Kitabı oku: «Melancholie», sayfa 5

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DIE AUSGESPERRTEN

Woran können wir die Kinder des Saturn, die Melancholiker erkennen? Eine spätmittelalterliche Handschrift gibt uns darauf folgende Antwort: Der Melancholiker ist von dunkler, manchmal gelb-grünlicher Hautfarbe, seine Augen sind klein und tief liegend; selten bewegt er seine Augenlider, und sein Blick ist stets auf den Boden gerichtet; sein Bart ist licht, die Schultern gebeugt; sexuell ist er schwach; er ist faul, schwer von Begriff, doch wird er das, was er sich einmal gemerkt hat, nie mehr vergessen; die übrigen Menschen langweilt er, selten, dass er lacht; seine Kleidung ist ungepflegt; er ist ein Betrüger und ein Dieb, undankbar und geizig, und im Allgemeinen hasst er die Menschen.72 Ein anderer Verfasser sagt über den Melancholiker, dass er zum Tier geworden und überhaupt eine niedere Person sei; die Melancholie aber – und dies lesen wir nun schon in einer Tübinger Handschrift aus dem 15. Jahrhundert – sei »under den andern temperamenten doch die swechste und die krenckste«.73 Isidor von Sevilla versuchte im 7. Jahrhundert sogar, das Wort »schlecht« (malus) von dem Wort »Melancholie« abzuleiten, und mit seiner Auffassung nimmt er die öffentliche Meinung einiger späterer Jahrhunderte vorweg: Die Melancholie gehört in den Bereich der verderblichsten und verhängnisvollsten Begriffe und Erscheinungen.

Doch können wir, wenn wir die Gesellschaft der Räuber und Mörder (die wurden nämlich im Mittelalter auch zu den Melancholikern gerechnet) verlassen und uns im Kreise der Schriftgelehrten umschauen, auch auf andere Auslegungen treffen. Diese sind zwar keineswegs positiver als die oben zitierten, doch verräterischer: »Jeder, der übertrieben viele philosophische, medizinische und logische Bücher liest«, schreibt Constantinus Africanus in seinem aus dem Jahre 1080 stammenden Buch De melancholia libri duo, »oder aber solche, die einen Einblick ins Universum erlauben, sowie Bücher, die vom Ursprung der Zahlen handeln, was die Griechen Arithmetik nennen, oder die von der Geometrie handeln, was die Araber als ›die Wissenschaft der Linien‹, die Griechen aber als Geometrie bezeichnen, wird zum Melancholiker«.74 Eine übertriebene geistige Anstrengung (studium vehemens) ist Ursache (und nicht Symptom) der Melancholie, doch bewegt sich ein solcher Gelehrter innerhalb eines eigenartigen Kreises: indem er nämlich auf die »letzten Dinge«, auf den Ursprung, den Anfang, also auf Dinge, durch deren Auflösung er zu einer Erhellung von allem gelangen kann, abzielt. Die Gedanken des Melancholikers versetzen ihn aus dem Bereich der weltlichen Angelegenheiten in die Sphäre der Vorstellungen, das heißt in die Welt der nicht eindeutigen, unbeweisbaren und zweifelhaften Ideen. »Die Kraft der Vorstellung ist unermeßlich«, schreibt Arnaldus de Villanova im 13. Jahrhundert, »und die Melancholie ist viel mehr ihr zuzuschreiben, als der Veränderung des Körpers«.75 Schon die Stoiker haben auf den Zusammenhang von Melancholie und krankhaften Einbildungen hingewiesen, und das frühe Christentum hat diesen Gedanken unverändert übernommen (so zum Beispiel Nemesius im 4. Jahrhundert). Als ob das aristotelische Melancholieverständnis von Grund auf ausgerottet worden wäre: Die Melancholie führt nunmehr nicht zu einem Verständnis der grundlegendsten Zusammenhänge des Seins, sondern wird zur Begleiterscheinung einer überflüssigen Besserwisserei. Das Sein ist nun kein unauflösliches Geheimnis mehr, sondern eine überschaubare, von Gott garantierte Ordnung. Wer das nicht annimmt, sondern sich ausschließlich auf seinen eigenen Verstand verlässt, der verliert sich im Dunkel: Der garantierte Sinn verliert für ihn seine Gültigkeit, er bleibt auf sich allein gestellt. Seit dem Wirken des heiligen Augustinus betrachtete die christliche Theologie das sich bewusst in sich zurückziehende »Ich« als das Wesen der Sünde,76 was nichts anderes ist als ein Sichverschließen vor Gott. Weder die sichtbare noch die unsichtbare Kirche gewährt dem Zweifler, der mit seiner schicksalhaften Besserwisserei