Kitabı oku: «Melancholie», sayfa 4

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Die Erkenntnis dessen hat die Melancholiker in die Verzweiflung gestürzt, sie aber auch zur Vollbringung atemberaubender Taten veranlasst. Bellerophontes wollte sich über alles hinweg erheben, doch seiner Hybris33 und seines Übermuts wegen musste er büßen. So schreibt Pindar über ihn: »Ein Gelüsten, das die Gebühr Übertritt, das endet bitter«,66 und fügt an anderer Stelle hinzu: »Gott zu sein verlange nicht, […] Menschen ziemt menschliches Teil«.67 Bellerophontes wollte aus den zirkelnden Bewegungen des maßhaltenden Seins hinaustreten, wahrscheinlich aus ähnlichen Überlegungen heraus, aufgrund derer der Sophist Antiphon das Leben für armselig hält: »Das ganze Leben ist leicht anzuklagen […], denn es enthält nichts Überschwengliches (περιττός), nichts Großes und Erhabenes, sondern nur Kleines, Schwaches, Kurzdauerndes und mit großen Schmerzen Verbundenes«.68 Bellerophontes wollte an das Nichtsein der Götter glauben – und nachdem diese ihn auf die Erde zurückversetzt hatten, lebte dieser Glaube als die Empfindung eines Mangels in ihm fort: Nicht der Mangel eines so oder so geratenen Seins war es, den er empfand, sondern das irdische Sein als solches wurde zu einem Mangel. Man kann nicht wissen, um was für einen Mangel es geht; die geschlossene Welt, die alles umgreift, ist in der Lage, auch den Mangel erfolgreich zu verdecken. Für Bellerophontes aber wird dieser Mangel zur ausschließlichen Lebenssituation – ohne ihn aber auch nur andeutungsweise zu beruhigen; im Gegenteil, sie macht ihn, wenn man so will, noch unglücklicher. Unendlich ist die Tiefe der Schlucht, in die er hineinstürzt. Die Erklärung für sein Empfinden eines Mangels können wir, die Kinder einer späteren, aber nicht minder bedrückenden Epoche, ähnlich wie für die Empfindungen der übrigen Melancholiker, nur erahnen: Es war die Abgeschlossenheit ihrer Welt, die sie bedrückte und handlungsunfähig machte. (Der spartanische Lysander wurde zum Melancholiker, weil er, nachdem er alle Macht an sich gerissen hatte, nicht mehr wusste, was anzufangen.) Antiphon vermisste im Leben zu Recht, was überschwänglich ist (περιττός); der melancholische Empedokles schrieb auch: »Und nichts vom All ist leer noch übervoll (περισσός)«.69 Die Melancholiker sind gerade deshalb herausragend, weil das Leben in ihnen den Zustand der Überfüllung erreicht: Das Sein quillt durch sie über sich hinaus. Dies erklärt auch ihr nicht zu linderndes Empfinden eines Mangels: Ist die Welt des Maßes einmal verlassen, ist ein Überquellen ohne Entleerung nicht vorstellbar. Solcherart erleidet das All in ihrer Persönlichkeit einen Bruch. Daher stammt das Gefühl des Auserwähltseins der Melancholiker, aber auch der bis zur Selbstvernichtung sich steigernde Hass. Darin sind sie stark, hervorragend, aber auch am hinfälligsten. Ihre Kraft ist unendlich, da sie das Ende kennengelernt haben, doch sind sie unglücklich, zumal sie, die Vergänglichkeit des Menschen erfahrend, ihr Vertrauen in das Sein verloren haben. Ihre Kraft und ihre Hinfälligkeit, ihr Unglücklichsein und ihr Heldenmut lassen sich nicht voneinander trennen. Dies führt uns wieder an den Anfang unseres Gedankengangs, nämlich zu der aristotelischen Frage nach der Melancholie der herausragenden Persönlichkeiten zurück: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?«

1So sehr, dass zum Beispiel nach Hippokrates die Melancholie, wenn sie mit einer Entzündung des Zwerchfells einhergeht, den Heilungsprozess von Hämorrhoiden positiv beeinflusst.

