Kitabı oku: «Die letzte Seele», sayfa 7

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Wie lange sann er nun schon darüber nach? Waren es Sekunden? Waren es Tage oder sogar schon Jahrhunderte? Ihm kam es vor wie ein paar Sekunden. Aber konnte er sich dessen sicher sein? Vergeht die Zeit, wenn man tot ist (vorausgesetzt natürlich, es gibt dann noch so was wie Zeit) schneller? Oder langsamer? Niemand kann das beantworten. Die, denen es möglich wäre, schweigen, denn als Leiche schwätzt man bekanntlich nicht viel.

Entgegen aller widrigen Umstände amüsierte ihn diese Vorstellung. In seiner Phantasie sah er sich in einem Eichensarg liegen, stilvoll gekleidet: schwarze, bis zur Perfektion geputzte Schuhe, in denen er sich hätte spiegeln können, tadellos gebügelter Anzug ohne kleinste Falte, und natürlich eine schwarze Krawatte. Wie sie sich mit dem Anzug vertrug! Eine Wucht. Sogar das streng nach hinten gekämmte Haar versprühte Klasse. Die Bartstoppeln waren sauber abrasiert; im Leben war es Paul nicht allzu oft gelungen, die Rasur unbeschadet zu überstehen …

Seine Amüsiertheit ging langsam über in einen Lachanfall, und genau in diesem Moment dämmerte ihm, woher der seltsame Druck kam. Er hatte seinen Ursprung direkt unterhalb seiner Schädeldecke, und durch das Lachen wurde er verstärkt. Trotzdem war es schier unmöglich, damit aufzuhören. Der Drang war einfach unwiderstehlich. Vielleicht lachte er ja auch nur aus Erleichterung darüber, noch nicht den Löffel abgegeben zu haben?

Eine Welle aus Schmerz stieg über ihn hinweg, und mit ihr stürzten Erinnerungsfetzen auf ihn ein. Sie waren klein und bruchstückhaft, aber da er ja momentan nichts anderes zu tun hatte, machte er sich daran, sie zusammenzufügen. Wer weiß, dachte er, vielleicht erfahre ich ja so, wo ich bin.

Irgendwo vor sich sah er eine Straße. Sie war asphaltiert, links und rechts mit Begrenzungspfeilern markiert und schimmerte schwärzlich. Paul sah sie deutlich vor sich, konnte aber nicht erkennen, wohin sie führte. Bäume säumten ihren Rand, aber ob sie der Grund dafür waren, dass er ihrem Lauf nicht folgen konnte, wusste er nicht. Vielleicht lag es nur daran, dass es so dunkel war.

Von irgendwoher tauchte ein Scheinwerferkegel auf und bohrte sich durch die Dunkelheit. Das Licht kam schnell näher, aber es war unschwer zu erkennen, dass es noch ein Stück entfernt war. Es war beängstigend zuzusehen, wie sich der Kegel lautlos seinen Weg durch die Dunkelheit bahnte. Wie ein Geist oder Irrlicht. Er bohrte sich durch die Dunkelheit, als wüsste er genau, wohin er wollte.

Nach kurzer Zeit gesellte sich zu dem Licht ein Brummen. Anfangs hielt Paul es für einen Bären. Aber was sollte bitteschön ein Bär mit Licht anfangen? Also verwarf er den Verdacht. Allem Anschein nach war es ein Fahrzeug.

Wieder verstrich einige Zeit.

Mit einem Mal wurde das Brummen lauter, und auch der Lichtkegel hüpfte hektisch. Was auch immer es sein mochte, es war nicht mehr weit entfernt. Plötzlich richtete der Lichtstrahl sich genau auf ihn, als nähme er ihn ins Visier. Jetzt endlich erkannte Paul, dass das Licht von zwei nebeneinanderliegenden Lampen stammte. Weil sie ihn blendeten, sah er zu Boden, ein Reflex, er tat es unbewusst. Was aber jetzt geschah, war nichts als purer Überlebenswille.

