Kitabı oku: «Die letzte Seele», sayfa 9
„Du musst es dir ungefähr so vorstellen“, hatte er gesagt, „wenn du am Fuß eines Berges stehst, kannst du auch nicht über ihn hinweg auf die andere Seite sehen. Und genauso ist es mit den Schiffen: Die Erde, in diesem Fall das Wasser, ist im Weg.“
Sie hatte den Vater angesehen und gelächelt. Und er wusste, sie hatte verstanden. Egal, wie umständlich er sich auch manchmal ausdrückte, irgendwann konnte sie seinen Gedankengängen folgen.
Ihre Mutter war früh gestorben. Sabine konnte sich kaum noch an sie erinnern. Doch sie musste schön gewesen sein. Überall im Haus standen Fotos von ihr, in jedem Zimmer. Auch an den Wänden hingen Fotos, und immer, wenn Sabine eines der Bilder betrachtete, stellte sie fest, dass sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie hätten Zwillingsschwestern sein können, nur, dass die eine eben schon ein paar Jährchen älter war.
Sie hatte den Vater einmal auf den Grund ihres frühen Todes angesprochen, doch er hatte nur gesagt, sie sei sehr krank geworden und irgendwann einmal würde sie alles darüber erfahren. Irgendwann, eines Tages, wenn die Zeit reif war. Durch seine Augen war dabei etwas gehuscht, das wie Angst aussah. Danach hatte er das Thema gewechselt, und das war das Zeichen gewesen, dass darüber genug geredet worden war.
Wenn die Sonne im Meer versank, war es am schönsten. Ihr glutrotes Licht verwandelte alles in ein Farbkonzert, und es schien, als explodiere sie in einem gigantischen roten Ball. Der beständige Wellengang gab dem Ganzen zugleich eine gespenstische Atmosphäre. Je höher die Wellen schlugen, umso farbenprächtiger und eindrucksvoller war das Spektakel.
Jetzt aber war es noch nicht Abend. Noch lange nicht. Allerhöchstens früher Vormittag, und das Meer breitete sich ruhig unter ihr aus, was für diesen Landstrich ungewöhnlich war. Sie sah weit aufs offene Wasser hinaus. Ihr war heiß; Schweiß rann an ihr herunter, und ihr Herz raste in der Brust.
Sabine war eine schöne junge Frau, Mitte zwanzig, gesund und wohlhabend. Ihre weiblichen Rundungen waren genau dort, wo sie hingehörten, und ihr langes blondes Haar strahlte wie die Sonne. Sie zog die Blicke der Männer reihenweise auf sich. Doch leider war es bisher erst zweien gelungen, ihr Herz zu erobern. Der erste (es war wohl mehr eine Art Jugendliebe, schließlich war sie erst sechzehn und er einundzwanzig) hatte ihre Liebe nicht verdient, wie sie inzwischen dachte. Es schien ihm Spaß zu machen, sie hinter ihrem Rücken im Akkord zu betrügen. Als sie ihn endlich durchschaute, war die Enttäuschung tief. Sie durchschnitt das zarte Band, das ihre Liebe gewesen war, und sie schwur sich, nie wieder einen Mann so nahe an sich heranzulassen.
Es dauerte vier Jahre, bis sie ihre Einstellung überdachte, und dann kam der zweite. Er war das Gegenteil seines Vorgängers. Schnell erwies er sich als Mann ihrer Träume. Bedauerlicherweise war auch diesmal das Schicksal anderer Meinung. Es ließ ihn in einer Kurve die Kontrolle über sein Motorrad verlieren. Dabei war sie nicht einmal besonders gefährlich, vielmehr langgezogen und übersichtlich. Er soll nicht lange gelitten haben, hatte man ihr später gesagt, es musste schnell gegangen sein.
Das mochte vielleicht auf ihn zutreffen, dachte sie, als sie seine Identität bezeugte, doch keinesfalls auf sie. Sie war überzeugt davon, nie wieder den Anblick seines leblosen Körpers vergessen zu können. Zwar hatte er, wie er es ihr hoch und heilig versprochen hatte, einen Helm getragen, aber von Motorradhandschuhen hielt er nicht viel. Seine Leiche war in einem guten Zustand, wenn man davon absah, dass sein Genick gleich an mehreren Stellen gebrochen war. Doch das war innerlich, und er war so aufgebahrt worden, dass man als Laie kaum etwas davon sah. Was man jedoch sah, war der Zustand seiner Hände – oder vielmehr das, was von ihnen übrig war. Sie waren nämlich noch nicht bandagiert worden – und dafür verfluchte Sabine denjenigen, der es versäumt hatte.