2Obwohl er, ohne viele Worte darüber zu verlieren, den melancholischen Typ erwähnt (μελαγχολικός) und, die spätere Anschauung vorwegnehmend, die Krankheit im Falle bestimmter Menschen für allgemeingültig hält und somit aus dem Zirkel der Krankheiten heraushebt.

3ὃν θυμὸν κατέδων. θυμός bedeutet gleichermaßen geistige Kraft, Gemüt, Mut, Zorn, Seele und Sinn.

4Vielleicht erklärt diese metaphysische Einsamkeit, dass Homer Herakles in seinen Epen, die das gesellschaftliche Wohingehören der Menschen so plastisch schildern, eine ganz untergeordnete Rolle zukommen lässt.

5Herodot wird darauf aufmerksam, dass Herakles wegen seiner zwiespältigen Natur sowohl als Heros als auch als Gott gefeiert wurde, und Diodorus Siculus benennt sogar noch die Schauplätze: in Opus und in Theben wurde er als Held, in Athen aber als Gott verehrt.

6Das auch von Aristoteles gebrauchte περιττότης bedeutet zugleich Außerordentlichkeit und Unmäßigkeit.

7Die Orphiker hielten die Ratschläge der dunklen und unbeleuchteten Nacht für die tiefsten Quellen der Weisheit.

8In Also sprach Zarathustra erklingt das Lied der Schwermut ebenfalls mit dem Eintreten der Nacht.

9Es geht um die melancholischen Helden; gegen die Melancholie der »alltäglichen« Wahnsinnigen haben die Alten zahlreiche Medikamente verschrieben. (Das bekannteste unter ihnen ist die sogenannte schwarze Nieswurz [elleborus niger], der man auch noch im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle zuschrieb.) Die mythologische Analyse der Melancholie und des Wahnsinns verweist auf die in der Melancholie und im Wahnsinn verborgen liegende Unauflöslichkeit und »Unheilbarkeit« und ist als Anschauung in die engere, auch heute noch gültige Melancholieauffassung einzubauen.

10»Ich habe noch Augen und Ohren« (Od.XX.365), sagt der Seher Theoklymenos in der Odyssee; dem Mysterienglauben gemäß ist die Fähigkeit des Sehens und Hörens eine besondere Gabe der Eingeweihten.

11Aristoteles drückt die in uns gepflanzte göttliche Gesinnung ebenfalls mithilfe des Verbs »wahrsagen« aus: μαντεία περί τόν ϑεόν.

12In der Poetik führt Aristoteles aus, dass der Dramatiker, um die Leidenschaften seiner Helden nachempfinden zu können, selbst am Leiden teilhaben muss: Der Dramatiker sei μαντικός, das heißt Wahrsager (1455a), was so viel bedeutet wie, dass die höchste Aufgabe des Wahrsagers auch hier nicht das Voraussagen zukünftiger Ereignisse ist, sondern das Aufdecken der Gesetze des Seins.

13In seiner Geographie beschreibt Strabon den Fall jenes indischen Brahmanen, der sich in Eleusis lachend ins Feuer stürzte und dessen Grabinschrift folgendermaßen lautet: »Hier ruht der aus Bargose stammende Zarmonokhegas, der sich nach alter Sitte der Inder unsterblich gemacht hat« (XV.1.73). Ähnlich bereitete der Lydier Kroisos (der sich im Übrigen als einen Nachkommen des Herakles ansah!) seinem Leben ein Ende, ebenso Hamilkar aus Phönizien oder Sardanapal – so hofften sie, für sich und ihr Volk die Auferstehung zu erlangen.