sogar die Gewährung der Gnade aufs Spiel setzt, Einlass. Er stürzt aus dem Rahmen des vernunftmäßigen Universums heraus, wird zum Ketzer und zum Freiwild des Teufels. Constantinus Africanus vertritt die Meinung, dass »der Melancholiker fürchtet, was zu fürchten überflüssig ist, nachsinnt über etwas, worüber nachzusinnen sich nicht lohnt, von der Fürchterlichkeit und Entsetzlichkeit der Dinge überzeugt ist, obwohl er sich vor diesen Dingen nicht fürchten müsste, und Dinge wahrnimmt, die es nicht gibt«,77 doch zählt er auch jene zu den Melancholikern, die ihren Blick an Gott wie an eine fixe Idee heften und sich um nichts anderes kümmern. Wenn wir uns der Versuchung der Melancholie nicht aussetzen möchten, dann müssen wir nicht nur das Sein Gottes, sondern auch die durch ihn garantierte Eindeutigkeit der Welt akzeptieren und uns damit abfinden, dass wir an der Sünde, der Erlösung und der Gnade gemeinschaftlich teilhaben. Körperlich gesehen ist es der Melancholiker, der am hinfälligsten, am wenigsten lebensfähig ist, doch noch armseliger als seine körperliche Gebrechlichkeit ist seine Geistigkeit, seine daraus entspringende Einsamkeit und seine Neigung zur Verdammnis. Etwas mehr als ein Jahrtausend hat sich die öffentliche Meinung erhalten, dass der Melancholiker sich seinen Kopf über überflüssige Dinge zerbricht. Doch auch, was einen überflüssigen, entbehrlichen Teil des Universums darstellt, gelangt irgendwie ins Sein hinein und wirkt dort zersetzend. Das Überflüssige greift das Sein selbst, seine Geschlossenheit an. Da aber das Sein vollkommen ist und aus Gottes Güte sich auf alles erstreckt, kann man sich das Überflüssige nur auf einerlei Art vorstellen, nämlich als Mangel. Das unter dem Banne des Horror Vacui lebende Mittelalter ist darum weder Überfluss noch irgendwie geartete Hohlräume zu akzeptieren gewillt. Wenn die Melancholiker aber doch über Dinge philosophieren, über die nachzudenken überflüssig ist, dann machen sie sich letztendlich Vorstellungen über das Nichts. Sie sind Träger eines unauflöslichen Widerspruchs. Sie sind Gegenspieler einer Welt, die das Nichts nicht kennt, und die sich nicht in der Lage befindet, den Mangel als einen positiven, »natürlichen« Seinszustand anzuerkennen. Der grübelnde Melancholiker stellt das Sein selbst infrage und macht, gegen seinen Willen, das Nichts zum Grundprinzip, zur letzten Ursache der Welt. Mit anderen Worten, er setzt es an Gottes Stelle. Obwohl der Nihilismus unter dem Kennzeichen der Melancholie im Mittelalter keine Rolle spielt, arbeitete er doch am Grunde dieses Nachdenkens, der souveränen Bestätigung des Geistes, mit. Dies erklärt auch die Neigung, auf die Avicenna aufmerksam geworden ist, der Melancholiker zum Selbstmord, der im Mittelalter sonst keineswegs häufig war.1 Der Melancholiker stellt alles infrage und weist somit alles zurück. Er bleibt auf sich gestellt, es gibt nichts, woran er glauben könnte, und er empfindet die von außen kommende göttliche Gnade als etwas ihm Fremdes, er weiß mit ihr nichts anzufangen. Zugleich schließt die unendliche Verzweiflung und Einsamkeit eine unendliche Liebe zu Gott nicht aus: Das Beispiel der großen Mystiker bezeugt, dass eine sich auf alles erstreckende Verzweiflung mit beispielloser Gottesliebe einhergehen kann. Das Gottwerden des Nichts erklärt die Melancholie der Mystiker, die im Mittelalter nicht nur vom ärztlichen, sondern auch vom ideologischen Standpunkt aus gesehen der Heilung bedurfte: Die Melancholie ist, ganz wie die Mystik, in einer Kultur mit begrenztem Gesichtsfeld von zersetzender Wirkung. In seinem Werk über die Melancholie schreibt Constantinus Africanus im 11. Jahrhundert: »Wir sehen viele sehr fromme und rechtschaffene Menschen der Krankheit verfallen aus Gottesfurcht, aus Furcht vor dem kommenden Gericht und aus der Sehnsucht, das höchste Gut zu schauen, wenn ihre Seele ganz und gar davon beherrscht ist. Sie denken und grübeln nur, wie sie Gott lieben und fürchten können, und gleichsam wie trunken von ihrem Kummer und ihrer Nichtigkeit verfallen sie der Krankheit. Bei solchen Menschen kommt nicht nur die