Später, als sie wieder daheim war und ein Weinkrampf nach dem anderen sie schüttelte, wurde ihr klar, was für den schrecklichen Anblick verantwortlich war. Schon die blanke Vorstellung reichte aus, dass ihr übel wurde. Sie musste sich erbrechen.
Sabine sah den grauenvollen Moment des Unfalls immer wieder vor sich, sah ihn mit seinen Augen. Episoden aus dem Schreckenskabinett. Voller Panik wollte sie ihm helfen, ihn festhalten. Doch es war vergeblich. Sie hatte nicht die geringste Chance.
Durch das Visier des Helms sieht sie die Straße vor sich liegen. Sie ist trocken und eben. Ein kurzer Blick auf den Tachometer und sie weiß, dass sie fast hundertdreißig Stundenkilometer schnell ist. Plötzlich taucht die Kurve vor ihr auf, eng, tückisch. Sie schreit seinen Namen, will mit aller Kraft an der Bremse ziehen; dabei ist ihr, als rissen die Muskeln ihres rechten Armes – dabei erreicht sie nur, dass sie unbeirrt weiterfährt.
Wie ein Rennfahrer legt sie sich in die Kurve, tief und schräg. Wie oft hat sie das als Sozius schon erlebt. Wie oft hat sie das Adrenalin gespürt und ist einfach nur glücklich gewesen, glücklich über das Gefühl der Freiheit und glücklich, bei ihm zu sein.
Bis jetzt ist noch alles in Ordnung. Doch das Unvermeidliche ist nicht aufzuhalten. Das ist es nie. Es würde, musste geschehen, weil es ja schon geschehen war. Plötzlich hat sie das Gefühl zu fliegen; ihre Innereien tun einen Satz nach oben. Das Hinterrad beginnt zu schlingern und rutscht schließlich gänzlich weg. Und auf einmal ist da der Asphalt, direkt vor ihren Augen. Sie reißt entsetzt die Hände hoch.
Und da beginnt der Alptraum.
Da sie mit mehr als hundert Sachen fährt und die Geschwindigkeit nur langsam abnimmt, während sie wie ein Puck über den Asphalt schlittert wie über einen gefrorenen See, muss sie mit ansehen, wie der Belag ihrer Hände (seine Hände) wie eine grob gezahnte Raspel für ein weiches Holz Stück ist. Die Haut und das darunter liegende Fleisch werden bis auf die Knochen Millimeter um Millimeter heruntergescheuert. Sie hört die Schmerzensschreie mit ihren eigenen Ohren. Er leidet vielleicht nicht lange, dafür aber entsetzlich.
Dann, als der Begrenzungspfosten endlich sein Genick bricht, ist es eine Erlösung für beide.
All das geisterte durch ihre Erinnerung, während sie auf der Klippe stand. Es riss die Wunde, die noch nicht einmal zur Hälfte verheilt war, wieder auf – und diesmal sogar um einiges tiefer. Sechs Jahre war es jetzt her, und allmählich hatte sie geglaubt, mit dem Verlust leben zu können. Kurz nach seinem Tod gab es eine Zeit, in der sie fast wieder glücklich war. Damals hatte der Arzt ihr eine Schwangerschaft bescheinigt. Sie war darüber außer sich; auf diese Weise würde wenigstens etwas von ihm weiterleben! Dass sie ein Kind von ihm erwartete, half ihr, mit der Trauer umzugehen. Mit der Zeit begann sie sogar wieder zu lächeln.
Doch auch jetzt wollte das Schicksal ein Wörtchen mitreden.
An dieser Stelle machte Paul eine Pause, denn sein Magen knurrte inzwischen so laut, dass er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war.
Er ließ sich kurzerhand eine Pizza bringen. Es war ihm egal, mit was sie belegt war. Hauptsache, er bekam endlich was zum Spachteln.
Innerhalb weniger Sekunden war das Ding in seinem Magen verschwunden. Ein zufriedenes Grinsen umspielte seine Lippen; es ähnelte dem Grinsen eines Gangsterbosses, der einen teuflischen Plan ausgeklügelt hat.