Paul riss die Augen auf. Sein Herz setzte aus. Unter seinen Füßen war Asphalt, vor ihnen war Asphalt, und neben ihnen ebenfalls. Da brauchte man keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen, wo man sich befand! Paul warf sich mit der ganzen Kraft seiner Beine nach links. Und genau das war sein Glück. Denn in diesem Moment kam das Fahrzeug herangerauscht. Obwohl Paul alle Kraft in den Sprung gelegt hatte, war es ihm, als käme er keinen Millimeter vom Fleck. Das Fahrzeug war jetzt schon gefährlich nahe. Der Fahrtwind schlug ihm wie eine Faust ins Gesicht. Und während er ihn spürte, war es ihm, als zerbrösele jeder Knochen in seinem Körper zu Mehl. Das war aber nichts im Vergleich dazu, was geschehen wäre, wenn er nur einen Wimpernschlag gezögert hätte. Jetzt erkannte er, dass der Wagen ein Porsche war. Aber es war nicht irgendein Porsche, es war sein eigener.

Wie war das möglich? Er musste sich verguckt haben. Dass er einer Sinnestäuschung erlegen war, war durchaus nicht weithergeholt, vor allem nicht nach diesem Kamikazesprung. Doch diese Erklärung akzeptierte Paul nicht. Er hatte das Kennzeichen gesehen. Alles hatte gepasst, von den Felgen bis zum Dach. Er liebte seinen Flitzer und kannte ihn wie seine Westentasche. Außerdem hatte er den Aufkleber „Stoppt Tierversuche! Nehmt Politiker!“ gesehen. Er pappte genau da, wo er sein sollte: rechts neben dem Nummernschild. Und hatte er nicht auch, als er die Luft gesegelt war, einen Blick auf den Fahrer erhaschen können? Er, Paul war es gewesen, er selbst, zweifellos. Aber wie war das möglich? Wie, zum Teufel?

Paul rollte aus, kam mit dem Rücken an einen Baum gelehnt zum Stillstand und starrte fassungslos dem Wagen hinterher. Die Bremslichter flackerten kurz auf, erloschen wieder, und dann wurde die Fahrt mit zunehmendem Tempo fortgesetzt.

„Scheißkerl, verfluchter!“, schimpfte Paul. „Wohl den Führerschein im Lotto gewonnen, was? Besoffenes Arschloch!“

Und da dämmerte ihm etwas, und er schreckte hoch.

Paul saß kerzengerade im Bett.

Jetzt war ihm endlich gekommen, was die Erinnerung ihm hatte sagen wollen: Er selbst war dieser Trunkenbold gewesen. Aber das war noch längst nicht alles. Das Schlimmste war, dass er in diesem Zustand Auto gefahren war. Benommen sah er sich um. „Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich bin.“

Und mit diesen Worten flammte neuer heißer Schmerz in seinem Kopf auf.

Die plötzliche Helligkeit war unangenehm. Auch von ihr kamen die Kopfschmerzen, aber vor allem war der Alkohol schuld. Sein Schlafzimmer war hell, und das konnte nur bedeuten, dass es schon nach Mittag war. Paul seufzte und richtete sich auf. Der Schwindel und sein Kopf, der sich anfühlte, als wäre er zur Größe eines Medizinballes geschwollen, wollten ihn mit vereinten Kräften wieder flachlegen. Er kämpfte mit aller Macht dagegen an und schaffte es schließlich, wankend stehenzubleiben.

Das Schlafzimmer war ein Saustall: Klamotten lagen wild durcheinander, und es stank nach Alkohol und Qualm. Für den schlimmsten Gestank waren die Kotzlachen verantwortlich, die wie Pfützen auf dem Boden standen.

Mit brummendem Schädel stapfte er nach draußen. Diesmal lüftete er nicht. Er wollte nur hier raus. Mit Krachen flog die Tür ins Schloss. Paul erschrak. Und so hielt er erst einmal inne, um zu verschnaufen. Er stand auf dem Flur und hielt noch immer die Türklinke, als wäre seine Hand daran festgeklebt. Ihm war speiübel, sein Körper und sein Atem stanken bestialisch, sein Kopf dröhnte wie ein Presslufthammer, und er fragte sich, ob er den ganzen Alkohol, den er bei Jerome hatte mitgehen lassen, getrunken hatte. Die Frage war einfach zu beantworten. Dazu brauchte er nur in seinen Körper hineinhören, um zu wissen, dass er genau das getan hatte. Glauben konnte er es trotzdem nicht.

„Ich brauche ’ne Tasse Kaffee. Einen extrastarken. Einen, der mich wieder auf die Beine bringt.“

Seine Stimme klang schwach und zittrig.