14Den Ritus des selbst gewählten Feuertodes nennt Josephus die »Auferstehung des Herakles« (7) (ή τοῦ Ἠηρακλέους ἔγερσις) (Antiqu. Jud. VIII. 5.3). Fügen wir hinzu: An gewissen Orten wurde Herakles auch als Sonnengott verehrt.

15Die Auffassung ist vom Christentum beibehalten worden: Im Neuen Testament wird Jesus die Menschen mit dem Heiligen Geist und, nach einigen Varianten, mit Feuer taufen: πνεύματι ἀγίω καὶ πυρί (Mk. 1, 8).

16Die Wahrheit – griechisch: ἀλὴθεια – bedeutet wörtlich das, was dem Vergessen nicht ausgesetzt ist, was sich der Macht Lethes entzieht.

17Nach Galen ist die Galle »organum plenum mysterii« – gleichwie die Melancholie, die in ihrer Rätselhaftigkeit selbst ein Mysterium ist.

18Heidegger ist, wenn auch in anderem Zusammenhang, auf den Charakter des Privativen der Wahrheit aufmerksam geworden.

19Schopenhauer, der das Ziel der antiken Mysterien darin sah, dass Auserwählte durch sie von der Masse getrennt werden, hat nur bedingt recht. Er ist bemüht, die auf eine Elite gerichtete Anschauung seiner Epoche in der Antike zu entdecken.

20Dies bezieht sich wortwörtlich auf die Mithras-Mysterien: Die Eingeweihten erheben sich symbolisch durch die Sphären der Planeten hindurch zum Sonnengott.

21Der frühe Tod bedeutet griechisch: προτελευτή.

22Setzen wir hinzu: Über eine allgemeine Erlösungslehre haben die Griechen nicht verfügt.

23Ihren Namen bringt Hölderlin auf der Basis des Wortes περσέφοσσα mit dem Licht in Beziehung.

24Für Persephones Sitz wurde Akragas auf Sizilien – der Geburtsort von Empedokles – gehalten.

25Antonin Artaud wird die Sonne später für den Gott des Todes ansehen; doch ist die wahre Erscheinung der absolute Tod der Sonne, das heißt des Lichts, der »zum Ritus der schwarzen Nacht und des ewigen Todes der Sonne« führt und von da aus zur das Leben bis zur Unerträglichkeit steigernden Ekstase (Artaud, Tutuguri, S. 58).

26In seinem Werk Über die Mysterien schreibt der neuplatonische Jamblichos über die Heraufbeschwörung des Lichts oder die Erweckung des Lichts, was er für einen Zustand der Erhellung hält und was von der neueren Theosophie als das Erblicken des nächtlichen Lichts der Sonne bezeichnet wird.

27Einigen Sagen nach ist der auf dem römischen Forum befindliche Saturnus-Tempel von Herakles/Hercules selbst gegründet worden.

28Die Mysterien waren in ihrem Beginn auf Kreta noch öffentlich; von da aus haben sie sich auf die übrigen Gebiete Griechenlands verbreitet, wo sie zu Geheimnissen wurden.

29»Wo die Liebe zu großen Geheimnissen vorherrscht«, schreibt Aristophanes über die Mysterien in den Wolken (299–300), »und am Tage des Festes der Erdenmutter, das Aufzeigen heiliger Geheimnisse.«

30Die Ägypter verehrten das Krokodil als das Symboltier des göttlichen Schweigens, weil es keine Zunge hat; und dieses mystische Schweigen hatte auch einen eigenständigen Gott; nämlich den seinen Zeigefinger auf dem Mund haltenden Harpokrates.

31Aristoteles zum Beispiel bestimmte die Vorstellung als eine der Wahrnehmung ähnliche, als ihr Ergebnis entstehende Bewegung (De anima, 427).