Eigentlich hatte er nach dem kleinen Mahl weiterschreiben wollen, aber da er bis zum Platzen voll war, ließ er es lieber. Stattdessen packte er sich einen Augenblick auf die Couch. Er wollte nur etwas ausruhen – nur ein klein wenig.
Als er wieder hochschnellte, sah er, dass fast drei Stunden vergangen waren. Sein Schlaf war tief gewesen und fest, und sogar an einen Traum meinte er sich erinnern zu können.
Paul setzte Kaffee auf, rauchte zwei filterlose Luckys und ging zurück ins Arbeitszimmer, wo er sich wieder in die Arbeit vertiefte.
Eines nachts, der Vater des Ungeborenen war nun seit sechs Monaten unter der Erde, erwachte Sabine mit kolikartigen Schmerzen im Unterleib; es war, als ob sie einen großen, schweren, kalten Stein in sich trug. Die Schmerzen kamen und gingen wie Wehen, und ihre erste Vermutung war, dass sie kurz vor der Entbindung stand. Das war durchaus plausibel; vielleicht hatte dieses Kind es ja besonders eilig, die Welt hier draußen kennenzulernen? Wenn es nur halb so neugierig war wie seine Mutter, war das sogar wahrscheinlich.
So laut es ihr unter den Schmerzen möglich war, schrie sie nach ihrem Vater, der eine Etage über ihr schlief. Sie war mittlerweile so benebelt, dass sie davon überzeugt war, er würde sie nie und nimmer hören. Doch es dauerte keine zehn Sekunden, und er stürmte mit sorgenvoller Miene in ihr Zimmer.
„Es geht … es geht …“
Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Doch es reichte aus. Der Vater verstand.
Das nächste, woran sie sich später erinnerte, war das Innere eines Krankenwagens. Es war hell darin und blendete ihre Augen, als blicke sie direkt in die Sonne. Dennoch nahm sie ihre Umgebung nur bruchstückhaft wahr. So viele Ampullen, so viele Verbände! Und die Sirene. Allerdings drang diese nur verschwommen in ihr Bewusstsein …
Die Wehen wurden stärker und stärker, und sie bäumte sich auf der Trage unter Schmerzen. Die Bewegung ließ neue Schmerzen in ihrem Unterleib entstehen. Wie ein Kreislauf aus Schmerz. Schmerz gebar neuen Schmerz.
In diesem Moment spürte sie, wie etwas Spitzes in ihre Armbeuge piekste. Fast augenblicklich verebbte der Schmerz.
Wieder Dunkelheit.
Wieder Stille.
Als Sabine erwachte, lag sie in einem Krankenbett. Der Vater saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und wimmerte. Sein Blick war zu Boden gerichtet, doch sie brauchte seine Tränen nicht zu sehen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist mit …?“ Ihre Stimme klang schwach und tonlos.
Dem Vater zersprang vor Kummer fast das Herz in der Brust. Nur langsam schaute er auf, als scheue er ihrem Blick.
„Was ist passiert? Was ist mit meinem Kind passiert?“
Er rang damit, nicht die Beherrschung zu verlieren. Seine Hände zitterten wie die eines Drogensüchtigen, der unbedingt einen neuen Schuss braucht, und sein Gesicht war bleich wie die Wand. Sein Körper verkrampfte sich, als er endlich antwortete.
„Die … die Ärzte sagen, es geht dir bald besser. In ein paar Tagen kannst du das Krankenhaus verlassen. Sie wollen nur noch ein paar Tests machen. Alles Routine, kein Grund zur Sorge.“
Seine Augen waren ausdruckslos, schwarz wie Höhleneingänge.
„Daddy“, sie hatte Mühe, ihre Stimme nicht zu erheben. Sie schaffte es, nach Aufbietung ihrer gesamten Kraft, ruhig und gefasst zu klingen. „Was ist passiert? Sag mir, was mit meinem Kind passiert ist!“
Ihre Augen bohrten sich in seine. Ihr Blick war wie ein Dolch, der in seine Netzhaut stach und schmerzte wie Feuer. Lange würde er ihm nicht standhalten können. Er konnte ihr nicht ausweichen. Ihre Augen, ihre Körperhaltung sprach eine nur zu deutliche Sprache. Sie schien bereits zu wissen, was geschehen war und wartete nur noch darauf, dass er es bestätigte.