Eine knappe Stunde später hatte er nicht nur eine Tasse, sondern eine ganze Kanne getrunken. Er war heiß und stark gewesen, aber Paul bezweifelte, dass er ihm nutzte. Er fühlte sich noch ebenso beschissen wie vorher. Das einzige, was sich geändert hatte, war der ständige Harndrang. Mittlerweile war er schon fünf Mal pissen gewesen, und allmählich wurde es Zeit für das sechste Mal. Schweiß lief in Bächen an ihm herunter, und nur eine Sekunde später überkam ihn eine Gänsehaut. Ihm war abwechselnd kalt und heiß, sein Hals kratzte, und seine Stimme war belegt. Nichtsdestotrotz redete er wie ein Wasserfall vor sich hin. Er laberte einfach alles nach, was ihm gerade in den Sinn kam, egal, ob es intelligent war oder Schwachsinn.

„Soso, du bist also noch Auto gefahren? Junge, Junge, Junge, was bist du nur für ein Teufelskerl! Der Kaffee ist schweineheiß. War ’ne tolle Party gestern, oder? Igitt, igitt, ich hab ja noch Kotze am Finger. Scheißegal. Zum Glück ist nix passiert …“

Da wurde ihm siedendheiß und kalt zugleich. Er erinnerte sich plötzlich, wie er sich durch einen Sprung in den Straßengraben gerettet hatte – und zeitgleich war er auch der Fahrer gewesen. Hatte das etwas zu bedeuten? Paul öffnete langsam den Mund, als ob er etwas sagen wollte, schloss ihn aber wieder und starrte in die Kaffeetasse, als stände die Antwort darin. Mit einem Mal sprang er wie von der Tarantel gestochen auf; in seinen Augen lag blankes Entsetzen. Im Hinterkopf registrierte er, dass seine Hand schmerzte, weil der heiße Kaffee, den er eben umgeschmissen hatte, darüber gelaufen war.

Wie von Sinnen sauste er aus der Küche und hastete den Flur entlang auf die Terrasse. Mit einem mächtigen Satz sprang er über die Hecke und kam neben dem Kotflügel seines Wagens zum Stehen. Der Sprint war ihm gehörig auf die Puste gegangen, und er musste erstmal verschnaufen. Aber sein Gehirn lief weiter auf vollen Touren. Es malte sich die schlimmsten Dinge aus. Was, wenn er jemanden angefahren hatte? Ihn verkrüppelt hatte? Seine Nackenhaare richteten sich auf. Vielleicht lebte dieser Jemand ja noch …? Vielleicht lag er ja noch schwerverletzt, blutend und mit gebrochenen Gliedern im Straßengraben …? Unentdeckt …? Noch immer auf Rettung hoffend, während er qualvoll und einsam starb …?

„Schluss damit!“, herrschte Paul sich an. Er war wieder bei Puste und begann den Wagen zu kontrollieren; auf allen Vieren kriechend suchte er jeden Millimeter der Karosserie ab. Er fand jedoch nichts außer einer kleinen Delle am rechten Kotflügel – und die war, da war er sicher, schon um einiges älter.

Obwohl er mit dem Ergebnis hätte zufrieden sein sollen, war er es nicht. Er setzte sich im Schneidersitz neben das rechte Vorderrad, klopfte mit den Fingern auf den Boden und dachte nach. Die Kopfschmerzen, die inzwischen so anschwollen, als starte ein Jumbo in seinem Kopf, waren in weite Entfernung gerückt. Der Boden kühlte seinen Körper aus, doch er blieb sitzen und sann darüber nach, was ihn hier herausgeführt hatte. Er sah aus, als wäre er zu einer Statue geworden; nur seine Finger bewegten sich, und seine Augen wanderten hin und her wie bei einem Träumenden. Seine Gedanken purzelten derweil durch sein Gehirn, und er lauschte ihnen beklommen.

Gut, sagten sie, der Porsche hat also keine neue Delle, Glück für dich! Aber heißt das auch, dass du niemanden angefahren hast? Erinnere dich, mein Bester! Du musstest einen mächtigen Hüpfer in den Straßengraben machen, sonst wärst du jetzt so platt wie eine Briefmarke. Vielleicht hat das ja zu bedeuten, dass es dem anderen genauso erging?

Mehr brauchte er nicht zu hören. Dieser Gedanke ließ die Sache in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wenn es so gewesen war, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Bullen hier vor seiner Tür standen und unangenehme Fragen stellten.