32Der Kosmos bedeutete ursprünglich nicht nur das Weltall, sondern auch Ordnung – Homer verwendet dieses Wort noch im Sinne der Schlachtordnung und als solche verweist es im Wesentlichen auf die Geschlossenheit. Obwohl der Begriff der Unendlichkeit dem griechischen Denken nicht fremd war, unterscheidet Aristoteles die aktuelle und die potenzielle Unendlichkeit, und nur die Letztere ist es, die er anerkennt. Die im Sinne der Unbestimmbarkeit verstandene Unendlichkeit ist aus der Sicht der menschlichen Vernunft Unvollkommenheit, so Aristoteles, und deshalb ist es ausgeschlossen, dass dieses Denken über die unendliche Kette von Ursache und Wirkung zur Unbestimmbarkeit gelange. Die Melancholiker, und dies muss wohl kaum erwähnt werden, betrachteten die Kette von Ursache und Wirkung als menschliche Anschauung, als eine, aber nicht als ausschließliche Form des Seinsverständnisses, und sahen deshalb auch in der Unbestimmbarkeit nicht die bloße Unvollkommenheit.

33Die Hybris lässt sich etymologisch auf die indogermanischen Stämme d = »empor«, »hinauf«, sekundär auch »hinaus«, sowie ger = »schwer« zurückführen, deren gemeinsame Bedeutung so etwas wie: mit aller Macht und allem Kraftaufwand etwas beginnen, alles auf eine Karte setzen, ausmacht.