seelische Aktion zu Schaden, auch die körperliche […]. So entgehen auch diejenigen, die unausgesetzt dem Studium philosophischer und ähnlicher Bücher obliegen, dieser Krankheit nicht immer«.78 Hundert Jahre später versuchte Maimonides, den Sohn des Kairoer Saladin von der Melancholie zu heilen; und in seinem in diesem Zusammenhang verfassten Traktat zur Regulierung der Diät erwähnt er die Melancholie gemeinsam mit seiner mystischen Einstellung – höchstwahrscheinlich konnten aber auch die vorgeschriebenen Ernährungsweisen die tief liegenden Wurzeln der mit der Mystik verwobenen Melancholie nicht herausreißen, und das heißt so viel wie den Zweifel an der allgemeinen Gnade und den zerstörerischen Glauben an die Kraft der Einsamkeit. Der Melancholiker des Mittelalters kapselt sich ab: Aus sich heraus erbaut er eine Welt, aus eigener Kraft heraus schafft er sich einen Gott, der zugleich der Gott des Universums und der Einsamkeit, aber nicht der Gott der Allgemeinheit, der übrigen Menschen ist. In dem Maße wie die Welt ihm geheimnisvoll erscheint, in dem Maße ist er es für sie.

Nichts scheint für die mittelalterliche Beurteilung der Melancholie bezeichnender zu sein als die Art und Weise, wie die frühe Christenheit über die antiken Mysterien dachte. Das Zurückweisen der Mystik lässt sich erst richtig aus der Zurückweisung der Mysterien verstehen. Wir haben ja gesehen, dass in den antiken Mysterien die Möglichkeit der Melancholie verborgen war, insofern sie Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein für die Eingeweihten relativierten. Wer die Weiheriten wahrhaftig durchlief, der verinnerlichte zugleich das Verständnis für das keineswegs erfreuliche menschliche Sein. Die Mysterien waren demokratische Institutionen, doch das Wissen, das sie boten, konnte dennoch nur im Besitze einiger Auserwählter sein: Es kann nicht jeder gleichzeitig Melancholiker, Wahrsager, Philosoph und Geweihter sein. Wer sich das Wissen und Sehen aneignen konnte, wurde von allen isoliert; die Lockerung der Seinsgesetze ermöglichte ihm keinerlei Beziehungen mehr in und zu der Welt (in dieser Hinsicht verloren auch die Partnerbeziehungen ihre Glaubwürdigkeit), und die sich in Schweigen hüllende Einsamkeit wurde zu seinem Schicksal. Der Katholizismus (seiner griechischen Benennung καϑολικός getreu) versuchte seinerseits, die Gläubigen aus der Einsamkeit und letztendlich aus einem sich gegen Gott versündigenden Zustand zu erretten. Das Christentum hatte seinen Kampf gegen die heidnischen Mysterien im Verlauf des 3. Jahrhunderts zur Zeit der Herausbildung seines kirchlichen Kultus begonnen. Hauptmotiv waren die für die Mysterien bezeichnende lüsterne und geile Sinnlichkeit und das körperliche Schwelgen, und die Kirchenväter wollten in ihnen jene kosmozentrische Sehweise, die die Mysterien belebte und der Christenheit von Grund auf fremd war, nicht wahrhaben. (Fügen wir hinzu: Die Kirchenväter waren keine Eingeweihten, sie konnten daher ihr Urteil nur aufgrund äußerer Nachrichten fällen, andererseits aber kannten Tertullianus, Asterios, Eusebius oder Clemens von Alexandrien nur die alexandrinischen Mysterien, die wirklich von Sinnlichkeit überladen waren.) Hinter dieser Zurückweisung von Äußerlichkeiten der Mysterien ist es nicht schwer, den Grund dieser Gegensätze zu entdecken. Die Irrwege des heidnischen Glaubens geißelnd, sprach der zum christlichen Glauben bekehrte Firmicus Maternus zu den Anhängern der Mysterien folgende Worte: »Sagt mir, ihr elenden Sterblichen, was verknüpft ihr mit natürlichen Dingen Leichenbestattungen? Was befleckt ihr eine Einrichtung Gottes mit der Scheußlichkeit grausamer Todesfälle? Wozu war eine so harte und grausame Quälerei vonnöten? Was bezweckt denn diese Überzeugung, dass sich zu göttlichen Dingen der Hergang eines schauerlichen Unglücks gesellen soll? […] Wozu nützt denn, was ihr tut? Ihr vermengt Irdisches mit Himmlischem, Vergängliches mit Überirdischem, Finsternis mit Licht, wenn ihr Schmerzen und Trauer von Menschen mit göttlichen Ehren weihet«.79 Auf die Folgen dieser »Vermengung« wird dann Clemens von Alexandrien die Aufmerksamkeit