome schnuffelte tief und fest. Paul lachte ohne jegliche Hemmungen, und er hörte erst auf, als jemand hinter ihm unwirsch stöhnte. Da es aber nur ein verschlafenes Stöhnen war, machte er weiter. Irgendwann dann hatte er davon genug. Es kündigte sich bereits ein leichter Kopfschmerz an, und er erhob sich schwerfällig. Das war alles andere als leicht, weil er ziemlich betrunken war und der blöde Sessel partout nicht stehenbleiben wollte. Nach einigem Hin und Her, bei dem er es auch nicht versäumte, dem Sessel ein „Sitz!“ zu befehlen, gelang es ihm schließlich.

Den Frechdachs von Sessel zu besiegen, war aber nur die halbe Miete. Paul stand noch einiges bevor. Auf wackligen Beinen stolperte er durchs Zimmer. Er kam sich fremd vor, wie ein Einbrecher. Alles um ihn herum lag in tiefem Schlaf, und er tappte durch eine fremde Wohnung. Ein Einbrecher machte es nicht anders. Der Gedanke war so absurd und gleichzeitig so komisch, dass er schon wieder zu lachen begann. Diesmal um einiges lauter. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er die ersten aus ihrem Delirium riss. Zum Glück gab es ein totsicheres Mittelchen dagegen: Er biss sich auf die Lippe, und der Schmerz trieb ihm sein Gelächter schnell wieder aus.

Nachdem er sich etwas gefangen hatte, trottete er weiter. Er wusste nicht recht, was er vorhatte, war sich gleichzeitig aber auch nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte. Langsam schlich er an den Sessel, auf dem Jerome schnarchte und stapfte mit hängenden Schultern an ihm vorbei wie Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame. Einen Moment dachte er, es sei sein schlechtes Gewissen, das ihn verleitete, krumm zu gehen, dann merkte er, es lag am Suff.

Was habe ich vor? Warum schleiche ich hier wie ein Dieb in der Nacht rum? Und warum zum Teufel werde ich das Gefühl nicht los, dass es mir kein bisschen gefallen wird? Pauls Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Vielleicht war es ja doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Wer konnte das so genau sagen?

Schließlich trugen seine Füße ihn zur Hausbar. Sein Erstaunen darüber wich schnell Erleichterung. Im Gedanken hatte er sich schon bei etwas weitaus Schlimmerem gesehen. Er war überzeugt davon gewesen, den Safe plündern zu wollen. Oder, was noch schlimmer gewesen wäre, er hatte sich selbst gesehen, wie er mit Benzinkanister und Streichhölzern bewaffnet irre gackernd durch die Bude rannte. Und er hatte sich mit Jeromes Ferrari auf einen Baum zurasen sehen. Das alles wäre katastrophal gewesen; wenn es dabei blieb, die Hausbar zu plündern, konnte er das gerade noch mit seinem Gewissen vereinbaren. Und während er das noch dachte, griff er schon wie ein Schiffbrüchiger nach allem, was ihm in die Finger kam und stürzte torkelnd damit aus dem Haus.

Das Ergebnis seines Raubzuges konnte sich sehen lassen. Es war so viel, dass es an ein Wunder grenzte, dass er nicht vornüber fiel. In den Händen hielt er eine Schachtel kubanische Zigarren, drei Flaschen edelsten Whiskey und zu guter Letzt noch zwei Flaschen Rum. Ein beachtlicher Fang.

Paul entriegelte die Tür an seinem Wagen, warf alles nach hinten auf den Notsitz, hüpfte hinein und startete.

Keine fünf Minuten später fuhr er lachend durch die Dunkelheit. Sein Gelächter klang hysterisch und es war so laut, dass es sogar den Motor übertönte. Er hatte echt eine Menge gebechert, aber seltsamerweise war von seinem Rausch nicht mehr allzu viel übrig. Jedenfalls empfand er es so. Er fühlte sich so nüchtern wie seit Tagen nicht mehr. Nicht nur das versetzte ihn in Euphorie – es kam auch noch hinzu, dass er sich fühlte, als könne er mit bloßen Händen Bäume ausreißen. Glatt zwanzig Jahre jünger. Ein geiles Gefühl.