Seine Hand suchte ihre. Sie war eiskalt, aber gleichzeitig nassgeschwitzt. Sie drückte ihre heftig.
„Habe ich mein Baby verloren?“
Der Vater war wie versteinert. Die ganze Zeit über hatte er nach Worten gesucht, falls es die überhaupt gab, hatte verzweifelt versucht, drumherum zu reden, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, ihre Konzentration auf anderes zu richten. Hatte er auch nur einen Augenblick geglaubt, sein Plan könne aufgehen?
Sabine wartete zwei Sekunden und fragte noch einmal.
„Habe ich mein Baby verloren? Sag es mir! Bitte! Wenn es so ist“, sie musste schlucken, denn die Endgültigkeit, die in dem Satz mitschwang, ließ fast ihre Stimme versagen, „wenn es so ist, will ich es aus deinem Mund hören und nicht von einem wildfremden Arzt, der mich mit trostlosen Augen anstarrt und dabei Mitleid heuchelt. Das könnte ich nicht verkraften. Jetzt nicht, und auch später nicht. Nie! Hörst du, nie! Also sage es mir bitte!“
„Es … es … es … es hatte einen Herzfehler.“
„Ist mein Baby gestorben?“
Ihre Stimme war jetzt gar keine Stimme mehr, nur noch ein Krächzen und Fiepen.
„Sie sagen, es ging so schnell, dass sie nichts gespürt hat.“
Da war er wieder, dieser Satz: Es ging so schnell. Wie sehr sie ihn hasste! Gab es einen abartigeren Satz in der menschlichen Sprache? Nein, nie und nimmer!
„Oh nein, nein, nein! Das stimmt nicht! Das kann nicht stimmen! Du erlaubst dir einen makabren Scherz, oder? Es stimmt nicht, nicht wahr? Sag mir, dass es nicht wahr ist! Sofort! Sie war doch noch nicht einmal geboren, wie soll sie da schon gestorben sein? Es ist nicht wahr! Es darf einfach nicht wahr sein!“
Mit diesen Worten fiel sie zurück in ihre Kissen.
Es schmerzte ihn, seine Tochter so leiden sehen zu müssen. Es tat ihm in der Seele weh. Aber er musste ihr die Wahrheit sagen. Er musste es tun, damit sie irgendwann loslassen und trauern konnte. Er wusste, wie wichtig Trauer war – erst recht, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. Er wusste, dass er das Richtige getan hatte – und doch hasste er sich in diesem Moment dafür. Er wusste, dass dieses Gefühl ihn nun eine Weile nicht mehr loslassen würde.
„Es ist wahr, leider.“
Nun konnte auch der Vater seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie klammerten sich aneinander, schmiegten sich in die Arme des anderen und versuchten, einander ein wenig Trost zu spenden.
„Ich wollte doch noch so viel mit ihr unternehmen“, brachte sie stöhnend heraus, „sogar einen Namen hatte ich schon für sie: Sarah Gil!“
„Sarah Gil“, wiederholte der Vater. „Davon hast du mir gar nichts gesagt. Ein schöner Name. Bedeutet er etwas?“
„Ich weiß nicht. Aber er klingt nach etwas Besonderem, und weil mein Kind etwas Besonderes für mich ist, wollte ich ihm einen besonderen Namen geben.“
„Das verstehe ich.“
Sie saßen wortlos einander gegenüber. Jeder kämpfte mit Trauer und Wut. Irgendwie mussten sie beide damit fertig werden, dass der Tod schon wieder in ihr Leben gedrungen war, er schon wieder etwas unendliches Wertvolles zerstört hatte.
„Sabine, ich muss dir etwas über unsere Familie erzählen. Etwas, das schlimm und schrecklich ist, das aber mit der Zeit zu einem Teil von uns wurde. Wir, das heißt, du und ich …“
„Daddy, würde es dir etwas ausmachen, mich allein zu lassen? Ich brauche Zeit für mich. Sei mir bitte nicht böse. Ich will einfach allein sein. Bitte fahr jetzt nach Hause. Und mach dir um mich keine Sorgen, ich komme schon klar.“
„Bist du sicher?“
„Ja, das bin ich.“
„Kann ich dich morgen sehen?“
„Ich ruf dich an, wenn du wieder kommen kannst. Ja? Geh jetzt bitte. Und sei mir nicht böse.“
Sie dachte jetzt zurück an jenes Gespräch, während sie auf den Klippen stand und auf das weite, dunkle Meer sah. Inzwischen wehte ein schwacher Wind, der ihr Haar ausgelassen tanzen ließ.