lenken. Er bemängelt zum Beispiel, dass der in die Mysterien Eingeweihte es auf sich nahm, Gott aus eigener Kraft zu erblicken und sich mit ihm zu vereinen – und seiner Ansicht nach liegt darin die Ursache dafür, dass er sich in der Nacht verirrte. Der Versuch, Gott aus eigener Kraft heraus zu erblicken, ist ein Zeichen des Hochmuts, die Eingeweihten wollen Gott schauen in der Hoffnung, dass sie dadurch auch göttlich werden. Wer aber den Willen hat, Gott zu werden, dem mangelt es an der Untertänigkeit, der vergisst, dass er eine Kreatur ist, und statt zu einem Schöpfenden zu werden, wird er das Opfer seiner eigenen Kreatürlichkeit: Ihm wird der ewige Tod zuteil. Clemens bemerkte zu Recht, dass die Eingeweihten alleine, aus eigener Kraft heraus, sich zum Ende des Weges aufmachen. Die Eingeweihten der Mysterien, die endgültig Sehenden, die Melancholiker, haben keine Gemeinschaft, so wie auch die griechische Glaubenswelt den Begriff der allgemeinen, sich auf jedermann erstreckenden Gnade nicht kannte. Das kommt erst mit Jesus, und mit seinem Auftreten wurde auch die Bedeutung der Mysterien modifiziert. Angeblich gab es bei den Griechen ein Heiligtum, das zu Ehren des unbekannten Gottes aufgestellt worden war (ΑΓΝΩΣΤΩ ΘΕΩ). Paulus ist der Meinung, dass es sich hierbei in Wirklichkeit um den Gott der Christen handelte, den jene aber noch nicht kannten.80 Diese Differenz ist entscheidend: Aber im Heiligtum des unbekannten Gottes (wäre eine ergreifendere Entsprechung für die in der griechischen Kultur verborgene, tragische Betrachtungsweise denkbar?) ist der Gott unbestimmt, da nicht benennbar – alles führt zu ihm hin, und dennoch verlieren die Wege sich im Dunkel. Die Suche nach dem unbekannten Gott lässt sich nicht abschließen: Seine Gnade schiebt sich in die Unendlichkeit hinaus, was die Erfahrung der Tatsache nach sich zieht, dass das Kennzeichen des Menschen letztlich die unendliche Unbekanntheit sein wird. Unsere Liebe und Hingabe an den unbekannten Gott ist zugleich das Eingeständnis unserer letztendlichen Unbekanntheit; die resignierte Anerkennung des unlösbaren Rätsels und der Geheimnisse. Diese Resignation kann nur das Ergebnis einer unerhörten Kraftanstrengung sein: Nur der ist würdig, in das Heiligtum des unbekannten Gottes einzutreten, der mit allem abgerechnet hat. Dieses Heiligtum ist das Heiligtum der Auserwählten, jener, die ihre eigene Hinfälligkeit, die Endgültigkeit ihrer Vergänglichkeit und die Tatsache, dass in jedem Tod ein unersetzbares Leben vernichtet wird, so sehr verstanden haben, dass sie auch auf eine von außen kommende Gnade keinen Anspruch mehr erheben. Nennt man aber den unbekannten Gott beim Namen, ändert sich auf einen Schlag alles. Der Gott wird zu einem Bestimmten, zu dem man hingelangen kann: Die Gnade gerät in die Abhängigkeit von einem festgelegten Zeitpunkt – und ist für jeden erreichbar. Die Griechen hatten Mysterien – das Christentum hatte nur eines.2 Und dieses eine ist die Geschichte der Menschen selbst, in deren Verlauf Gott beschließt, dass er den sündigen Menschen aus eigenem Willen heraus errette. Das Christentum verwendet den Begriff des Mysteriums überwiegenderweise in der Einzahl, da es sich »nur« um eine Geschichte handelt, da es der wesentliche Punkt des Gottesgeheimnisses ist, »daß alle Dinge zusammengefaßt würden in Christus, beides, was im Himmel und auf Erden ist«.81 Es gibt einen einzigen echten Mysterienglauben, sagt Clemens von Alexandrien, und das ist das Christentum – und verdammt die Gründer der heidnischen Mysterien als Werkzeuge des Satans. In den antiken Mysterien wird der Eingeweihte neu geboren – im christlichen Mysterium erlangt er Verzeihung. Das Erleiden dieser Verzeihung deutet an, dass der Mensch am christlichen Mysterium nicht als Handelnder teilhat. (In den antiken Mysterien ist das Erleiden (παJεῖν), wie das aus der oben zitierten aristotelischen Bemerkung hervorgeht, keineswegs nur Passivität.) Die Geschichte vom Sündenfall bis hin zur Auferstehung ist bekannt, die eschatologische Anschauung setzt nämlich die Linearität, an der sich nichts ändern lässt, voraus.