„Schöne Scheiße“, sagte er sich, und wie zur Zustimmung nickte er. Er stellte das Geklopfe ein, robbte noch einmal um den Wagen herum (wer weiß, vielleicht hatte er ja beim ersten Mal etwas übersehen?), richtete sich schließlich auf und ging langsam zurück ins Haus. Seine Schultern hingen so tief, dass man meinen konnte, sie schleiften über den Boden, sein Rücken war gekrümmt wie eine Sichel, und seine Arme schlackerten bei jedem Schritt wie Götterspeise. Auch seine Beine zitterten, aber das legte sich nach wenigen Schritten.

Obwohl Paul nun schon eine Kanne Kaffee intus hatte, brauchte er unbedingt noch eine. Noch nie zuvor war sein Bedürfnis nach Kaffee so stark gewesen. Also kochte er sich die zweite Kanne des Tages.

Dreißig Minuten später ging es ihm schon besser. Der erhöhte Koffeinspiegel in seinem Körper beruhigte ihn. Langsamen Schrittes lief er durchs Haus. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie ruhig es hier war. Viel zu ruhig. Mucksmäuschenstill. Die einzigen Geräusche, welche die Stille unterbrachen, waren das gelegentliche Knacksen der Böden und der Möbel. Und seine eigenen Schritte. Ihr Tapsen war ungewöhnlich laut. Paul ermahnte sich, bedächtiger aufzutreten.

Die Finger seiner Rechten umfassten eine halbvolle Kaffeetasse, und zwischen denen der Linken qualmte eine filterlose Lucky. Es erstaunte ihn, wie schnell er wieder in seinen alten Trott gefallen war. Früher war er immer der Ansicht gewesen (und das war er jetzt wieder), dass nichts an den phantastischen Geschmack von Kaffee und Zigaretten herankäme. Jedes für sich war schon ein echtes Leckerli, aber gemeinsam gingen die beiden ein Duett ein, das noch um einiges besser war. Wie die zwei Stimmen einer bezaubernden Melodie gingen sie ineinander über. Da passte einfach alles. Er fragte sich ernsthaft, wie er so lange darauf hatte verzichten können.

Er schlenderte über den Flur und stimmte einen Singsang an. Sein Kopf war zum ersten Mal seit Stunden wieder frei. Er dachte kaum noch an die Fahrt mit dem Wagen und daran, was möglicherweise passiert war. Was kommen mochte, sollte kommen. Es lag nicht mehr in seiner Macht. Auch Jeannine war jetzt vergessen. Er war noch nie mit der Welt so im Reinen gewesen wie in diesem Moment.

Langsam öffnete er die Tür zum Arbeitszimmer (sein kreativer Bereich, wie er immer liebevoll sagte) und steckte den Kopf hinein. Es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte. Alles lag wild verstreut herum. Außer der Palme war nichts verändert. Nur sah sie noch vertrockneter aus als zuvor.

Nachdem er alles inspiziert hatte und zu der Erkenntnis gekommen war, dass keine akute Gefahr bestand, trat er beruhigt ein. Schnurstracks steuerte er auf den Schreibtisch zu und verharrte mitten in der Bewegung. Sein Mund stand so weit offen, dass man einen Kürbis hätte hineinschieben können, und in seinem Gesicht zeigten sich tiefe Furchen. Es war nicht zu glauben. Einfach unmöglich. Oder vielleicht doch? Nein, unmöglich. Oder? Nein, nie!

Sein Gehirn ballte sich zusammen wie eine Faust, öffnete sich, ballte sich abermals zusammen und öffnete sich schließlich wieder. Es fühlte sich an, als würde es fast platzen, um gleich darauf wieder zusammenzuschrumpfen. War er einer Sinnestäuschung erlegen? Er schloss die Augen. In seinem Leben hatte er noch nicht allzu viel gebetet, doch jetzt tat er es. Obwohl er ungefähr ebenso viel an Gott glaubte wie ein Turnschuh. Er betete dafür, dass es verschwunden war, wenn er die Augen wieder öffnete.

Er wartete eine Sekunde.

Er wartete zwei Sekunden.

Dann öffnete er langsam erst das linke, dann das rechte Auge und lugte zwischen den Fingern hindurch. Es gelang ihm, ein verzweifeltes Seufzen solange zu unterdrücken, bis das rechte offen war. Denn schon als er das linke geöffnet hatte, war ihm klar, dass seine Gebete nicht erhört worden waren. Endlich löste sich die Sperre, und er setzte sich langsam in Bewegung, wie bei einem Spaziergang unter Wasser. So etwas Banales wie einen Fuß vor den anderen setzen kostete Kraft. Erschwerend kam noch hinzu, dass er mehr und mehr den Eindruck gewann, der Boden unter ihm würde wanken wie Schiffsplanken.