Weit draußen am Horizont verschwand gemächlich ein Schiff. Ein gespenstischer Anblick; man mochte wirklich glauben, es würde langsam in die Tiefe gezogen.
Sabine fröstelte. Das Wetter hatte merklich umgeschlagen, doch das geschah in diesen Breiten öfter. Aus dem Sonnenschein war raueres Wetter geworden. Die Sonne versteckte sich hinter einer Armee von Wolken, und auch der Wind wurde stürmischer.
Ihr Vater hatte ihr an diesem Tag etwas Wichtiges sagen wollen, und seine Miene dabei hatte ihr keineswegs gefallen, hatte ihr sogar Angst gemacht. Die Falten in seinem Gesicht schienen plötzlich tiefer und zerfurchter, seine Augen blitzten dunkel, und seine Mundwinkel zitterten, als weigerten sie sich, etwas Dunkles preiszugeben.
Noch nicht.
Paul streckte sich auf dem Stuhl aus, bis seine Knochen knackten. Für heute sollte es genug sein. Er hatte zwar noch nicht sein altes Tagespensum geschafft, aber als erfahrener Schriftsteller wusste er, wann sein Pulver verschossen war. Er trank den inzwischen kalt gewordenen Kaffee, speicherte den Text und verließ das Arbeitszimmer.
Wie jedes Mal, wenn er geschrieben hatte, fühlte er sich wunderbar. Es war wie eine Sucht. Er brauchte es einfach, dieses Ringen um jeden Buchstaben, um jedes Wort, das Zusammensetzen der scheinbar aus dem Nichts kommenden Sätze und das Gefühl, durch neue, unbekannte Gefilde zu streifen. Wenn er Blatt um Blatt beschrieb, der Text langsam Form annahm, dann fühlte er sich so richtig glücklich. Dann war er zufrieden mit sich und der Welt.
Im Wohnzimmer warf er sich auf die Couch, griff nach der Fernbedienung und hüpfte durch die Programme. Langsam neigte sich der Tag seinem Ende entgegen. Nicht mehr lange, und er würde zu Bett gehen. Das Leben konnte so wundervoll sein. Oh ja, das konnte es.
Das Wetter war eine Katastrophe. Der Himmel war verhangen mit schwarzen Wolken, und dichter Regen fiel. Hinzu kam noch, dass ein strenger Wind blies. Die Luft war kalt, fast schon eisig, und kroch mit spielerischer Leichtigkeit durch die Haut bis auf die Knochen. Schon der Blick durchs Fenster genügte, um einen frösteln zu machen. Bei jedem x-beliebigem Menschen reichte das, um seine Laune auf den Nullpunkt sinken zu lassen. Aber nicht bei Paul. Er erfreute sich nach wie vor bester Laune.
Er stand am weitgeöffneten Fenster, trank Kaffee und glotzte glücklich in den Garten. Ein seliges Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er dem Regen lauschte, der in Sturzbächen vom Himmel stürzte. Es störte ihn nicht im mindesten, dass er, jedes Mal, wenn der Wind wehte, einen nasskalten Schauer abbekam. Er begrüßte diese Dusche sogar. Sie war so etwas wie ein Jungbrunnen für ihn. Er erschauerte kurz und wartete dann sehnsüchtig auf den nächsten Schwall.
Nachdem Paul eine Weile dem monotonen Prasseln der Tropfen gelauscht hatte, klang es in seinen Ohren immer mehr wie Maschinengewehrfeuer – eines, das unaufhörlich schoss und knallte und ratterte. Paul fand es amüsant, wie er diesen Vergleich zustande gebracht hatte. Schließlich waren das ja zwei Dinge: Der Regen lässt gedeihen und wachsen; er fördert also das Leben. Das Maschinengewehr aber kann nichts anderes, als dieses Leben wieder zu nehmen …
In diesem Moment kam ihm ein Gedanke: Wie wäre es, wenn er einfach nach draußen ging? Hinaus in den Garten, in die Frische, dem regnerischen Wetter zum Trotz?