DAS GEFÄNGNIS DER TEMPERAMENTE

Obwohl die aristotelische Theorie der Melancholie mit ihrer Kraft der Mitte die Extreme abzudämpfen suchte, war sie doch Unheil verkündend. Das Beispiel der Melancholiker zeigt, dass sie sich von der Welt abwenden, alle über jeden Zweifel erhabenen Ergebnisse und Erfolge der Zivilisation infrage stellen, und die unbestreitbare Fähigkeit des Wissens und der scharfen Erkenntnis gelangt in den Besitz des einsamen, sich vom öffentlichen Leben zurückziehenden Menschen. Es ist verständlich, dass das Erscheinen der Melancholie bei dem Durchschnittsmenschen zum Teil Neid, zum Teil aber Verachtung hervorgerufen hat – und auch der aristotelischen Theorie wurden die Vorzeichen dieser zwiespältigen Beurteilung vorangestellt. Zeichen der Verachtung ist die die Melancholie zurückweisende Ironie, das des Neides aber das Bestreben, sie zu »zähmen«, das heißt, sie als einen auch für den Durchschnittsmenschen typischen Zustand aufzuzeigen. Zur Zeit des Hellenismus wunderte man sich entweder darüber, dass berühmte Männer Melancholiker gewesen sein sollten, oder man trieb damit seinen Spott. Die Stoiker hielten sie zum Beispiel für eine einfache Krankheit, die den Menschen des klaren Verstandes beraubte. In der Biographie des Lysander gebraucht Plutarch den Begriff der Melancholie im Sinne des Närrischen, Empedokles wurde für einen Narren gehalten,1 und Seneca lieferte, den Geist des Mittelalters antizipierend, eine bezeichnende Fehlinterpretation des aristotelischen Gedankens; er verstand die Melancholie als Geisteskrankheit, als Demenz. (»Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit«.70) Die späten Römer leugneten im Einverständnis mit den frühen Christen die Seherfähigkeit der Melancholiker: Sie hielten das Wahrsagen für die Illusionen eines Fieberkranken. Dies ist die Meinung einer selbstbewussten, sich lediglich auf die Vernunft verlassenden Epoche: Das Wissen und das Streben nach Wissen findet auch innerhalb der Seinsgrenze seine Erfüllung. Das Hinterfragen der Voraussetzungen von Erkenntnis ist daher ein krankhaftes, armseliges und überflüssiges Unterfangen. Gleichzeitig lassen sich aber die mit der Melancholie einhergehenden geistigen Fähigkeiten nicht ableugnen. Aus diesem Grunde mussten diese Fähigkeiten vonseiten des immer mit dem Wissensideal einhergehenden Demokratismus allen zugänglich gemacht werden. Eigenartigerweise standen die Versuche einer Heilung der Melancholie ebenfalls im Dienste dieser Anschauung: Ist die Melancholie nämlich heilbar, lässt sie sich in den Kreis der empirischen Wissenschaften einordnen und ihre Symptome (wie zum Beispiel die außerordentliche geistige Fähigkeit) verlieren ihre Bedeutung, zumal nun jeder von ihnen Besitz ergreifen kann und sie in den magischen Kreis der Vernunft gelockt werden können. Nur ein bezeichnendes Beispiel: Aristoteles vergleicht die Konsistenz der nun dominierenden schwarzen Galle mit dem Rotwein, woraufhin Galen im 2. Jahrhundert schreibt, dass der Genuss von Rotwein Melancholie verursacht – es bedarf jedoch zum Genuss von Rotwein keinerlei außerordentlicher Fähigkeiten. Die somatischen Symptome der Melancholie drängen in den Vordergrund, doch scheint es, als würden sie nun jedwede kosmisch-metaphysische Fundierung verlieren, die sowohl für das aristotelische als auch das hippokratische Melancholieverständnis so bezeichnend war. Diokles von Karystos führte im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Melancholie auf das mit der Galle in engem Zusammenhang stehende Anschwellen der Leber zurück, und in der dem Beginn unserer Zeitrechnung folgenden Zeit brachte man Leberbeschwerden immer mit der Melancholie in Verbindung. Nach Galen entspricht die Melancholie der Erkrankung des Hypochondriums, der oberen Bauchgegend,2 es ist also verständlich, dass er sie mit Verdauungsproblemen in Zusammenhang bringt. (Später wird sich Kierkegaard dagegen verwahren, dass all jene, die an Verdauungsstörungen litten, auch melancholisch seien.) Die Erkrankung des Hypochondriums betrifft ebenso die rechts liegende Leber wie die links liegende Milz,3 und Galen bringt sie außer mit den Verdauungsstörungen auch mit seelischen Störungen in Verbindung. Später wurden diese seelischen Probleme von den Problemen der Verdauung gelöst, doch als der Grundlage entbehrende Leiden wurden sie weiterhin mit dem Begriff hypochondrisch benannt – und daher wurde die Melancholie später auf hypochondrische, eingebildete körperliche Krankheiten zurückgeführt.