Der heilige Irenäus behauptet im 2. Jahrhundert, dass man Gottes Mysterium um so viel weniger kennt, wie man kleiner als Gott ist. Der Mensch ist Gott in vollem Umfang ausgeliefert, und nur der Glaube führt zu seiner Erlösung. (»Die Wahrheit der Christen ist unvergleichlich schöner als die Helena der Griechen« – sagt später Augustinus.) Der Gegenstand des Glaubens aber ist ein festgesetzter. Die griechischen Mysterien wiederholen sich immer wieder von Neuem, sie sind, gleichwie der ewige Kreislauf der Natur, zyklisch – und aus diesem Grund ist der Fortgang der Weihe, so wie der Verlauf des Seinsverstehens niemals ein Ende findet, unendlich. Der Weg zum christlichen Gott aber ist endlich, abschließbar, und da der Glaube einen Gegenstand hat und dieser ein benennbarer ist, ist die Möglichkeit des Glaubens einem jeden gegeben. Seitens des Menschen ist ein Sichöffnen ausschlaggebend, was im christlichen Sinne den Eintritt ins Gotteshaus, in die Kirche bedeutet. Das Mysterium, das mit der Taufe beginnt und bis zur Auferstehung läuft, das dadurch mit der Geburt eines jeden Menschen von Neuem anhebt und das dennoch mit dem einzigen wahren Mysterium, mit der Geschichte Jesu, identisch ist, steht jedem offen. Die Teilhabe an der allgemeinen Gnade erhält den Menschen für Gott, für ihn selbst aber garantiert sie den letztendlichen Sinn des menschlichen Daseins und seine Zielgerichtetheit.

Wegen des Vertrauens auf die göttliche Allmächtigkeit verlieren die Mysterien ihre frühere Funktion: Die Einweihung wird nunmehr nicht mehr von einer stummen, sich in Schweigen hüllenden Einsamkeit begleitet, sondern von einer Manifestation vor Gott. Die christliche Weihe hat einen öffentlichen Charakter, sie hebt das Individuum aus seiner Individualität heraus, in das geistige und politische Reich des Glaubens hinein. Obwohl das Christentum den Begriff der Individualität kennt (man darf vielleicht sogar behaupten, dass allein das Christentum diesen Begriff wirklich kennt), ist die Erfahrung jenes Sich-selbst-überlassen-Seins, das den griechischen Melancholikern zuteilwurde, in seinem Rahmen unvorstellbar: Der Mensch ist Individuum, aber aufgrund seiner Geistigkeit ist er auch Teil des Allgemeinen. Das göttliche Urteil sowie die Gnade ergeben jenen Bogen, der sich zwischen Persönlichem und Unpersönlichem spannt. Doch stellt diese Spannung zwischen den beiden »Polen«, die der Tradition des Glaubens gemäß natürlich ist, für viele gerade das Unnatürlichste dar; zahlreiche Vertreter der ägyptischen Mystik wurden gerade wegen dieser Spannung zu Melancholikern. Inwiefern das Individuum für die erlösende Gnade eine einmalige, unwiederholbare Individualität und inwiefern es nur ein Teil, einfach ein »Fall« derselben ist, das ist das entscheidende Problem für den mittelalterlichen Menschen. So aber lässt sich diese Frage nicht formulieren, da das voraussetzen würde, dass es darauf auch schon eine fertige Antwort gibt. In dieser Form stellte sich diese Frage zum ersten Mal denjenigen, die sowieso schon an dem Sich-selbst-überlassen-Sein litten, denjenigen, denen ihr eigenes Sein und die göttliche Gnade fraglich geworden waren und für die, selbst wenn es um eine Affirmation ging, gewisse Dinge zwangsläufig nicht nur fraglich, sondern zum Gegenstand ihres