Ein paar Sekunden später (oder waren es Stunden?) erreichte er den Schreibtisch und kam, auf den Füßen wippend, vor ihm zum Stehen. In diesem Augenblick kam er sich vor wie ein Käfer: klein und schutzlos.

Seine Hand suchte Kontakt, machte sich eigenmächtig auf den Weg. Paul hielt den Atem an. Er war überzeugt, sich die Finger zu verbrennen, wenn sie die Oberfläche berührten. Die Sekunden, bis es soweit war, zogen sich hin wie Ewigkeiten. Innerlich wappnete er sich gegen den Verbrennungsschmerz. Er würde unerträglich intensiv und quälend sein.

Genau in dieser Sekunde berührten seine Fingerkuppen die Oberfläche, und er schrie auf. Es war noch schlimmer, als er es erwartet hatte. Aber nicht, weil es heiß war, sondern weil es vollkommen normal temperiert war. Hatte er etwas anderes erwartet? Sein Schreien ging über in leises Gelächter.

„Wie kommst dieser verfluchte Laptop zurück auf den Schreibtisch? Ich weiß doch genau, dass ich ihn vom Tisch gekickt habe! Und seitdem war ich nicht mehr hier drinnen. Wie also kommt er hier hoch?“

Er redete mit leiser, brüchiger Stimme. Und da er in dem Zimmer allein war, richtete er seine Frage an die vertrocknete Pflanze auf dem Fußboden.

Seine Finger glitten über die Tastatur hinweg und zitterten. Wer wusste, wie viele Stunden er auf sie eingedroschen und versucht hatte, einen einigermaßen brauchbaren Text aus ihr herauszuholen? An schlechten Tagen, wenn es nicht so gut lief, hatte er das verdammte Ding gehasst und an guten heiß und innig geliebt. Gott sei Dank hatte es mehr gute als schlechte Tage gegeben. All das führte er sich jetzt in Erinnerung und dennoch: Das Ding fühlte sich fremd an und schien ihm nicht mehr zu gehören. Ob das nun daran lag, dass es auf wundersame Weise den Weg zurück auf den Tisch gefunden hatte oder weil er ihm die Schuld dafür gab, dass Jeannette abgehauen war, wusste Paul nicht.

Während er noch darüber nachsann, sanken seine Finger plötzlich tiefer und drückten irgendwelche Tasten. Auch diesmal erschrak er. Ein Summen kam aus dem Gehäuse, und ein Text erschien auf dem Bildschirm.

„Aha“, flüsterte Paul etwas ruhiger. Schließlich war das etwas, was er verstand. Obwohl er zugeben musste, dass er gar nichts mehr verstand. „Bildschirmschoner also, soso.“

Wo kam der verdammte Text her? Er konnte sich weder daran erinnern, wann er den Laptop aufgehoben haben sollte noch, wann er in den letzten Tagen etwas geschrieben hatte. Obwohl ihm dies alles ein Rätsel war, konnte er nicht anders: Er musste den Text lesen.

Er hatte Mühe, die Schrift zu entziffern. Sie war viel kleiner als die, die er sonst zum Schreiben benutzte – vorausgesetzt natürlich, er war es gewesen, der den Text geschrieben hatte. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Wer?

Es war kalt. Viel zu kalt für die Jahreszeit. Der Wind pfiff eisig durch die dunklen Straßen, kroch in jede Ecke und Ritze, wirbelte Blätter auf und spielte damit sein Spiel. Nur vereinzelt standen ein paar Laternen auf den Straßen. Sie waren entweder kaputt oder zu schwach, um noch ihren Zweck zu erfüllen. Aber all das war unwichtig. Was einzig und allein zählte, war Jeannine und das, was sie trug.