Die Verbreitung und der Erfolg einer ausschließlich auf der körperlichen Grundlage basierenden Melancholieerklärung ist nicht zu trennen von einem Prozess, der bestrebt ist, die »seelischen« Symptome der Melancholie als jeder Grundlage entbehrend und unbegründet aufzuweisen. Wenn der Melancholiker die Welt anders beurteilt als der Nichtmelancholiker, so kann von einem neuartigen Seinsverständnis nicht die Rede sein; um seine Gedanken soll man sich keinen Deut bekümmern, sind sie doch Folgen einer so oder anders geratenen Veränderung im Körper. Die Zweiheitslehre vom »reinen seelischen Leiden« und der »lediglich körperlichen Veränderung«4 zerreißt jene ursprüngliche und geschiedene Einheit von Körper und Seele, die für das klassische griechische Melancholieverständnis so bezeichnend war. Das Melancholieverständnis des Hellenismus setzte die Zweiheit von Geist und Praxis (Körper und Seele) von vornherein voraus und damit auch die betont psychische bzw. somatische Erklärung der Melancholie (was natürlich noch keinesfalls in so krassem Gegensatz zueinander stand wie in neuester Zeit). Die Zweiheit scheint der normale Seinszustand zu sein, und auch die weitblickendste Anschauung muss ihren Gegenstand innerhalb dieses Rahmens erblicken. Es ist verständlich, dass das Allgemeinverständnis die Melancholie zu etwas allgemein Verständlichem, Alltäglichen zu machen versucht. Die bezeichnendste Erscheinung dieses Vorgangs ist die sich aus der Humorallehre entfaltende Temperamentenlehre, die dadurch, dass sie die Menschen gruppiert, der Melancholie gleichsam ihre Schärfe nimmt: Was in Gruppen eingeteilt werden kann, lässt sich nicht mehr auseinanderdrängen. Die Humorallehre setzt eine Geschlossenheit voraus, die die Möglichkeit, dass der Mensch aus einem ihm eigenen Kreise heraustrete, nicht mehr zulässt: Sie ermöglicht keine Selbsttranszendenz des Menschen, sondern macht sie von vornherein unmöglich. Die Humorallehre wird von der Allgemeinheit an den Namen des Hippokrates gebunden (Alkmaion von Kroton hat in seiner über die Natur geschriebenen Abhandlung die Quelle der Krankheiten schon vor Hippokrates im Missverhältnis der Körpersäfte gesucht), in Wirklichkeit aber wurde sie in ihrer wahren Form erst viel später, im Mittelalter ausformuliert. Die vier Temperamente – das cholerische, sanguinische, das phlegmatische und das melancholische – reichen in ihrer Grundlage selbstverständlich in die Antike zurück, und ihre Tiefe wird von der für die Antike bezeichnenden kosmischen Anschauung durchzogen. Die über die vier Säfte handelnde Lehre ist empirisch (Alkmaion, Hippokrates), aber noch nicht eindeutig an die Temperamente gebunden. Jeder Saft hat nämlich seine eigene Jahreszeit, was zum Beispiel bedeutet, dass derjenige, der am Überschwang der schwarzen Galle leidet, wenn der Herbst hereinbricht, völlig symptomfrei ist, doch zur Zeit der anderen drei Jahreszeiten erkrankt. Entsprechendes gilt für diejenigen, die am Überschwang des Blutes leiden, die sind nämlich im Frühjahr gesund (gelbe Galle – Sommer; Schleim – Winter). Diese Theorie hat zur Konsequenz, dass ein Saft sowohl Krankheit als auch eine bestimmte Konstitution – aber keinen normalen Seinszustand bedeuten kann: Derjenige, der das ganze Jahr über gesund ist und daher an keinem Überschwang des einen oder anderen Saftes leidet, das heißt nicht krank ist, der hat kein Temperament. Aber ist er ohne Temperament eigentlich ein Mensch? Im Grunde der empirischen Humoraltheorie ist aber auch eine andersgeartete Anschauung gegenwärtig, die an die Zahl Vier anknüpft. Die Auszeichnung der heiligen Zahl der Pythagoräer, der Zahl Vier, ist an den Namen Empedokles gebunden. Er benennt zuerst die vier Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft) der Welt und macht die Zahl Vier zum Grundprinzip des Kosmos. Dieses wirkt bestimmend auf alles und so auch auf den Menschen, auf seinen Körper und seine Seele gleichermaßen. Empedokles ist es, der zuerst über die vier Arten der seelischen Zustände (habitus) spricht, die seiner Meinung nach eine Folge der Vermengung dieser vier Elemente ist. Zwei Schulen erscheinen vor uns: die auf der Basis der Humoraltheorie ruhende empirische Schule (Hippokrates), die von der physikalischen Realität des Körpers und der Konstitution ausgehend mit dem Begriff (κρᾶσις) zur kosmischen Anschauung gelangt, sowie die Schule kosmischer Anschauung (Empedokles), die von der Untersuchung des Kosmos und des Universums ausgehend zur Wirklichkeit des menschlichen Körpers gelangt. Die beiden Schulen unterscheiden sich in ihren Methoden, stimmen aber darin überein, dass sie den Menschen mit seiner Seele und seinem Körper als Teil des Kosmos sehen, und die Heilung halten sie für untrennbar von jenem Vorgang, der den kranken Menschen in Einklang mit dem Universum bringt. So gelangen die vier empirisch nachweisbaren Säfte zu kosmischer Bedeutung, die den Kosmos auszeichnende, immaterielle Zahl Vier aber zu körperlicher Wahrheit – die naheliegende Verbindung dieser zwei Anschauungen erfolgt dann in der Abhandlung Über die Natur und den Menschen, deren Verfasser wahrscheinlich Hippokrates, vielleicht auch dessen Schwiegersohn Polybos war.