Zweifels wurden. Die Kraft jenes Gefühls – sich selbst überlassen zu sein – kann der in die Gnade gesetzte Glaube begrenzen, aber nicht völlig aufheben – und auch die Verzweiflung bleibt gegenwärtig. Die Melancholie und die Vereinsamung sind im Mittelalter ebenso untrennbar wie in der Antike; während aber bei den Griechen das Ergebnis eine Abwendung von scheinbar eindeutigen, von festgesetzten und eingefahrenen Dingen war (im christlichen Wortgebrauch ist es die Folge der Suche nach Gott: jener Suche, die aber, wie dies auch die Geschichte des Bellerophontes zeigt, nichts findet und im eigenen Zirkel eingeschlossen bleibt), wird die Einsamkeit im Mittelalter als Begleiterscheinung einer Entfremdung von der göttlichen Gnade betrachtet. Der Melancholiker ist zumeist ein Ketzer, ein Geselle des Teufels; aber auch jener, der sich, wie dies Constantinus Africanus bemerkte, zu viele Gedanken über Gott macht, ist ein Melancholiker. Das Philosophieren, das Fantasieren über die Welt der uneinsehbaren Dinge macht diese nicht einsehbar, sondern vielmehr noch unverständlicher; jene Einsamkeit aber, die aus dem unlösbaren Widerspruch zwischen dem göttlichen Urteilsspruch und der Gnade hervorgeht und die infolge seiner Unlösbarkeit Entsetzen hervorruft, unterscheidet sich von der Einsamkeit der Ketzer und der Besessenen in keiner Weise. Schon der heilige Hieronymus schreibt über jene, die ihrem bisherigen Leben den Rücken kehren, in die Einsamkeit flüchten und zu Mönchen werden, doch da sie nicht Gott, sondern die Einsamkeit suchen, in ihre frühere Lebensform zurückfallen: »Es gibt […] solche, welche von den feuchten Zellen, vom übertriebenen Fasten, vom Widerwillen gegen die Einsamkeit, vom ununterbrochenen Lesen, indem sie Tag und Nacht nur ihren eigenen Ohren vorpredigen, melancholisch werden. Diesen wären die Rezepte eines Hippokrates nützlicher als meine Mahnungen«.82 Ein berühmtes Beispiel für eine solche Melancholie ist der Fall des Mönches Stagirius in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts: Den friedliebenden Mönch begannen Furcht einflößende nächtliche Träume, Alpdrücke und Sprachstörungen zu quälen, häufige Ohnmachten überkamen ihn und ein Hang zum Selbstmord erlangte Macht über ihn, welcher Zustand von seinen Mitbrüdern als Versuchung bewertet wurde: Er müsse die Versuchungen des Teufels in sich niederkämpfen und besiegen. Constantinus Africanus betrachtete später jene Melancholie, den »morbus melancholicus«, der die Mönche oft befiel, als Todsünde, und aus seiner Sehweise zu Recht: Der melancholische Mensch bleibt sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch selbst überlassen, er löst sich vom Gotteshaus und wird zum Freiwild des Teufels.

Der Ausdruck des »sich selbst überlassenen« Individuums ist metaphorisch: Im Mittelalter kann keiner für sich bleiben, er kann höchstens Gott verlassen und sich damit dem Teufel zuwenden. Das sogenannte Einsamkeitsgefühl des Menschen ist von der Kirche auf paradoxe Art und Weise aufgeworfen worden: sie musste nämlich nicht nur mit der Frage fertig werden, wie das Individuum reibungslos in die abstrakte Unendlichkeit der göttlichen Substanz eingegliedert werden könne, sondern sie musste dazu parallel auch die sinnliche Individualität des Einzelnen bestimmen.