Schon als sie um die Ecke bog (da war es noch etwas heller und nicht so kühl wie jetzt) hatte ihr Anblick ausgereicht, um bei ihm alle Sicherungen durchbrennen zu lassen. Und das, obwohl sie gar nichts Besonderes trug. Aber an einer schönen Frau sieht einfach alles atemberaubend aus. An den Füßen trug sie Stiefel, die ihr bis zu den Knien reichten; sie waren pechschwarz, und das weiße Futter schaute oben frech heraus. Ob sie eine kurze Hose trug oder einen kurzen Rock, war nicht ganz zu erkennen, denn ihre Jacke endete kurz über den Knien. Auch sie war pechschwarz, und ein Blinder mit Krückstock hätte sehen können, dass sie schon oft in der Waschmaschine gewesen war. Auf dem Kopf hatte sie eine Mütze, von der bunte Bommeln hingen wie lustige Zöpfe. Also alles durchaus normal, nichts Berauschendes. Aber, wie gesagt: Eine schöne Frau könnte auch einen zerlöcherten Kartoffelsack überziehen, sie würde einem trotzdem den Atem nehmen. Und Jeannine war eine wunderschöne Frau. Oh ja, das war sie. Sie hatte etwas an sich, das man nicht beschreiben konnte. War es dieses süße, unwiderstehliche Lächeln? Vielleicht. War es dieser tolle Körper? Dieser runde, wohlproportionierte Busen? Die herrlich prallen Pobäckchen? Die schönen langen Beine? Oder das Glitzern in ihren Augen? Man konnte sich nicht genau festlegen. Sie war einfach durch und durch eine Augenweide. Sie rannte mit den Armen wild wedelnd auf ihn zu und hüpfte auf und ab. Sogar das wirkte sexy.

Paul fand sich selbst nicht halb so anziehend. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und in ein Schaufenster geguckt, in einen Blumenladen. Dass Grün der Blumen und Blätter hatte ihn an den Sommer erinnert. Er hasste es, wenn es so kalt war. Doch Wind und Kälte waren sofort vergessen, als Jeannine auf ihn zugestürmt gekommen war. Ihm wurde nicht nur warm ums Herz, sondern auch heiß im Schritt.

Sie waren nun schon seit fast sieben Monaten ein Paar. Und in dieser Zeit war einiges passiert. Sie hatten sich gestritten, so wie es überall vorkommt, und hatten sich wieder vertragen, was auch mal vorkommt. Hatten sich geküsst und auch ein wenig am anderen herumgekrabbelt. Sie empfanden das als schön und intim, aber so richtig miteinander geschlafen hatten sie noch nicht. Trotz mancher Gelegenheiten war es noch nicht dazu gekommen. Sie ließen sich Zeit, den Körper des anderen zu entdecken. Niemand hetzte sie. Sie hatten alle Zeit der Welt für diesen letzten Schritt. Und wer weiß, vielleicht würde es ja heute geschehen? Vielleicht war ja heute der große Tag?

Das Glühen in seinem Schritt war zu einem Feuer geworden. Sein Penis hatte sich erregt aufgerichtet. Und obwohl es das natürlichste der Welt war, schämte Paul sich etwas dafür. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, versuchte er, seinen kleinen Paul durch die Hosentasche greifend so hinzulegen, dass er nicht sofort zu erkennen war. Kein leichtes Vorhaben, schließlich ist so eine pralle Stange widerborstig. Aber Jungs in diesem Alter haben damit Erfahrung. Ihm war es schon mehr als einmal so ergangen, dass er mit den Gedanken abdriftete, meist in der Schule, weil es da ja langweilig war. Nicht selten handelte es sich um sexuelle Gedanken, in denen er sich selbst als tollen Hecht sah, der die Mädchen reihenweise abschleppte. Und wenn man dann in der Sekunde an die Tafel gebeten wird, in der man gerade ein riesiges Rohr in der Hose hat, konnte man schon schön in Bedrängnis geraten. Wohin mit dem ausgefahrenem Periskop? Draufhauen? Keine gute Idee, fällt auf und tut höllisch weh. Warten, bis er von allein wieder einschrumpft? Auch eine Möglichkeit, aber wie lange hätte er sitzen bleiben sollen? Und vor allem: Wohin mit den ganzen Sechsen, die er sich dann reihenweise einhandeln würde? Oder aber man knebelte ihn so in der Hose zusammen, dass von ihm nur noch ein Beulchen zu sehen war. Mit ein wenig Übung hatte man diesen Trick schnell raus, und Paul hatte genug Übung. Es dauerte also nicht lange, bis er ihn versteckt hatte und Jeannette entgegenlaufen konnte.