Die Elementenlehre mit ihrer kosmischen Bedeutung und die Einheit der empirischen Säfte schlossen alles in sich ein, was in der klassischen Antike über den Menschen gesagt werden konnte. Aber parallel zum Zerbersten des Universums entfiel der Mensch langsam und unaufhaltsam dem Bund mit dem Universum: Der Kosmos und das Individuum (Körper und Seele, Geist und Praxis) erscheinen als Gegenpole. Die Beziehung bestand weiterhin fort, nur ihr Charakter hatte sich geändert: Alles hat irgendeine Entsprechung, aber nichts enthält alles in sich. Für die spätantike hellenistische Theorie der Melancholie ist die immer größeren Umfang annehmende, das Thema aber nicht erschöpfende Literatur bezeichnend (viele Abhandlungen wurden verfasst, darunter auch das berühmte, später verloren gegangene Buch des Rufus von Ephesos). Das hippokratische Melancholieverständnis verliert seinen kosmischen Hintergrund und besteht als empirische bzw. sophistische Humoraltheorie fort. Als würde das aristotelische Melancholieverständnis in Vergessenheit geraten sein: Jener Gedanke, dass die körperliche Außerordentlichkeit, das geistige Hervorragen mit einer tiefen Verzweiflung einhergehen, wirkt erschreckend, und der Zeitgeist unternimmt alles, um die Melancholie abzubremsen. Galen greift die von den vier Elementen handelnde empedokleische Theorie wieder auf, um sie dann mit der hippokratischen Humoraltheorie zu ergänzen, und fügt zu den Säften ethische Ergänzungen hinzu, als deren Ergebnis sich die Temperamentenlehre herauszubilden beginnt. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts verfasst Vindicianus, ein Freund des heiligen Augustinus, seine Typenlehre, die der klassischen Antike noch völlig unbekannt war; und Gleiches treffen wir in der Abhandlung über die Säfte des 6. Jahrhunderts an: Die vier verschiedenen Temperamente erscheinen als vier normale Zustände. Die Zähmung der Melancholie ist eingetreten: Einerseits handelt es sich bei der Melancholie, soweit sie an jene des aristotelischen Verständnisses erinnert, lediglich um eine Krankheit, andererseits aber lässt sich jeder einem Typus zuordnen. Die Auswüchse muss man beschneiden, und die Welt wird für alle Menschen heimatlich. Danach lässt sich der Kreis der einzelnen Temperamente gefahrlos erweitern, das hat keinen Einfluss auf das Grundprinzip bzw. auf die Durchschnittlichkeit, auf das Typische. Somit entspricht jedem Saft ein bestimmtes Element im Kosmos, eine bestimmte Jahreszeit, ein bestimmtes Alter,5 eine bestimmte Tageszeit, ein bestimmtes Metall und Mineral, eine bestimmte Farbe und vom 9. Jahrhundert an sogar jeweils ein Planet. Die herauskristallisierte Temperamentenlehre entsteht dann in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: In der Schrift De Philosophia Mundi des Wilhelm von Conches erscheinen jene vier Wörter – phlegmaticus, melancholicus, sanguinicus, cholericus – zum ersten Mal, die bis heute in der Allgemeinheit fortleben, obgleich ihre naturwissenschaftlichen Grundlagen 1628 mit der Entdeckung des Blutkreislaufs aufgehoben worden sind. Die vier verschiedenen Temperamente verbannen die Menschen in vier Kasten, und aus diesen Kasten ist kein Heraustreten mehr möglich. In dem klassischen Melancholieverständnis schlossen sich Temperament und Seinsverständnis und sogar die freie Wahl des Schicksals nicht aus – nach der Vorstellung des Hellenismus ist der seinem eigenen Temperament ausgelieferte Mensch jedoch nicht in der Lage, sich selbst zu übertreffen. (Der da ist ein Melancholiker oder ein Choleriker, sagen wir, und damit haben wir, unserem Gefühl nach, das Sein des Betreffenden ausreichend gekennzeichnet; unser Interesse wird sich nicht mehr darauf richten, aufgrund welchen Seinsverhältnisses bzw. Seelenzustands er melancholisch geworden ist, sondern bestenfalls darauf, wie sich die Melancholie als Grundgegebenheit in jeder seiner Äußerungen nachweisen lässt.) Der Mensch ist nicht mehr Herr über sich selbst, sondern Gefangener seines eigenen kreatürlichen Seins – sowohl, wenn er krank, wie wenn er gesund ist (denn in der auf die Antike folgenden Zeit bedeutet die Melancholie gleichermaßen durchschnittliche Gesundheit und von dem Durchschnitt abweichende Krankheit, aber keinesfalls von dem Durchschnitt abweichende Gesundheit). Der in seine Kreatürlichkeit eingeschlossene Mensch ist weder Herr seiner selbst noch seines Seins: Auf jeden Fall ist er niedrigeren Rangs als sein Schöpfer (oder aber nur als sein Schicksal?), und, sich dareinfindend, verzichtet er von vornherein darauf, die Grenzen des Seins zu strapazieren. Wilhelm von Conches hat in seiner Humorallehre gegen seinen Willen mit großem Einfühlungsvermögen darauf hingedeutet, als er die vier Temperamente als Defizienzformen bezeichnete (quia corrumpitur natura71): Die Säfte der Menschen aus der Zeit vor dem Sündenfall haben sich nach dem Sündenfall vermengt, die vier Temperamente sind viererlei Erscheinungsformen der sich auf alles erstreckenden Sünde. Es gibt keine Menschen ohne Temperament; es gibt kein Temperament ohne Sünde. Wir befinden uns im Mittelalter.