Das Christentum ist eine geistige und politische Weltmacht, in der das Individuum durch zufällige, abstrakte Fäden in das Ganze des Reiches eingebunden wird, und die Kirche versucht bei der Ausarbeitung der Individualität von Seele und Persönlichkeit gerade diese Zufälligkeit abzuschaffen. Die Frage stellt sich, inwiefern der Mensch ein eigenständiges, vergängliches und einmaliges Wesen, und inwiefern ein Teil, ein »Fall« des unendlichen göttlichen Universums sei. Jener heilige Augustinus, der die Grundlage der Substantialität der individuellen Seele geschaffen hat, führte aus, dass das Ich nicht die Summe seiner Handlungen (also nicht ein, wann immer man will, zusammenstellbarer Bestandteil der ewig bestehenden Teile des Universums), sondern eine endliche, eigenständige Wirklichkeit sei. Mit diesem Gedanken entließ er den modernen Freiheits- und Individualitätsbegriff auf seinen Weg und durchdachte auf bis heute gültige Weise den Konflikt der Seele zwischen ihrer Einmaligkeit, ihrer Eigenständigkeit und ihrer Wiederholbarkeit. »Ich weiß nicht, von wannen ich in diese Welt gekommen, in dies sterbende Leben, in diesen lebenden Tod«, sagt er und stellt dann fest: »Gott und die Seele möchte ich erkennen. Nichts anderes? Durchaus nichts.« Und mehr kann man gar nicht wollen. In Beziehung zu Gott ist die Persönlichkeit: nichts. In Beziehung zu ihrer eigenen Seele: alles. – Und dies stimmt auch umgekehrt: In Bezug zu Gott ist die Persönlichkeit: Substantialität. In Bezug zu ihrer Seele: leerer Raum. Es bedarf keiner Auslegungen, um zu erkennen, welche Entfernung, welcher Abgrund das Einzelne vom Allgemeinen, das Individuum vom Universum trennt. Und obwohl der Glaube dies leicht überbrückt, verstärkt der ursprünglich subjektive Charakter des Glaubensaktes die schwindelerregende Strudelartigkeit, die sich zwischen dem Akt und dem Gegenstand dreht, und welche denjenigen, der in die Tiefe hinabblickt, leicht zum Melancholiker macht. In der Geschichte des christlichen Denkens ist es Gregorius von Nyssa, der im 4. Jahrhundert erklärte, dass Gott unendlich sei, und dadurch mit jener Auffassung der griechischen Metaphysik brach, dass die Unendlichkeit eine negative und keine positive Aussage sei. Die Idee der Leere und Unendlichkeit, des Geschaffenseins und Nichtgeschaffenseins ließ die Gemüter Europas nicht mehr ruhen. Für Thomas von Aquin, der in seinem Denken über den heiligen Augustinus hinausging, ist die Individualität des Menschen nicht nur ein Problem der »Seele«, sondern auch des »Körpers« – und wenn die Seele trotz ihrer Individualität unendlich zu werden vermag, dann ist der Körper ausschließlich Grenze, Rampe. Thomas von Aquin verband die Frage der Einmaligkeit mit der Materialität und stellt darum die Frage nach der Individualität der Seele in Bezug auf den Körper: »Der Körper gehört nicht zum Wesen der Seele, es liegt aber der Seele in ihrem innersten Wesen, mit dem Körper vereint zu werden«.83 Als Folge der Einmaligkeit des Körpers unterscheiden sich die Menschen voneinander – daher kann nicht jeder Mensch von einem Geist sein, da sonst – so Thomas von Aquin – Platon und Sokrates ein und derselbe Mensch gewesen wäre. Das Zerpflücken der Seele aber machte das Wissen um einen Gott unmöglich. Die Vernunft möchte aufgrund ihres Charakters vor allem wissen, und sehnt sich deshalb nach Gott – das Sein des einzigen Gottes bestimmt daher irgendwie alle individuellen Seelen. »Wenn mein Verstand (intellectus) von dem deinigen verschieden ist, ist mein Verstand ein bestimmtes Einzelding (quiddam individuum) und ebenso der deinige. Denn Einzeldinge (particularia) sind, die sich der Zahl nach unterscheiden und in derselben Art übereinkommen. Alles aber, was in ein anderes aufgenommen wird, ist in ihm nach Weise des Aufnehmenden. Folglich würden die Erkenntnisbilder der Dinge in meinen und in deinen Verstand einzelbestimmt (individualiter) aufgenommen werden: und das ist gegen das Wesen des Verstandes, der das Allgemeine (universalium) erkennt«.84 Wegen der verallgemeinernden Kraft des Verstandes ist eine absolute Individualität nicht vorstellbar, was nicht nur die Struktur der Seele, sondern auch das