Der Schnee knirschte bei jedem Schritt. Es war schweinisch glatt und er strauchelte; dennoch konnte er es nicht lassen, ihr entgegenzustürmen und dabei wie ein Karnickel in die Höhe zu springen. Nach wenigen Sprüngen kam er vor ihr zum Stehen. Sie sahen einander in die Augen, beide außer Atem (vielleicht rauchten sie ja zu viel?) und fielen sich in die Arme. Er bewunderte ihre Schönheit und sog ihren erregenden Duft in sich ein. Jeannine ließ sich in seine Arme fallen und empfing einen heißen Kuss auf die kalten Lippen. Schlagartig wurde es ihnen wärmer.

Nachdem sie sich den Magen mit Ananaspizza vollgeschlagen hatten, gingen sie ins Kino. Auf dem Weg dorthin wären beide oft auf der Nase gelandet, hätte Paul sie und sich selbst nicht im letzten Moment abfangen können. Leider gelang das nicht immer, aber Jeannine (und das machte sie nur noch sympathischer) nahm es mit Humor. Er benötigte alle seine Kraft, und seine Muskeln schmerzten schon nach kurzer Zeit. Insgeheim verfluchte er diejenigen, die es nicht für nötig hielten, Sand oder Salz zu streuen. Jeannine schimpfte wie ein Rohrspatz über die Kälte, aber es war unschwer zu erkennen, dass es ihr trotzdem einen riesigen Spaß machte. Sie lachte und gackerte vor sich hin, und auch Paul wurde davon angesteckt.

Einige geglückte Stürze später kamen sie mit heiler Haut im Kino an. Sie lachten sogar noch, als sie längst in den Sesseln vor der Leinwand hingen.

Wie oft bist du hingeplumpst?“

Paul sah an sich herunter, überschlug die nassen Flecken in der Hose und verkündete: „Mindestens fünfhundert Mal. Und du?“

So an die tausend Arschrutscher waren es bestimmt.“ Das war natürlich bei beiden maßlos übertrieben.

Weißt du, dass du mich mit deiner dicken Jacke an einen Seelöwen erinnerst?“

Häh? Wie das denn?“

Ja, ohne Scheiß.“ Sie lachte jetzt, und auch Paul lachte, obwohl er nicht so recht wusste, warum.

Du hattest eine ziemliche Ähnlichkeit mit diesen Viechern! Jedes Mal, wenn du versucht hast, einen von uns wieder aufzurichten und sich deine Jacke ausbeulte, warst du ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich weiß auch nicht, wie ich’s anders erklären soll. Haben nur noch die Stoßzähne gefehlt und der Bart.“ Ihr Lachen klang fast schon ein wenig hysterisch, und Paul stimmte mit ein, obwohl der Scherz ja eigentlich zu seinen Lasten ging. Aber das war das Schöne an Jeannette: Er wusste, dass sie nur Spaß machte und ihn hochnehmen wollte. Und darum war er ihr auch nicht böse.

Sie knutschten den ganzen Film über, und am Ende wusste keiner so genau, um was es da eigentlich gegangen war. Sie wussten noch nicht mal den Namen des Schinkens.

Paul blickte vom Notebook auf und sah traurig an die Wand. An das, was er soeben gelesen hatte, hatte er seit Jahren nicht mehr gedacht. Es war vollkommen aus seinen Gedanken verschwunden. Er hielt das für etwas Normales. Schließlich waren seitdem mehr als zwanzig Jahre vergangen. Was ihn wunderte, war, dass er das jetzt ausgerechnet auf dem Bildschirm lesen musste. Das war nun alles schon so lange her. Er wusste ja noch nicht einmal mehr, wie dieser Abend weitergehen würde. Und jetzt fand er das ausgerechnet auf dem Bildschirm. Sonderbar.

Fragen über Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Das alles ging weit über sein Verständnis hinaus und gab eine Menge Rätsel auf. Wann er das geschrieben haben sollte, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Wenn man es genau betrachtete, konnte er es im Suff getan haben. Das würde zumindest erklären, warum er sich nicht daran erinnern konnte. Das klang plausibel, aber er glaubte es dennoch nicht. Etwas daran war seltsam.

Um das Rätsel zu lösen, blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzulesen. Aber genau das wollte er nicht. Davor hatte er Angst. Schließlich war es ja gut möglich, dass er statt Antworten noch mehr Fragen erhielt.

Er überlegte, einfach aus dem Arbeitszimmer zu verschwinden. Einfach abhauen, die Tür hinter sich ins Schloss knallen lassen und nie wieder zurückkommen. Verdammt, das war mal eine richtig gute Idee. Genau das würde er tun.