Er beschloss, es herauszufinden und hüpfte durchs Fenster auf die Veranda. Fast augenblicklich war er durchnässt bis auf die Haut. Der Wind wuselte durch sein Haar und warf es mal hierhin und mal dorthin. Das Wasser auf seiner Haut war kalt, aber es fühlte sich phantastisch an. Die Haare an seinem Körper richteten sich auf, und seine Eier schrumpelten um mehr als die Hälfte zusammen; sie zogen sich sogar ein Stück tiefer in den Sack zurück.
Paul schleuderte die Pantoffeln in hohem Bogen von sich und betrat mit nackten Füßen den pitschnassen Rasen. Die Behaarung richtete sich gleich noch etwas mehr auf. Die einzelnen Haare waren jetzt so starr, dass man sie mit einem Stück Papier hätte abrasieren können. Jeder Grashalm kribbelte zwischen seinen Zehen, und die Wassertropfen schienen zu gefrieren auf seiner Haut.
Der Regen prasselte auf seinen Kopf und verklebte sein dünnes Haar, und von unten kroch die Kälte empor. Das wäre ein guter Grund gewesen, zurück ins Haus zu gehen, die nassen Kleider abzulegen, ein heißes Bad zu nehmen und es sich vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Aber nicht für Paul. Statt ins Haus zu gehen, lief er weiter über die nasse Wiese, und statt eines heißen Vollbades nahm er ein eiskaltes Fußbad. Anfangs lief er noch langsam, um nicht hinzufallen, aber nach und nach merkte er, wie absurd diese Vorsicht war. Schließlich war er ohnehin schon bis auf die Knochen nass und da machte es keinen Unterschied mehr, wenn er auch noch eine Bauchlandung hinlegte.
Vor Euphorie kreischend, bretterte er über den durchweichten Rasen. Seine Füße fanden keinen Halt, und er rutschte unkontrolliert durch die Botanik. Immer wieder klatschte er auf den Hintern, gluckste vor Vergnügen und schnellte dann wieder hoch, wie von einem Gummiseil emporgerissen.
Zum Glück für ihn lag sein Haus abseits und er hatte keine Nachbarn. Denn sonst hätten diese mit Sicherheit die freundlichen Männer gerufen, die diese glänzenden weißen Kittel tragen und bei allem, was man sagt, immer nur „Ja, ja, schon recht, Napoleon“ erwidern.
Wie ein Känguru hüpfte Paul über den Rasen, schlug Haken wie ein Kaninchen und trällerte wie ein Vogel. Aber er machte sich deshalb keine Sorgen. Warum auch? Er war ausgelassen und tobte über sein Grundstück. Das war sein gutes Recht. Mein Glück ist kaum noch zu fassen, jubelte sein Verstand, und es wird mit jedem Tag noch besser!
Plötzlich hörte er hinter sich eine Stimme und fuhr herum. Das Ergebnis dieses Manövers war, dass seine Beine wegrutschten und er mit der Nase im Dreck landete. Auch das quittierte er mit animalischem Gelächter. Er blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sah erst einmal überhaupt nichts, nur Grashalme. Hastig schob er sie beiseite.
„Ja, ist es denn die Möglichkeit? Was hat dich denn hierher verschlagen?“
Jerome stand auf der Einfahrt und kauerte sich unter einem Schirm zusammen, aber da der Wind sich noch immer nicht entscheiden konnte, aus welcher Richtung er wehen wollte, sah er aus wie ein begossener Pudel. Sein Haar war an den Kopf geklatscht, als hätte er sich drei Tuben Gel hineingeschmiert, und seine Klamotten klebten an ihm wie ein zu enges Renntrikot. Auch er war nass bis auf die Knochen, konnte dem aber nicht halb so viel Begeisterung abringen wie Paul.
„Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung?“ Seine Stimme klang seltsam – eine Mischung aus Amüsiertheit, Verdruss und Sorge.