göttliche Wesen sichert: »Alles Anteilgebende (participatum) verhält sich zum Anteilnehmenden (ad participans) als dessen Wirklichkeit (actus). Es mag nun eine geschaffene Form für sich noch so selbstän-dig sein, sie muß am Sein teilnehmen. Denn auch das ›Leben‹ und alles was man sonst so nennen mag, ›nimmt teil am Sein‹ (Dionysios). Das mitgeteilte Sein hat aber seine Grenzen an der Aufnahmefähigkeit des Anteilnehmenden. Daher ist allein Gott, der sein Sein selbst ist, reine, unendliche Wirklichkeit«.85 Wenn wir daher von etwas behaupten, dass es existiere, dann behaupten wir damit selbstverständlich auch das Sein Gottes. Die letztendliche Garantie für das Dasein der individuellen Dinge ist das Sein Gottes – aber Gott ist nicht nur letzter Beweis, er ist auch Grundvoraussetzung. Aus diesem Grunde ist die Individualität der Dinge relativ, und Gott macht die Welt infolge seiner Allmächtigkeit und seiner immerwährenden Gegenwart noch abgeschlossener, als es der antike Kosmos vermochte. Gott ist unendlich, da aber sein Sein die Leere und Unausgefülltheit von vornherein ausschließt, ist seine Unendlichkeit von bedrückender Wirkung: Es gibt kein Wohin der Flucht, es gibt keinen abseits liegenden Winkel, in dem der Mensch für sich allein bleiben könnte. Das Sich-Selbst-überlassen-Sein des Individuums ist deshalb metaphorisch: Nur die Sehnsucht danach existiert, doch hat diese Sehnsucht keinen benennbaren Gegenstand, und lässt sich deshalb auch nicht erfüllen. Der Gedanke der Individualität und das mit ihr unweigerlich einhergehende Gefühl der Einsamkeit sind ebensowenig ausschließbare Momente des christlichen Glaubens, wie die Allmächtigkeit Gottes und der Gedanke der sich auf alle erstreckenden Gnade. Das letztere ist ein legales, das vorangehende ein illegales Kind der Kirche; doch wird dieses, sobald es anfängt, die ihm zustehenden Rechte zu fordern, von allem ausgeschlossen sein, und das Oberste wird zuunterst gekehrt. Die zum Verstummen führende Sehnsucht wird nicht als Zeichen des unwiederholbaren, begrenzten menschlichen Lebens mit seiner rätselhaften Ziellosigkeit (das heißt der »Erfüllung« der Sinnlosigkeit des Lebens) betrachtet, sondern als Sünde, als reine Negativität, wegen der man Gewissensbisse haben muss und an der nach dem Niedergang der Griechen die europäische Kultur derart erkrankt ist, dass sie sich davon bis zum heutigen Tage nicht erholt hat. Die Gnade setzt den Glauben voraus – der Glaube aber nimmt vom Zustand der Einsamkeit aus gesehen die Form eines Befehls an. Die Flucht des Einsamen vor der Gnade ist zugleich eine Flucht vor dem von außen auf ihn eindringenden Befehl, was auch als eine Entscheidung zugunsten seiner eigenen Freiheit angesehen werden kann. Diese Freiheit besteht aus der Verleugnung des Glaubens; da aber für das im Banne des Horror vacui lebende Mittelalter das, was wir verleugnen, ebenso ein Ausströmen des Seins Gottes ist, wie das, was wir annehmen (auch die Sünde gibt es nur deshalb, weil es Gott gibt), richtet sich die Leugnung des sich selbst überlassenen mittelalterlichen Melancholikers letztendlich auf die Bejahung des Nichts. Er kann Gott nicht leugnen, da Gott auch in dieser Leugnung gegenwärtig ist; er kann das Sein nicht leugnen, da das Sein selbst eine Voraussetzung der Leugnung des Seins ist; er kann nicht sich selbst leugnen, da selbst der letzte Akt des Selbstmords im christlichen Sinne die Handlung eines übergeordneten Ichs‹ ist. Es gibt keine letzte, sich auf alles ausdehnende Leugnung – lediglich die Sehnsucht danach. Doch das Nichts, dem sich die Sehnsucht gegenüber sieht, ist nicht Nichts, da es mit seiner Behauptung zugleich auch sein Sein behauptet. Deshalb ist die Leugnung, die, sich nach der Freiheit sehnend, nach einem Gegenstand sucht, zur Bejahung gezwungen: zur Bejahung des Nichts. Was bedeutet, dass der Leugner bestrebt ist, all demjenigen absolute Bedeutung zukommen zu lassen, was die Ursache seines Einsamkeitsgefühls ist. Das Ergebnis ist die Vergöttlichung nicht nur der Individualität des Körpers, sondern auch der Seele und daraus folgend der Einmaligkeit des Lebens.

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