1In den Totengesprächen (20) des Lukian hört sich das folgendermaßen an: »Menippus: Hei, mein schöner Herr mit den ehernen Füßen, aus welchem Grunde stürztest du dich in den Krater der Ätna? Empedokles: In einem Anfall von Schwermut [schwarzer Galle], Menippus.«

2Durch die Vermittlung der Araber, die die Melancholie mit dem Epigastrium in Verbindung gebracht haben, bestand diese Vorstellung auch in der Neuzeit fort. 1651 sollte Malachias Geiger darüber unter dem Titel Microcosmos hypochondricus sive de melancholia hypochondriaca tractatus ein ganzes Buch verfassen.

3Die auf die Milz – splen – zurückgeführte Schwermut wird ihre Entsprechung später im Spleen der Romantiker finden.

4Cornelius Celsus empfiehlt den Melancholikern in seinem Buch De medicina libri octo im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zum ersten Mal eine rein psychiatrische ärztliche Behandlung, Galen aber führte alle seelischen Fähigkeiten auf die gegebene Vermengung der Säfte zurück.

5Im Vorwort zu den Erinnerungen Casanovas sollen wir dann später Folgendes zu lesen bekommen: »Ich habe nach und nach alle Temperamente gehabt: in meiner Kindheit war ich phlegmatisch, in meiner Jugend sanguinisch; später wurde ich cholerisch und endlich melancholisch, und das werde ich wahrscheinlich bleiben.«

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