Er sah von der Wand weg, blickte zur Tür und steuerte sie an. Er spürte, dass seine Beine einen Schritt gehen wollten, doch statt ihn dorthin zu bringen, sorgten sie dafür, dass er sich auf den Stuhl setzte. Das Merkwürdige daran war, dass er es zuerst nicht bemerkte. Vor seinem inneren Auge sah er sich zu Tür schlendern, raus aus dem Haus, weg von hier, irgendwo ein neues Leben anfangen, und dann verwehte dieser schöne Traum und was blieb, war die traurige Realität.

„Langsam glaube ich“, murmelte er, „ich verliere den Verstand. Ich sehe Dinge, die gar nicht da sind.“

Seine rechte Hand ruhte auf der Tastatur und bewegte mit dem Cursor den Text. Und da seine Neugier um einiges stärker war als seine Angst, las er weiter.

Langsam fiel die Wohnungstür ins Schloss. Die Eltern schliefen bestimmt schon längst, und sie wollten sie auf keinen Fall wecken. Außerdem durften sie nicht erfahren, dass Jeannette ihren Freund zu solch später Stunde mitbrachte. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würden. Sie kannten ihn bereits und schienen ihn zu mögen. „Aber um Mitternacht ist Zapfenstreich“, hatte ihr Vater immer gepredigt, und da duldete er keinen Widerspruch, „da liegst du in der Falle – und zwar allein!“

Bisher hatten sie sich immer danach gerichtet. Aber heute knisterte es zwischen ihnen viel mehr als sonst. Als läge etwas in der Luft. Wie Elektrizität. Sie konnten förmlich auf der Haut spüren, wie sie kribbelte und nach und nach ihr Denken übernahm. Aber auch der verrückte Abend hatte sie wohl übermütig werden lassen … Auf Zehenspitzen schlichen sie am Schlafzimmer der Eltern vorbei. Auf der anderen Seite der Tür schnarchte ihr Vater ausdauernd. Er erinnerte an einen Holzfäller, der mit einer dröhnenden Kettensäge durch den Wald saust und unschuldigen Bäumen nachstellt. Paul konnte nicht anders, er musste kichern. Jeannine fand das gar nicht drollig: Sie stupste ihn in die Seite und sah ihn scharf an. Sein Lachen war leise, konnte also unmöglich in den Schlaf dringen. Aber der Teufel ist ein Eichhörnchen. Es konnte ganz fix gehen, und ihr Vater stand schlaftrunken in der Tür. Daran wollte sie lieber nicht denken.

Was gibt’s da zu kichern?“, wollte sie wissen, als sie ihn endlich in ihr Zimmer bugsiert hatte.

Wie kann deine Mom nur neben so einem Sägewerk pennen? Da braucht man ja einen Gehörschutz!“

Das hab ich sie auch schon oft gefragt. Und weißt du, was sie darauf immer sagt?“

Nö. Woher denn?“

Ich habe halt einen festen Schlaf. Ist sie nicht süß? Sie liegt da, mausetot, und nennt das einen festen Schlaf! Man könnte sie mitsamt Bett auf die Straße stellen, sie würde keinen Furz davon mitkriegen und fröhlich weiterpennen. Ich springe bei jedem Geräusch aus dem Bett wie von der Tarantel gestochen, und sie schläft neben einem startenden Jumbo. Manchmal glaub ich echt, ich bin im Krankenhaus vertauscht worden!“

Du glaubst ihr nicht, oder?“

Ich hab dich nicht mit hergebracht, um über meine Familie zu quatschen.“

Hört, hört. Warum bin ich denn hier?“

Was für eine blöde Frage. So halt, aus irgendeinem Grund … Und weil ich Lust dazu hatte. Es war ein schöner Abend, heute. Und ich will noch nicht allein sein.“ Ihre Stimme klang sanft, noch sanfter als sonst.

Ja, es war ein wundervoller Abend“, stimmte Paul mit der gleichen Säuselstimme zu. Und da er nicht wusste, was er sonst hätte sagen sollen, blickte er sich im Zimmer um. Wie schaffen es hübsche Mädchen nur immer, einen Mann fusselig und sprachlos zu kriegen? Hat darüber noch niemand eine Doktorarbeit geschrieben? Obwohl er nun schon ein paar Male hier gewesen war (am helllichten Tag, wohlgemerkt), tat er jedes Mal so, als wäre es das erste Mal. Jeannine fand das süß.

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