„Warum fragst du? Wie kommst du darauf, bei mir könnte nicht alles in Ordnung sein?“
„Weil es für dich offensichtlich nichts Besseres gibt, als bei diesem verdammten Sauwetter wie ein Scheißkarnickel über diesen Scheißrasen zu hüpfen. Du musst zugeben, dass das schon ein klein wenig merkwürdig ist.“
„Gott oh Gott, wie kann man nur so spießig sein? Das ist echt affengeil! Solltest du auch mal probieren! Du fühlst dich dann echt prima!“
„Nein, danke. Kann ich mir gerade noch so verkneifen. Ob wir wohl endlich reingehen könnten? Ich friere mir hier draußen den Arsch ab.“
„Na schön, gehen wir halt rein.“
Paul folgte ihm widerwillig. Einen Moment fragte er sich, wie Jerome wohl hereingekommen war, aber die Frage konnte er sich selbst beantworten: Bestimmt hatte er mal wieder vergessen, die Gartentür abzuschließen. Ein leichtsinniger Fehler bei dem Gesindel, was sich da draußen herumtrieb.
Kurze Zeit später waren sie im Wohnzimmer: einer in der einen Ecke, der andere in der anderen. Jeder hielt ein Handtuch, mit dem er sich trocken zu rubbeln versuchte.
„Bist du sicher, dass du keine frischen Klamotten von mir willst? Wir haben so ziemlich die gleiche Größe.“
„Nee, nee, lass mal.“
„Na schön, wie du willst.“ Paul hob die Hände. „Aber wenn du mit einer Lungenentzündung flach liegst, vergiss nicht, ich hab dich gewarnt!“
„Ja, ja, Einwand zur Kenntnis genommen. Ach, übrigens, bevor ich es vergesse: Hat dir der Schnaps, den du aus meiner Hausbar entführt hast, wenigstens geschmeckt?“
Einen Moment lang wusste Paul nicht, wovon die Rede war. Das lag so weit in der Vergangenheit, dass es schon fast ein anderes Leben war.
„Das war mein bester Stoff, nur damit du es weißt! Sauteuer das Zeug, das kann ich dir sagen. Du hättest wenigstens einen Zettel hinlegen können.“
„Na ja, ich hatte halt Durst.“
„Ach was, der gnädige Herr hatte also Durst? Beklaust du da immer deine Freunde?“
„Jetzt halt aber mal die Luft an! Ich bezahl dir ja deinen Scheiß.“ Paul war außer sich. Doch kaum war der Satz gesprochen, war er auch schon wieder vergessen. Anscheinend wollte Jerome genau das hören, denn auch er beruhigte sich bereits.
Eine seltsame Stille herrschte. Die einzigen Geräusche waren Jeromes Schritte, der ruhelos durchs Zimmer lief und sich die Haare abtrocknete. Paul sah ihm amüsiert zu. Er lief mit weit ausladenden Schritten, und Paul musste an einen General denken, der die Front seiner Truppen abläuft und Parolen brüllt.
„Okay, was führt dich her? Irre ich mich, oder bist du nicht nur hergekommen, um nett mit mir zu plaudern? Raus mit der Sprache!“ Er sah Jerome fest in die Augen.
„Ja … also … nun, weißt du …“ Offensichtlich waren ihm die richtigen Worte entfallen.
„Drück dich bitte ein wenig verständlicher aus.“
„Nun ja, … äh … ich …“
„Ja, ja: Ich weiß schon. Das sagtest du bereits. Aber was ist nun mit dir? Wo drückt denn der Schuh?“
Diesmal war es an Jerome, „Hä?“ zu sagen. Offenbar war er nicht nur unfähig, in ganzen Sätzen zu sprechen, sondern zu allem Überfluss stand er auch noch mit beiden Beinen fest auf der Leitung. „Was denn für ’n Schuh?“
„Oh Mann. Vergiss es! Bist heut nicht auf dem Damm, was?“
„Sie hatte … sie hatte einen Unfall“, platzte es endlich aus Jerome heraus.
Pauls Miene wurde schlagartig ernst. Jegliche Fröhlichkeit war aus ihr gewichen. Ein Unfall? Unmöglich, ging es ihm durch den Kopf. Patrizia fuhr immer vorbildlich. Sie setzte sogar den Blinker, wenn sie in die Garage fuhr. Ihr musste jemand reingerauscht sein …
„Wenn ich das geahnt hätte! Sorry. Wie geht es ihr? Geht es ihr gut?“ Paul war erschüttert. „Bestell ihr liebe Grüße und gute Besserung von mir, ja?“
„Mit Patrizia ist alles in bester Ordnung. Ich spreche von Jeannine.“
„Was …?“
„Einen Motorradunfall. Es ist …“
„Stopp mal, ja? Du verarscht mich! Wie kann sie mit einem Motorrad einen Unfall bauen, wenn sie gar keinen Führerschein dafür hat? Erklär mir das mal!“
Während er das sagte, rannen ihm bereits Tränen die Wangen hinunter. Seine Frau hatte einen Unfall. Schon bei diesem Gedanken begann er am ganzen Körper zu zittern. Sein Magen krampfte sich zusammen und fühlte sich an, als hätte er glühende Kohlen geschluckt. Seine Knie knickten ein, und er sackte nach hinten weg. Zum Glück stand dort ein Sessel. Reglos blieb er sitzen, während seine Gesichtsfarbe ins Aschgraue überging. Ihm war plötzlich speiübel, und am liebsten hätte er sich die Gedärme aus dem Leib gekotzt.