Irgendwo tief in seinem Inneren wusste ein verborgener Teil von ihm (sagen wir einfach, sein rationales Denken, okay?), dass er keineswegs nüchtern war, sondern sternhagelvoll. Und dieser tief verborgene Teil wusste auch, dass eine Menge schiefgehen kann, wenn man in diesem Zustand den Fehler beging, ein Fahrzeug zu lenken. Dieser niedliche, klitzekleine Teil hätte am liebsten laut gekreischt – wie eine Frau, der eine Spinne mit langen, eklig behaarten Beinen über den Weg läuft. Da dieser Teil nun aber nur ein niedliches kleines Bürschchen war, vollbrachte er nur ein Flüstern. Schließlich musste er gegen eine nicht unerhebliche Menge Rauschmittel und gegen fast ebenso viele körpereigene Endorphine ankämpfen, und das war für den kleinen Racker einfach zu viel. Egal, was er auch versuchte, um auf sich aufmerksam zu machen: Es reichte nicht, um bis zu Pauls Verstand durchzudringen. Was zu ihm durchkam, war nur die verräterische Stimme des Leichtsinns. Sie sprach so deutlich zu ihm, als säße sie auf seinen Schultern: Gib ruhig noch etwas mehr Gas! Los, komm schon! Oder traust du dich etwa nicht?

Und ob Paul sich traute! Er packte das Lenkrad noch fester, klemmte die Whiskeyflasche zwischen die Oberschenkel und gab Vollgas.

Wie ein Hurrikan sauste der Porsche durch die Dunkelheit. Die Geschwindigkeit wäre schon im nüchternen Zustand grob fahrlässig gewesen, da er aber alles andere als nüchtern war, war es mehr als nur wahnsinnig. Es war selbstmörderisch. Seine Reaktionen und Bewegungsabläufe waren beängstigend langsam. Um die Flasche an seinen Mund zu führen, brauchte er sagenhafte fünfundzwanzig Sekunden. Aber sein Zustand hatte trotz allem einen Vorteil: Er verschwendete weder an Jeannine noch an Jerome einen Gedanken. Einen kurzen Moment fragte er sich, wie er reagieren würde, wenn er sah, was Paul hatte mitgehen lassen. Aber das dachte er nur kurz, bevor er losgefahren war. Jetzt war auch das in weite Ferne gerückt.

Der Porsche schoss wie ein Pfeil durch die Nacht und dröhnte und fauchte wie ein Jet. Gar kein so ungewöhnliches Geräusch, wenn nicht ständig das Getriebe aufgeschrien hätte, weil er beim Gangwechsel das Kuppeln vergessen hatte. Paul litt beinahe mit dem Getriebe mit und nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal bestimmt zu tun. Aber als es dann soweit war, war der gute Vorsatz vergessen und das Getriebe kreischte und knirschte, als hätte es Sand als Schmiermittel.

Mit einem Mal wurde es schwarz und still um ihn herum. Die Dunkelheit und Stille kamen so plötzlich, dass er erst gar nicht bemerkte, was da vorging. Als wäre er in eine andere Dimension gewechselt. Alles verschwand. Nichts war mehr da.

Schläfrig blinzelte Paul. Alles um ihn herum war grell, als säße er direkt neben der Sonne. Etwas war ganz und gar nicht so, wie es hätte sein sollen. Aber im Moment bemerkte er davon noch nichts. Er spürte nur einen ungeheuren Druck auf seinem Körper lasten, ohne zu wissen, woher er kam.

Paul schloss die Augen wieder; es war zu grell. Die gleißende Helligkeit drang sogar durch seine Lider. Es war so hell, dass er befürchtete zu erblinden.

Der Druck verstärkte sich noch etwas, aber ohne seine Herkunft preiszugeben. Ihm wurde immer unheimlicher zumute. Nur ein klein wenig stärker, und ich werde zerquetscht wie ein Insekt! Lag er? Saß er? Oder stand er? All das entzog sich seiner Kenntnis. Und das ängstigte ihn so, dass er zitterte wie ein Kind in der Dunkelheit. Paul hatte noch nie zuvor solche Angst gehabt – und seien wir mal ehrlich: Es war auch verständlich. Schließlich weiß man immer, was man gerade tut. Ob man jetzt sitzt, liegt oder steht, man weiß es einfach. Es sei denn …

Es sei denn, man ist tot.

War er das vielleicht? War er gestorben?

Seine Gedanken geisterten fieberhaft umher. Ist das möglich? Ist das möglich? He, du Idiot! Wann willst du denn deiner Meinung nach gestorben sein? Glaubst du nicht auch, dass du das bemerkt hättest? Aber ein anderer Teil seines Verstandes meinte: Was soll ich denn bemerkt haben? Denkst du etwa, der Tod kommt mit Pauken und Trompeten, um einen zu holen? Nein, der kommt lautlos und auf schnellen Sohlen, verrichtet sein Geschäft und zieht weiter zur nächsten bemitleidenswerten Seele, deren Zeit abgelaufen ist! So sieht’s aus, Alter, so und nicht anders! Also, was bitteschön, soll ich bemerkt haben?

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