„Wie … wie ist das passiert?“
„Man weiß noch nichts Genaues. Nur so viel ist sicher: Sie hat wahnsinniges Schwein gehabt. Das Motorrad …“
„Ich verstehe das nicht! Wie konnte das nur passieren?“ Pauls Stimme bebte.
„Es ist eben geschehen. Ein unachtsamer Augenblick, und …“
„Nein, das meine ich nicht! Wie kommt sie bitteschön zu einem Motorrad? Das kapier ich nicht, beim besten Willen nicht!“ Hilfesuchend und mit tränenüberfluteten Augen sah er Jerome an.
Jerome wich seinem Blick aus. Dieser Bastard wich einfach seinem Blick aus und setzte an einer anderen Stelle wieder an.
„Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie hat keine ernsthaften Verletzungen davongetragen. Ein paar Prellungen, jede Menge Hautabschürfungen und reichlich blaue Flecken und einen abgebrochenen Fingernagel, hat sie gesagt.“
„Hat sie dir gesagt?“
„Nein, verdammt, sie hat Patrizia angerufen!“
Vor Überraschung klappte Paul die Kinnlade runter und er vergaß glatt zu fragen, wie zum Teufel sie auf ein Motorrad kam. Das musste er erstmal verdauen. Sie hat Patrizia angerufen. Mann, das tat verdammt weh. Sicher, sie waren so gut wie getrennt. Aber sie waren es eben noch nicht ganz. Warum zum Kuckuck kann sie mich nicht selbst anrufen? Warum muss ich das von anderen erfahren? Und was ist mit den Kindern?
„In welchem Krankenhaus liegt sie?“
„Tut mir leid. Das darf ich dir nicht sagen.“
„Was? Warum denn das nicht?“
„Sie will es nicht. So einfach ist das.“
„Ach, sie will es also nicht! Was will sie denn, wenn ich mal fragen darf?“
„Langsam, langsam, Paul! Ich bin nur der Bote. Ich weiß ja, dass du verletzt bist. Ich kann das sehr gut nachempfinden …“
„Das kannst du, ja?“
„… Ich bin hier als dein Freund …“
„Soll ich lachen?“
„… und als ein solcher spreche ich zu dir …“
„Verpiss dich!“
„Ich soll dir von ihr ausrichten, dass die Kinder bereits auf den Weg nach Australien sind. Und bis auf weiteres bei den Großeltern bleiben.“
Jeannines Eltern waren vor ein paar Jahren nach Australien ausgewandert. Gleich nachdem sie in den Ruhestand gegangen waren. Irgendwo inmitten der Pampa, wie er immer treffend bemerkt hatte. Mehr als dreihundert Meilen von der nächstgrößeren Stadt entfernt. Und dort wollte sie allen Ernstes die Kinder lassen?
Autsch, das versetzte ihm gleich noch einen Schlag. Seine gute Laune war vollends verschwunden, und er hatte die finsterste Leichenbittermiene aufgesetzt, die er zustande brachte. Dass sie ihm die Kinder weggenommen hatte, war ihr nicht genug, nein, sie wollte sie auch lieber den Eltern übergeben als ihm, ihrem Vater! Was war er denn? Ein Stück Dreck, das man einfach vom Schuh wischen konnte? Ja, er hatte viele Fehler während seiner Ehe gemacht, das war ihm jetzt klar. Aber er hatte den Kindern nie etwas Böses getan. Er hatte sie geliebt, mehr als …
Paul stotterte: „Ins Flugzeug … nach Australien … zu den Großeltern?“
Jerome wollte etwas erwidern, aber was er auch sagte, es würde falsch sein.